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Sonntag, 6. November 2011
Traumgeschichte
am Sonntag, 6. November 2011, 00:16 im Topic 'Ich und dieser Blog'
Also, das Folgende hab ich mal geträumt. Eigentlich sind viele meiner Geschichten von Träumen inspiriert, aber aus dem hier konnte ich einfach nichts machen. Ich hatte aber trotzdem das Gefühl ihn aufschreiben zu müssen, also hier habt ihr es:
Als ich kleiner war, gab es da einen Wald. Einen großen, dunklen Wald. Wenn man zu tief hineinging, kam man nie wieder heraus.
In diesen Wald führten drei Wege. Ein Oberer, ein Unterer und der Mittlere natürlich. Drei Wege. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Der Untere führt zu einem Ort, an dem es immer Herbst ist. Sie sind dort. Die Gruppe von Jugendlichen. Jungs und auch ein paar Mädchen. Die Meisten zwischen 7 und 13, aber auch ein Sechzehnjähriger. Er ist der Anführer. Ich habe oft mit diesen Kindern gespielt. Wir sind über die braune Erde und die herab gefallenen Blätter getollt. Es war schön.
Der Mittlere Weg führt in den Dschungel. Alles ist giftgrün und zugewachsen. Und wenn man sich gut genug auskennt, dann findet man es. Es ist gut versteckt zwischen all diesen Blättern. Nur ein einziges, einsames Seil führt zu ihm. Wenn man es aber findet, dann findet man auch ihn. Denn er ist immer in diesem Baumhaus. Er ist so alt wie ich. Aber er ist nicht wie ich. Wenn man ihn fragt, warum er dort ist, gibt er keine Antwort. Wenn man ihn fragt, ob er eine Familie hat, gibt er keine Antwort. Wenn man ihn fragt, ob er immer dort ist, gibt er keine Antwort. Aber ansonsten, antwortet er nur zu gerne. Er zeigt einem all die Fallen in dem Baumhaus und spielt und lacht mit einem. Er ist dein bester Freund.
Und der Obere Weg. Vergiss niemals den oberen Weg. Der obere Weg führt nirgendwo hin. Sein Ziel ist das Nichts und niemand der ihm folgt, kommt jemals wieder zurück. Ist ihm überhaupt jemals jemand gefolgt?
Ich weiß es nicht.
Als ich kleiner war, gab es da einen Wald. Einen großen, dunklen Wald. Wenn man zu tief hineinging, kam man nie wieder heraus.
In diesen Wald führten drei Wege. Ein Oberer, ein Unterer und der Mittlere natürlich. Drei Wege. Nicht mehr. Und nicht weniger.
Der Untere führt zu einem Ort, an dem es immer Herbst ist. Sie sind dort. Die Gruppe von Jugendlichen. Jungs und auch ein paar Mädchen. Die Meisten zwischen 7 und 13, aber auch ein Sechzehnjähriger. Er ist der Anführer. Ich habe oft mit diesen Kindern gespielt. Wir sind über die braune Erde und die herab gefallenen Blätter getollt. Es war schön.
Der Mittlere Weg führt in den Dschungel. Alles ist giftgrün und zugewachsen. Und wenn man sich gut genug auskennt, dann findet man es. Es ist gut versteckt zwischen all diesen Blättern. Nur ein einziges, einsames Seil führt zu ihm. Wenn man es aber findet, dann findet man auch ihn. Denn er ist immer in diesem Baumhaus. Er ist so alt wie ich. Aber er ist nicht wie ich. Wenn man ihn fragt, warum er dort ist, gibt er keine Antwort. Wenn man ihn fragt, ob er eine Familie hat, gibt er keine Antwort. Wenn man ihn fragt, ob er immer dort ist, gibt er keine Antwort. Aber ansonsten, antwortet er nur zu gerne. Er zeigt einem all die Fallen in dem Baumhaus und spielt und lacht mit einem. Er ist dein bester Freund.
Und der Obere Weg. Vergiss niemals den oberen Weg. Der obere Weg führt nirgendwo hin. Sein Ziel ist das Nichts und niemand der ihm folgt, kommt jemals wieder zurück. Ist ihm überhaupt jemals jemand gefolgt?
Ich weiß es nicht.
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Der kalte Dämon - Kapitel 1
am Sonntag, 6. November 2011, 00:01 im Topic 'Der kalte Daemon'
Leise versuchte ich mich möglichst klein zu machen – es galt nicht bemerkt zu werden. Eigentlich hätte man mich sowieso nicht sehen können, da ich unter der Brücke saß, und nicht wie die anderen Mädchen auf ihr herumlungerte, aber ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass man am besten unbeachtet blieb, wenn man es versuchte.
Es war eine schöne Brücke, die über einen nicht all zu breiten oder tiefen Fluss führte. Sie bestand aus Stein und einem einzigen Bogen. Einem Segmentbogen, wenn ich mich nicht irrte. Aber ich kannte mich nicht sonderlich gut damit aus – ich lebte schließlich nur unter dieser Brücke.
Mein Haus war ein Schuppen, der vor Jahrzehnten hier von einem Ehepaar erbaut worden war, das allerdings kurz darauf in einem Überfall von Räubern getötet wurde. Ihr Haus wurde bei diesem Überfall niedergebrannt. Nur dieser Schuppen hier, der ihrem Haus, das auf der anderen Seite der Brücke gestanden hatte, nicht sehr nahe gewesen war, stand noch. Von den Dorfbewohnern hatten sich nur die wenigsten freiwillig genähert, da er alt und höchstwahrscheinlich auch instabil war. Hier hatte, aus Gründen, die niemand so ganz verstand, sich kurz nach dem Brand ein Mann eingenistet – ein alter, weiser Mann. Kein einziger Mensch, der hier lebte oder hier je gelebt hatte, kannte seinen Namen. Sie alle nannten ihn nur „Alter Mann“. Er war ein Mediziner gewesen, und da dem Dorf sowieso jemand gefehlt hatte, der sich um Kranke und Verletzte kümmerte hatte man ihn geduldet. Nein, vielleicht war ihm sogar etwas Respekt entgegen gekommen, da viele der Dorfbewohner ihm ihr Leben verdankten. Aber dieser Respekt war mit Furcht und Unverständnis getränkt gewesen. Wenn es nicht absolut sein musste, wollte niemand diesen komischen, geheimnisvollen Mann ohne Namen besuchen. Bis vor zehn Jahren ich gekommen war.
Ich würde den Tag, an dem ich hierher gekommen war, nie vergessen. Ich war damals sieben gewesen. In zerfetzten Kleidern und mit Schmutz bedeckt, halb tot gehungert. Alle hatten gesagt, ich würde Pech bringen. Tod, Verderben. Es war ein abergläubisches Dorf, das lieber ein kleines Kind sterben lassen wollte, als die Götter zu verärgern. Nur der alte Mann hatte sich meiner erbarmt – ich wusste nicht warum. Wahrscheinlich aus Mitleid. Der alte Mann ließ nie jemanden sterben, den er retten konnte. Eigentlich versuchte er auch die zu retten, denen nicht mehr zu helfen war. Denn damals hatte ich definitiv zu dieser Gruppe gehört. Doch der alte Mann nahm mich auf – gab mir zu Essen und zu Trinken. Gab mir einen Platz zum Schlafen. Überzeugte die Dorfbewohner davon, mich bleiben zu lassen. Und als ich wieder gesund war, fragte er nicht. Er fragte nie, was mir passiert war, fragte nicht nach meiner Vergangenheit. Er akzeptierte mich bedingungslos – er nahm mich sogar als seine Schülerin auf und brachte mir bei, was er über die Heilkunst, über Heilpflanzen, über die Herstellung von Medizin, über das Erkennen von Krankheiten und nicht zuletzt über die Versorgung von Kranken wusste. Und wegen all dieser Güte erzählte ich es ihm. Ich erzählte ihm alles.
Wir waren nie reich gewesen – meine Mutter war eine einfache Schmuckverkäuferin gewesen, wenn auch eine auffallend schöne, deren Ketten wie magisch waren, wenn man meinem Vater Glauben schenken durfte.
Sie starb bei meiner Geburt.
Mein Vater, der eigentlich ein Fischer gewesen war, konnte es nicht verkraften – dort saß er, mit einem kreischenden Gör von einem Baby, ohne Geld, hatte soeben seine Frau verloren und war selbst nur ein armer Fischer. Was hätte er schon tun sollen?
Zuerst behielt er seinen Beruf und drückte mich meiner Tante in die Arme, da er selbst ziemlich häufig auf hoher See unterwegs war. Auf diese Art und Weise lebten wir für fünf Jahre und es war gut. Wir hatten genug zu essen und ich sah meinen Vater mindestens einmal im Monat.
Meine Tante war keine sehr anständige Frau, auch wenn mein Vater dass nicht wusste. Sie verkaufte sich selbst ohne Scham, doch sie legte nie Hand an mich. Ich denke Vater hatte sie dafür bezahlt sich um mich zu kümmern. Auf jeden Fall tat sie mir nichts.
Bis mein Vater nicht mehr wieder kam. Er war wie üblich aufs Meer hinausgefahren und hatte versprochen bald wieder zu kommen. Drei Wochen. Solange wollte er fern bleiben. Doch er kam nie wieder. Nachdem er einen Monat zu spät war, veränderte sich meine Tante – nein, ihr Verhalten gegenüber mir veränderte sich. Sie sah keinen Grund mehr darin, sich mir gegenüber freundlich zu benehmen. Sie schlug mich – manchmal grundlos, manchmal weil ihr etwas nicht gefiel. Außerdem machte sie mich zu einer Art kleinen Dienerin. Wann immer sie „Kunden“ hatte, war ich es die ihnen ihre Getränke bringen musste und dafür sorgte, dass sie nichts vergaßen. Ich mochte diese Männer nicht, was wohl auch verständlich war. Manch einen hatte ich zuvor schon auf der Straße getroffen, während sie mit Frau und Kind unterwegs waren.
Auch das ging eine Weile gut – genau zwei Jahre. Bis ich sieben wurde.
An jenem Tag hatte meine Tante einen neuen Kunden – sie empfing, meistens nur „Stammgäste“ – der sich mir gegenüber außergewöhnlich nett verhielt. Er schenkte mir sogar eine Süßigkeit, als ich ihnen etwas Alkohol brachte. Nachdem ich den Raum, in dem er und meine Tante sich getroffen hatten – ein kleines Zimmer, mit Bett, Tisch und zwei Stühlen ausgestattet – verlassen hatte, dachte ich nicht weiter an ihn und putzte wie üblich das Haus. Doch es war nicht wie üblich. Ich hörte nicht die gewöhnlichen Geräusche aus dem Zimmer, sondern nur die Stimmen der beiden. Sie schienen über etwas zu verhandeln. Ich war gerade dabei den Boden zu fegen, als dann plötzlich meine Tante aus dem Zimmer kam – allein. Sie wirkte ziemlich zufrieden und aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie sie mehrere Münzen in die Tasche ihres Kleides gleiten ließ.
„Rea. Geh rein“, sagte sie zu mir und nahm mir den Besen grinsend aus der Hand.
Nie würde ich die Angst vergessen die mich in dieser Sekunde durchschoss – und den Ekel.
„Wa...?“, setzte ich an, doch da blitzten die Augen meiner Tante auf.
„Tu was ich dir sage!“
„J-ja“, stammelte ich und begab mich durch die hölzerne Tür in den genauso hölzernen Raum. Dort saß der Mann, auf einem der beiden Stühle. Der andere stand neben ihm.
„Setz dich doch“, befahl er mir. Er grinste genau wie meine Tante.
Ich ließ mich, soweit wie möglich von ihm entfernt, auf dem Stuhl nieder.
Ich weiß nicht mehr, was genau er sagte – er hatte einen schleimigen Ton und es war wohl etwas Süßholzraspeln in seinen Sätzen vorhanden. Aber ehrlich gesagt war es mir auch völlig egal. Ich weiß nur noch, dass plötzlich seine Hand auf meinem Oberschenkel lag – und dass ich sie dort nicht haben wollte.
„AAAHHH“, schrie ich so laut ich konnte und versuchte diese widerliche Hand abzuschütteln. Ich wusste nur noch eins – dieser Mann würde mich nicht anfassen. Nicht auf diese Weise.
Auf einmal verhärtete sich sein Griff und ehe ich es mir versah lag seine andere Hand auf meiner Schulter. Schnell wurde ich vom Stuhl gerissen und auf den Boden gedrückt – meine Versuche ihn zu schlagen waren zwecklos. Fahrig fuhren seine Hände unter mein Oberteil. Ich trat und boxte nach ihm, so gut ich es konnte, doch es schien ihm nichts auszumachen.
Als ich keinen Ausweg mehr sah, nahm ich meine letzte Waffe. Mit aller Kraft biss ich ihm in den Arm, bis das Blut spritzte.
„AARRGH!“, schrie er vor Schmerz auf und zuckte von mir zurück. Er ließ mich für höchstens einen Moment los – und das war sein Fehler.
In einer Geschwindigkeit mit der der etwas ältere Mann nicht mithalten konnte sauste ich zum Nachtischchen neben dem Bett und ergriff den Kerzenständer, der dort stand. Er war nicht sehr edel und nicht sehr groß, aber er war schwer.
Mit aller Kraft die ich in meinem Zustand aufbringen konnte zog ich dem Mann diesen Kerzenständer über den Kopf.
Es floss kein Blut und der Mann starb nicht – das war mein Glück. Sonst hätte man mich wohl verfolgt.
Ich stand über einem bewusstlosen Mann, der wenige Sekunden zuvor noch versucht hatte, mir schreckliches anzutun. Und in diesem Moment begriff ich, dass es vielleicht das erste, aber wahrscheinlich nicht das letzte Mal gewesen war, dass meine Tante mich zu verkaufen versuchte. Was würde sie mit mir anstellen wenn sie sah, was ich getan hatte? Ich konnte nicht mehr bleiben. Ob meine Tante noch im Haus war? Würde sie es sehen, wenn ich versuchte durch die Tür zu entkommen? Würde sie mich aufhalten?
Mein Blick wanderte zum Fenster. Wir befanden uns im Erdgeschoss und es waren keine Gitter angebracht – ein Fehler. Ich könnte jederzeit heraus springen. Aber wohin sollte ich?
Ich konnte nicht in dieser Stadt bleiben – manche Menschen kannten mich. Meine Tante würde keine Probleme haben mich zu finden. Ich musste also aus der Stadt heraus. Der Straße konnte ich nicht folgen – dort würde meine Tante zuerst suchen, wobei ihr bestimmt einige Menschen helfen würden, wenn sie nur behauptete ich sei einfach von zuhause weggerannt. Das bedeutete, ich würde in den Wald rennen müssen. Ich sah an mir selbst herab – ich trug ein grün-braunes Kleid. Nichts edles, aber man musste sich auch nicht verstecken. Also ziemlich unauffällig. Aber würde es mich warmhalten können? Ich hatte einige kalte Nächte vor mir. Hastig blickte ich mich im Raum um – ich konnte schlecht die Decke Bettes nehmen, oder? An einem Garderobenständer hing ein langer Mantel, der wohl dem Mann gehörte. Natürlich war er für mich zu groß. Gab es denn sonst nichts? Da fiel mir plötzlich ein großer Schrank ins Auge – was war da drinnen?
Ich öffnete die Türen des großen, aus hellem Holz gebauten Schrankes und erblickte einen einzigen Mantel, der offensichtlich meiner Tante gehörte. Es war ein Wintermantel, der aber nicht allzu vornehm oder teuer aussah. Er war schlicht und meiner Tante – so wie ich das sehen konnte – bestimmt zu eng. Vorsichtig fischte ich ihn aus dem Schrank, während ich noch einmal einen Blick auf den ohnmächtigen Mann warf – er würde doch nicht aufwachen?
Glücklicherweise tat er es nicht. Ich musste ihn ziemlich hart getroffen haben. Erleichtert wandte ich mich ab und betrachtete den Mantel. Er war dick und fest, die Farbe etwas dunkler als die von allen anderen Mänteln die ich zuvor gesehen hatte. Er war mir natürlich zu lang, aber er lag ganz gut an – er war nur ein bisschen zu groß. Wie dünn war meine Tante einmal gewesen, dass er einem siebenjährigen, etwas abgemagerten Mädchen beinahe passte? Schnell zog ich ihn über und kurbelte die Ärmel hoch, bis sie mir in etwa passten. Über den zu langen Saum konnte ich mich nicht beschweren – beim Laufen könnte das vielleicht stören, aber ansonsten würde es mich vor allem beim Schlafen warm halten. Ich zog den Mantel wieder aus und faltete ihn hastig zu einem kleinen Bündel – wenn ich ihn anbehalten würde, würde ich zu sehr auffallen. Als ich endlich fertig war, wandte ich meinen Blick dem Fenster zu.
Lebwohl, Tante, dachte ich und riss es auf. Dann schwang ich mich heraus und landete in einer kleinen, dunkeln Gasse. Es war Mittag und der Weg war leer – abends versammelte sich hier das Gesindel der Stadt und… ich wollte gar nicht wissen, was sie taten.
Mit dem kleinen Päckchen von einem Mantel und meinem Arm lief ich über den schmutzigen Boden so schnell ich konnte in Richtung der Hauptstraße – sie war nicht weit entfernt. Ich würde ihr innerhalb des Ortes folgen, da es keinen schnelleren Weg gab die Stadt zu durchqueren. Und angeblich fiel man doch in Menschenmengen am wenigsten auf.
Also rannte ich Ecke um Ecke bis ich schließlich die Hauptstraße erreichte. Es war ein heller, gepflasterter Weg, dessen Ränder mit Geschäften und Ständen gesäumt waren, die alles Mögliche anboten. Das dort war ein Laden für magische Gegenstände. Dort wurden Tiere verkauft und direkt daneben stand ein Lebensmittelgeschäft, wenn ich mich nicht irrte. Das Haus dort gehörte den Fureis, da war ich mir sicher. Die meisten Häuser waren aus Holz, nur wenige Steinbauten mischten sich ein – das lag wohl daran dass die Stadt nicht wie die meisten Städte um irgendeine Burg oder ein anderes wichtiges Gebäude herumgebaut war. Es gab hier massenweise reisende Händler, die ihre Waren auf hölzernen Ständen, die man in wenigen Minuten zu fahrbaren Vehikeln umbauen konnte um sie aus der Stadt zu schieben, auslegten. Dort drüben stand ein Fischhändler an einen Vasenverkäufer angelehnt – und dort bot ein Kopfgeldjäger seine Dienste an. Es gab viele Kopfgeldjäger. Die Meisten jagten auf Anfrage Monster, Zauberer oder einfache Verbrecher. Andere arbeiteten auch für weniger anständige Ziele und wieder andere spezialisierten sich auf die Jagd nach… nun ja, Kopfgeldern. Man nannte sie zwar Kopfgeldjäger aber Tatsache war, dass nur die wenigsten steckbrieflich gesuchte Verbrecher jagten. Der Stand des Kopfgeldjägers, der hier war, sah einfach und simpel aus. Er saß hinter einem kleinen Tisch und neben ihm lehnte sein Schwert. Auf einem Schild stand sein Name geschrieben und eine Liste von „erlegten“ Zielen lag aus. Tatsache war aber eigentlich, dass es oft nicht darum ging das Ziel zu töten, sondern es gefangen zu nehmen oder zu etwas zu überzeugen. Dennoch sagte man dazu erlegen. Im Allgemeinen waren Kopfgeldjäger für so gut wie alles zu haben – wenn die Bezahlung stimmte. Ich fand sie faszinierend. Für gewöhnlich wäre ich näher auf den Stand zugegangen und hätte mir den in einen Kapuzenmantel gehüllten Mann näher angesehen – warum trug er einen Mantel? Es war Sommer – doch das ging jetzt natürlich nicht. Also betrat ich stattdessen die Straße.
Glücklicherweise empfing mich hier genau das, auf das ich gehofft hatte. Eine Menschenmenge. Alle rannten aneinander vorbei – fröhliches Lachen, scharfes Feilschen und erheiterte Gespräche waren überall zu hören.
Kaum berührten meine Füße die Steine der Straße tauchte ich auch schon unter. Ein siebenjähriges Kind, das manch einer schon beim Einkaufen gesehen hatte, war wirklich nichts besonders auffälliges.
Immer dem Strom der Menge folgend schaffte ich es schließlich mich an den Rand der Stadt zu bringen, wo sich weniger Mensche aufhielten, aber immer noch ein ziemlich Haufen. Es herrschte ein ständiges Kommen und gehen, da es kein Stadttor gab und auch keine Mauer, die die Stadt einschränkte.
Endlich kam ich am Ende der Hauptstraße an, das zu einer Landstraße führte, die mitten durch den Wald führte – absolut gerade.
Ab hier konnte ich keinem Weg mehr folgen – ich war vor in etwa einer halben Stunde aus dem Haus meiner Tante entkommen. Ob sie es mittlerweile wohl schon bemerkt hatte? Und wenn nicht, wie viel Zeit blieb mir noch? Nicht mehr allzu lange, so viel war mir klar.
Mit gesenktem Kopf und von der fröhlich scherzenden Masse der Menschen unbemerkt verließ ich die Straße und lief in die Büsche des Waldes – ein kurzes Rascheln und ich war vom Rest der Menschen abgeschnitten.
Der Wald war heller, als ich es erwartet hatte – das Blätterdach ließ mehr Licht durch, als ich jemals gedacht hätte. Die Bäume waren groß und der Boden über und über mit Gras bedeckt. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass dieser Wald der erste Ort war, an dem ich jemals das Gefühl der Freiheit kennenlernte, oder daran, dass er wirklich einfach wunderschön war, aber ich fand ihn unglaublich. Hell, schön, warm. Offen. Frei.
Gerne wäre ich stehen geblieben, um ihn näher zu betrachten, die Vollkommenheit der Natur auf mich einwirken zu lassen, doch das ging nicht. Ich rannte. So schnell ich konnte rannte ich mitten in den Wald hinein, zwischen raschelnden Büschen hindurch und über die eine oder andere Lichtung, wobei ich mich absichtlich immer weiter von der Straße entfernte. Angeblich gab es im Wald Dämonen und wilde Tiere, doch das war nicht wichtig. Das einzig Wichtige war nicht gefasst zu werden.
Also rannte ich. Rannte immer schneller. Stunde um Stunde rannte ich weiter. Eigentlich konnte ich schon seit langem nicht mehr, doch ich rannte dennoch weiter und ignorierte sowohl die Erschöpfung als auch mein Seitenstechen. Hier ging es um alles oder nichts – ich wollte gar nicht erst wissen, was meine Tante mir antun würde, sollte sie mich jemals erwischen.
Das Gras unter meinen Füßen war dicht und ging mir bis zu den Knöcheln. Erstaunlicher weise war es auch etwas feucht, im Gegensatz zu dem kurzen und trockenen Gras, dass ich zuerst betreten hatte. Überhaupt verschwanden Helligkeit und Wärme immer mehr.
Langsam senkte sich die Dunkelheit über den Wald und ich begann zu begreifen, warum man sooft „im dunklen, dunklen Wald“ sagte. Vor ein paar Augenblicken hatte ich noch mehrere Meter weit sehen können, doch jetzt verkürzte sich meine Sichtweite immer mehr. Ich konnte fast nichts mehr erkennen. So konnte ich die richtige Richtung nicht mehr ausmachen – rannte ich jetzt weiter, würde ich mich nur verlaufen.
Also kam ich keuchend unter einer großen Eiche zum Stillstand. Sie war gewaltig und ihre Wurzeln boten mir einen halbwegs geschützten Platz zum Schlafen. Sie waren trocken und hart, doch zwischen ihnen erstreckte sich weiches Gras, auf dem ich jetzt zusammenbrach. Ich war stundenlang gerannt und hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen, da ich morgens keinen Hunger gehabt hatte und das Frühstück hatte ausfallen lassen. Gott, wie ich das bereute.
Nach Luft schnappend und vor Erschöpfung zitternd griff ich mit meinen kleinen Ärmchen nach meinem Mantel und entfaltete ihn. Dann wickelte ich mich, so gut es ging ohne Aufzustehen, in ihm ein und rollte mich unter den Ästen der Eiche zu einer Kugel zusammen.
In Märchen wäre das die Stelle gewesen, an der ein Ritter in glänzender Rüstung erschien und mich rettete. Aber ich lebte in keinem Märchen.
Ich schlief die Nacht überraschend gut durch. Mein Mantel war dick und warm, bequem und weich.
Als ich aufwachte begann das Leben im Wald gerade wieder – die Sonne würde jeden Moment aufgehen und den Wald erhellen, doch schon jetzt fingen die Vögel wieder an ihre Balladen vor sich hin zu zwitschern während die ersten Tiere wieder durchs Gebüsch huschten.
Gähnend öffnete ich meine Augen. Die Eiche, die in der Nacht so groß und schützend gewirkt hatte erweckte jetzt das Gefühl absoluter Zufriedenheit und Sicherheit in mir. Sie war noch etwas größer als ich gedacht hatte – ihre Wurzeln gingen mir hier an ihrem Ansatz bis zum Bauch. Ich spürte, dass ich am Vortag zu viel gerannt war, denn all meine Muskeln stöhnten und der Muskelkater drückte sich schon bei meinem ersten Versuch mich aus meinem Mantel zu befreien aus. Als ich mich schließlich aus dem Stück Stoff herauswickelte und mit meinen Schuhen in das vom Tau durchnässte Gras trat erleuchtete die Sonne bereits die ganze Szenerie. Niemals würde ich den ganzen Tag über rennen können, so wie ich es zuvor getan hatte. Hatte ich es übertrieben? Oder war es richtig gewesen erstmal aus der nahsten Umgebung meiner Tante zu fliehen? Das war jetzt ganz egal. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt kam es darauf an, was nun das schlauste wäre.
Zuerst musste ich aus diesem Wald raus, und am besten in einen anderen hinein. Ich musste mich soweit von dieser Stadt entfernen wie ich nur konnte.
Also kämpfte ich mich auf meine Füße und machte mich wieder auf den Weg.
Am Abend kam ich an einer kleinen Quelle an, aus der ich trank. Daneben wuchsen auch einige Beeren, bei denen ich mich bediente. Dort schlief ich in dieser Nacht.
Am nächsten Tag verließ ich dann schließlich den Wald und erblickte eine weite Hügellandschaft, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Vor mir erstreckten sich große Wiesen, geradezu Ebenen. In der ferne konnte ich einen anderen Wald erkennen – mein nächstes Ziel. Man konnte die Landstraße die aus dem Wald führte von hier nicht einmal ausmachen.
Den ganzen Tag über wanderte ich in Richtung des Waldes, doch dafür musste ich mich zuerst in eine Senke begeben und auf der anderen Seite wieder hinaufsteigen. Und sogar dann erwartete mich noch eine lange Strecke. Deswegen kam ich an diesem Tag gerade mal in die Senke hinab und stellte fest, dass hier ein kleines Bächlein entlang floss. Aus diesem Bach trank ich und and dessen Rand schlief ich auch.
Am nächsten Tag wanderte ich den Abhang hinauf und noch ein Stück weiter. Am Tag darauf erreichte ich schließlich den Wald – und mein erstes Dorf. Es lag ein kleines Stück im Wald, also hatte ich es aus der Entfernung nicht erkennen können. Mehrere Holzhäuser und ein oder zwei aus Stein empfingen mich, als ich mich in langsam näherte. Ich hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen und es war reines Glück gewesen, dass ich immer wieder auf Wasser gestoßen war. Sonst wäre ich schon verdurstet – wie lange konnte man ohne Wasser überhaupt überleben? Ich meinte mich daran erinnern zu können, dass mir mein Vater erklärt hatte, dass es höchstens drei Tage sein.
Der Wald in dem dieses Dorf lag war weniger dicht und dunkel als der in dem die Stadt meiner Tante lag.
Würde ich in diesem Ort bleiben können? Würde meine Tante mich hier finden? Wahrscheinlich. Ich war immer noch zu nah. Doch vielleicht könnte ich hier etwas zu essen und zu trinken bekommen, oder sogar einen Platz zum Schlafen – wenn auch nur für eine Nacht.
Man bemerkte mich noch bevor ich den Ort betrat. Ich trug meinen Mantel wieder unter dem Arm und mein Kleid war mittlerweile ziemlich beschmutzt. Ich hörte aufgeregte Stimmen und sah Menschen von rechts nach links und von links nach rechts zwischen den Häusern herumfusseln. Doch niemand kam auf mich zu. Als ich schließlich den ersten Schritt zwischen die Häuser machte, hörte ich wie eine Tür nach der anderen Zuschlug. Fenster wurden geschlossen, Kinder von der Straße in die Häuser geholt. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich der eben noch so lebhafte Ort in eine Geisterstadt.
Verwirrt wanderte ich zwischen den Häusern weiter und sah mich nach Leuten um, die ich um Hilfe bitten konnte. Doch nicht ein Mensch war mehr auf der Straße. Es dauerte mehrere Momente bis ich begriff, dass das an mir lag. Die Menschen versteckten sich vor mir, dem komischen und eigenartigen Mädchen, das, schmutzig und heruntergekommen, einfach in das Dorf marschiert war. Ich war für sie alles, aber kein gutes Omen.
Für ein paar Momente stand ich einfach nur auf dem Weg herum und starrte ins Leere. So viel unbegründete Ablehnung war mir noch nie entgegengeschlagen. In den ersten Sekunden dachte ich, ich würde jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch dann schluckte ich den Schock herunter und verkrampfte meine Hände zu Fäusten. Womit hatte ich gerechnet? Freude über ein Waisenkind mehr, das durchgefüttert werden wollte? Das hier war ab sofort meine Realität und ich würde damit leben müssen.
„Nur ein Brot. Bitte nur ein Brot und ich gehe. Ich flehe Sie an“, rief ich in die Stille des Dorfs hinein. Ich musste seltsam aussehen, wie ich so allein in der Mitte einer verlassenen Straße stand und bettelte. Aber ich sah keine andere Möglichkeit – ich war am verhungern.
Zuerst blieb alles still und ich fing an, mich zu fragen, ob das die schlauste Vorgehensweise gewesen war. Sie könnten doch einfach in ihren Häusern warten, bis ich verschwand. Schon wieder musste ich mir die Frage stellen, was ich eigentlich erwartete. Mitleid? Hatte ich wirklich erst so wenig von der Welt begriffen? Wieder griff die Verzweiflung nach meiner unerfahrenen Seele. Doch das würde ich nicht zulassen. Mit all der Macht, die ich als kleines Kind besaß verdrängte ich alle Gefühle, die ich als Schwäche deutete aus meinen Gedanken und ersetzte sie mit Entschlossenheit.
Mit verschränkten Armen ließ ich mich auf den Boden fallen. Sie konnten in ihren Häusern warten?
Das kann ich auch!, dachte ich. Logisch betrachtet konnte ich genau das eigentlich nicht. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Aber es war mir wichtig.
Ich weiß nicht, wie lang ich damals einfach nur im Schneidersitz mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen auf dem harten, kalten Boden saß und stur blieb.
Doch ich gewann. Irgendwann öffnete sich die Tür eines nahe stehendes Hauses, eine braungebrannte Hand erschien und ein Laib Brot flog in meine Richtung.
Es war ein kleiner Laib, und er landete in dem größten Haufen Matsch in einem Umkreis von 10 Metern. Aber es war Brot, und es war essbar.
Ich stand so schnell auf wie noch nie zuvor. Blitzschnell griffen meine winzigen Hände nach dem Brot. Fahrig wischte ich den Schmutz ab ehe ich meine Zähne in der wahrscheinlich leckersten Mahlzeit meines Lebens versenkte. Doch ehe ich anfangen konnte das Brot richtig zu genießen, war es auch schon verschwunden. Und ich hatte ein Versprechen zu halten.
Ein wenig gesättigt und schwer enttäuscht von der Menschlichkeit stand ich vom Boden auf, wischte mein Kleid ab und ging.
Ich weiß nicht einmal, wie oft sich diese Prozedur wiederholt hat – egal in welches Dorf ich kam, immer mieden mich die Menschen. Aber auf diese Weise überlebte ich.
Und nachdem ich unzählige Orte gesehen, mehrere Wälder durchquert und von mehr als genug Menschen gehasst worden war, erreichte ich endlich mein Zuhause. Den Ort, an dem der alte Mann lebte. Ich hatte allen Glauben an die Menschen verloren – bis ich ihn traf. Durch ihn lernte ich von wahrer Gnade und Güte. Von Menschlichkeit.
Er brachte mir auch bei, dass jeder Mensch Gnade und Güte verdient. Eine zweite Chance, bedingungslose Liebe. Und jetzt war er tot.
Er war ein genialer Heiler gewesen, doch keine seiner noch meiner Medizinen hatte ihn retten können. Natürlich nicht – schließlich war er es gewesen, der mir alles über das Heilen beibrachte. Und seine erste Lektion besagte, dass jeder Mensch einmal stirbt – ein Heiler soll nie versuchen diese Tatsache umzustoßen.
„Habt ihr eigentlich schon gehört, dass der kalte Dämon in Rektol gewesen ist?“, unterbrach eines der Mädchen auf der Brücke meine Gedanken.
Erschrocken zuckte ich zusammen – ich hatte die Welt um mich herum ganz kurz vergessen.
„Ja, es soll einen Riesen-Kampf gegeben haben!“, meinte eines der anderen Mädchen entzückt. Das war Julia, oder zumindest hörte sie sich von der Stimme her genauso an.
Der kalte Dämon…
Ich hatte definitiv schon einmal von ihm gehört – und das, obwohl mich nur selten Klatsch und Tratsch erreichte. Er war angeblich der grausamste Krieger aller Zeiten. Er war bekannt dafür, dass er, bei einem Krieg zweier verfeindeter Länder, im Alleingang hunderte von Feinden getötet hatte. Angeblich kämpfte er ohne jegliche Art von Rüstung und nur mit seinem sehr schmalen Schwert. Aber seine Technik war mittlerweile sogar schon sagenumwoben. Außerdem sollte er höchstens 20 sein – also gar nicht mal soviel älter als ich.
„Er soll gegen Natalion gekämpft haben!“, rief eines der Mädchen begeistert.
Natalion… auch den Namen hatte ich schon einmal gehört. Er hatte im Krieg gegen den kalten Dämon gekämpft. Und war der Einzige, der das überlebt hatte. Er war der Anführer einer Rebellengruppe, die Hikar, eines der am Krieg beteiligten Länder, schon seit Ewigkeiten inoffiziell regierten. Sie waren für den Krieg verantwortlich – also war es im Endeffekt Natalions Schuld. Gewonnen hatte dem Krieg dann doch niemand – eine sinnlose Verschwendung von Menschenleben.
„Neben Rektol ist jetzt ein riesiger Krater. Melene, ihr wisst schon, die eine die von dort kommt, sagt, dass der Kampf echt knapp war – alle Leute haben sich im Wald versteckt und sie beobachtet und sie behaupten, dass der kalte Dämon am Ende einfach verschwunden ist!“, gab eines der Mädchen mit ihrem Wissen an.
„Der kalte Dämon ist Schwertkämpfer, stimmt's? Und Natalion ist ein Magier. Da war doch klar, wer gewinnt! Er hat ihn wahrscheinlich einfach in Luft aufgelöst!“
Ich musste ein Kichern unterdrücken. Dieses Mädchen wusste offensichtlich nicht sehr viel von Magie. Man konnte Magie nicht so einfach benutzen um zu tun, was man wollte. Der alte Mann hatte mir erklärt, dass es für alles eine Formel gab – nur waren die meisten viel zu lang und kompliziert, als dass man sie einfach auswendig lernen könnte. Es sei den man war ein Genie. Für den Kampf waren solche Formeln also natürlich auch nicht wirklich geeignet. Dieser Natalion musste unfassbar intelligent sein.
„Der kalte Dämon hat aber schon oft gegen Natalion gekämpft und nie hat einer den anderen besiegt!“, widersprach Mili.
„Aber er war schwer verletzt. Entweder ist er entkommen oder er ist jetzt tot – aber man kann es auf jeden Fall als Sieg für Natalion verstehen!“
Langsam ließ meine Aufmerksamkeit nach – wirklich, dieses Gesprächsthema interessierte mich nicht. Und ich würde sie auch gar nicht belauschen, hätte ich die Wahl – aber ich konnte nichts dagegen tun, dass sie sich immer auf dieser Brücke trafen, und dass ich meine Medizinen nicht in meinem Schuppen mischen konnte. Aber das funktionierte nun einmal einfach nicht. Ich hatte zu große Angst, dass ich, sollte ich einen Fehler machen, mich selbst vergasen könnte. Dabei hatte ich eigentlich schon sehr lange keinen solchen Fehler mehr gemacht.
Vor mir hatte ich mehrere Schüsseln und Schalen, so wie einige leere und andere mit bestimmten Mixturen gefüllte Fläschchen aufgestellt.
Ich war gerade dabei eine Heilsalbe aus schwarzer Rahnose herzustellen. Sie war sehr effektiv für die Wundheilung – in Verbindung mit einem Schmerzmittel aus Sternfrüchten, Lichtkräutern und Göttinnenkraut konnte damit auch Schwerverletzte heilen. Solche Medikamente auf Vorrat zu haben war eine Grundvoraussetzung für Heiler, auch wenn es im Moment keine Verwendung für sie gab.
„Denkst du eigentlich, wir wissen nicht, dass du kleines Monster uns belauschst?“, durchschnitt auf einmal Eleos Meinung die ruhige Atmosphäre.
Eleo war so was wie das Alpha-Weibchen der Mädchen aus meinem Dorf.
Sie war groß, schwarzhaarig, stolz, schön und die Tochter des Bürgermeisters. Natürlich war sie bei allen beliebt – und genauso natürlich war es, dass sie mich hasste. Genau wie der Rest verabscheute sie mich – nur war diese Generation anders als ihre Eltern, die mich aus Angst abgelehnt hatten. Sie sahen einfach nur auf mich herab – und das gab ihnen genug Grund, mich mit allem was sie hatten fertig zu machen.
„Mischst du schon wieder dein Hexentränke zusammen?“, rief Eleo herunter und die anderen Mädchen lachten.
Natürlich wussten sie, dass es Heiltränke waren und dass ich keine Hexe war. Ein Paar von ihnen hatte ich sogar schon etwas verabreicht, als sie krank gewesen waren. Und würden sie mich ernsthaft für eine Hexe halten, würden sie es nicht wagen, mich zu schikanieren. Aber wahrscheinlich hätten sie mich dann auch schon aus dem Dorf vertrieben.
Stumm blieb ich sitzen. Ich blickte nicht einmal auf. Es war nicht mein Problem, wenn sie das Gefühl hatten, so tun zu müssen als wüssten sie die Wahrheit nicht. Stattdessen zerquetschte ich weiterhin Sternfrüchte und sammelte ihren Saft in einer Schale, in der ich bereits gemahlenes Lichtkraut aufgehäuft hatte – eine mühselige Arbeit, aber glücklicherweise hatte ich es endlich hinter mich gebracht.
„Hörst du mir zu?!“, rief Eleo wütend herab. Ich wusste eigentlich, dass ignorieren nicht di beste Taktik war, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
Reagier nicht!, befahl ich mir also selbst. Von oben hörte ich nur ein wütendes Zischen.
Erleichtert atmete ich aus.
Für einen Moment dachte ich, dass ich ihnen dieses Mal entkommen war.
Doch dann machte es „KRACK“ und direkt vor mir schlug ein Stein auf. Er verfehlte mich zwar, aber innerhalb von Sekunden sah ich meine stundenlange Arbeit in Scherben zerbrechen. Ein einziges Klirren und Krachen und überall vor mir rannte Flüssigkeit über den Boden.
Würde ich das Ganze wohl noch mal machen müssen. Am besten ging ich morgen in den Wald, um mir noch etwas Lichtkraut zu holen. Das warme Klima dort bot die perfekten Vorraussetzungen für Lichtkraut. Und Lichtkraut wächst ja bekanntlich immer nur in großen Sträuchern. Von den Sternfrüchten hatte ich noch genug übrig und das Göttinnenkraut hatte ich noch nicht einmal herausgeholt.
Schnell begann ich die heilen Flaschen und noch zu verwendenden Zutaten aus den Trümmern meiner Arbeit zu retten.
Über mir hörte ich nur lautes Lachen über mein hektisches Herumgefussel und die herablassende Bemerkung „Damit sie niemanden vergiften kann“.
Dann zogen sie endlich ab.
Als ich alle nicht zerstörten Flaschen gerettet hatte, setzte ich mich auf und begann damit die traurigen Überreste meiner Heilmittel zu entsorgen. Damit würde ich wohl für den Rest des Tages beschäftigt sein.
Es war eine schöne Brücke, die über einen nicht all zu breiten oder tiefen Fluss führte. Sie bestand aus Stein und einem einzigen Bogen. Einem Segmentbogen, wenn ich mich nicht irrte. Aber ich kannte mich nicht sonderlich gut damit aus – ich lebte schließlich nur unter dieser Brücke.
Mein Haus war ein Schuppen, der vor Jahrzehnten hier von einem Ehepaar erbaut worden war, das allerdings kurz darauf in einem Überfall von Räubern getötet wurde. Ihr Haus wurde bei diesem Überfall niedergebrannt. Nur dieser Schuppen hier, der ihrem Haus, das auf der anderen Seite der Brücke gestanden hatte, nicht sehr nahe gewesen war, stand noch. Von den Dorfbewohnern hatten sich nur die wenigsten freiwillig genähert, da er alt und höchstwahrscheinlich auch instabil war. Hier hatte, aus Gründen, die niemand so ganz verstand, sich kurz nach dem Brand ein Mann eingenistet – ein alter, weiser Mann. Kein einziger Mensch, der hier lebte oder hier je gelebt hatte, kannte seinen Namen. Sie alle nannten ihn nur „Alter Mann“. Er war ein Mediziner gewesen, und da dem Dorf sowieso jemand gefehlt hatte, der sich um Kranke und Verletzte kümmerte hatte man ihn geduldet. Nein, vielleicht war ihm sogar etwas Respekt entgegen gekommen, da viele der Dorfbewohner ihm ihr Leben verdankten. Aber dieser Respekt war mit Furcht und Unverständnis getränkt gewesen. Wenn es nicht absolut sein musste, wollte niemand diesen komischen, geheimnisvollen Mann ohne Namen besuchen. Bis vor zehn Jahren ich gekommen war.
Ich würde den Tag, an dem ich hierher gekommen war, nie vergessen. Ich war damals sieben gewesen. In zerfetzten Kleidern und mit Schmutz bedeckt, halb tot gehungert. Alle hatten gesagt, ich würde Pech bringen. Tod, Verderben. Es war ein abergläubisches Dorf, das lieber ein kleines Kind sterben lassen wollte, als die Götter zu verärgern. Nur der alte Mann hatte sich meiner erbarmt – ich wusste nicht warum. Wahrscheinlich aus Mitleid. Der alte Mann ließ nie jemanden sterben, den er retten konnte. Eigentlich versuchte er auch die zu retten, denen nicht mehr zu helfen war. Denn damals hatte ich definitiv zu dieser Gruppe gehört. Doch der alte Mann nahm mich auf – gab mir zu Essen und zu Trinken. Gab mir einen Platz zum Schlafen. Überzeugte die Dorfbewohner davon, mich bleiben zu lassen. Und als ich wieder gesund war, fragte er nicht. Er fragte nie, was mir passiert war, fragte nicht nach meiner Vergangenheit. Er akzeptierte mich bedingungslos – er nahm mich sogar als seine Schülerin auf und brachte mir bei, was er über die Heilkunst, über Heilpflanzen, über die Herstellung von Medizin, über das Erkennen von Krankheiten und nicht zuletzt über die Versorgung von Kranken wusste. Und wegen all dieser Güte erzählte ich es ihm. Ich erzählte ihm alles.
Wir waren nie reich gewesen – meine Mutter war eine einfache Schmuckverkäuferin gewesen, wenn auch eine auffallend schöne, deren Ketten wie magisch waren, wenn man meinem Vater Glauben schenken durfte.
Sie starb bei meiner Geburt.
Mein Vater, der eigentlich ein Fischer gewesen war, konnte es nicht verkraften – dort saß er, mit einem kreischenden Gör von einem Baby, ohne Geld, hatte soeben seine Frau verloren und war selbst nur ein armer Fischer. Was hätte er schon tun sollen?
Zuerst behielt er seinen Beruf und drückte mich meiner Tante in die Arme, da er selbst ziemlich häufig auf hoher See unterwegs war. Auf diese Art und Weise lebten wir für fünf Jahre und es war gut. Wir hatten genug zu essen und ich sah meinen Vater mindestens einmal im Monat.
Meine Tante war keine sehr anständige Frau, auch wenn mein Vater dass nicht wusste. Sie verkaufte sich selbst ohne Scham, doch sie legte nie Hand an mich. Ich denke Vater hatte sie dafür bezahlt sich um mich zu kümmern. Auf jeden Fall tat sie mir nichts.
Bis mein Vater nicht mehr wieder kam. Er war wie üblich aufs Meer hinausgefahren und hatte versprochen bald wieder zu kommen. Drei Wochen. Solange wollte er fern bleiben. Doch er kam nie wieder. Nachdem er einen Monat zu spät war, veränderte sich meine Tante – nein, ihr Verhalten gegenüber mir veränderte sich. Sie sah keinen Grund mehr darin, sich mir gegenüber freundlich zu benehmen. Sie schlug mich – manchmal grundlos, manchmal weil ihr etwas nicht gefiel. Außerdem machte sie mich zu einer Art kleinen Dienerin. Wann immer sie „Kunden“ hatte, war ich es die ihnen ihre Getränke bringen musste und dafür sorgte, dass sie nichts vergaßen. Ich mochte diese Männer nicht, was wohl auch verständlich war. Manch einen hatte ich zuvor schon auf der Straße getroffen, während sie mit Frau und Kind unterwegs waren.
Auch das ging eine Weile gut – genau zwei Jahre. Bis ich sieben wurde.
An jenem Tag hatte meine Tante einen neuen Kunden – sie empfing, meistens nur „Stammgäste“ – der sich mir gegenüber außergewöhnlich nett verhielt. Er schenkte mir sogar eine Süßigkeit, als ich ihnen etwas Alkohol brachte. Nachdem ich den Raum, in dem er und meine Tante sich getroffen hatten – ein kleines Zimmer, mit Bett, Tisch und zwei Stühlen ausgestattet – verlassen hatte, dachte ich nicht weiter an ihn und putzte wie üblich das Haus. Doch es war nicht wie üblich. Ich hörte nicht die gewöhnlichen Geräusche aus dem Zimmer, sondern nur die Stimmen der beiden. Sie schienen über etwas zu verhandeln. Ich war gerade dabei den Boden zu fegen, als dann plötzlich meine Tante aus dem Zimmer kam – allein. Sie wirkte ziemlich zufrieden und aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, wie sie mehrere Münzen in die Tasche ihres Kleides gleiten ließ.
„Rea. Geh rein“, sagte sie zu mir und nahm mir den Besen grinsend aus der Hand.
Nie würde ich die Angst vergessen die mich in dieser Sekunde durchschoss – und den Ekel.
„Wa...?“, setzte ich an, doch da blitzten die Augen meiner Tante auf.
„Tu was ich dir sage!“
„J-ja“, stammelte ich und begab mich durch die hölzerne Tür in den genauso hölzernen Raum. Dort saß der Mann, auf einem der beiden Stühle. Der andere stand neben ihm.
„Setz dich doch“, befahl er mir. Er grinste genau wie meine Tante.
Ich ließ mich, soweit wie möglich von ihm entfernt, auf dem Stuhl nieder.
Ich weiß nicht mehr, was genau er sagte – er hatte einen schleimigen Ton und es war wohl etwas Süßholzraspeln in seinen Sätzen vorhanden. Aber ehrlich gesagt war es mir auch völlig egal. Ich weiß nur noch, dass plötzlich seine Hand auf meinem Oberschenkel lag – und dass ich sie dort nicht haben wollte.
„AAAHHH“, schrie ich so laut ich konnte und versuchte diese widerliche Hand abzuschütteln. Ich wusste nur noch eins – dieser Mann würde mich nicht anfassen. Nicht auf diese Weise.
Auf einmal verhärtete sich sein Griff und ehe ich es mir versah lag seine andere Hand auf meiner Schulter. Schnell wurde ich vom Stuhl gerissen und auf den Boden gedrückt – meine Versuche ihn zu schlagen waren zwecklos. Fahrig fuhren seine Hände unter mein Oberteil. Ich trat und boxte nach ihm, so gut ich es konnte, doch es schien ihm nichts auszumachen.
Als ich keinen Ausweg mehr sah, nahm ich meine letzte Waffe. Mit aller Kraft biss ich ihm in den Arm, bis das Blut spritzte.
„AARRGH!“, schrie er vor Schmerz auf und zuckte von mir zurück. Er ließ mich für höchstens einen Moment los – und das war sein Fehler.
In einer Geschwindigkeit mit der der etwas ältere Mann nicht mithalten konnte sauste ich zum Nachtischchen neben dem Bett und ergriff den Kerzenständer, der dort stand. Er war nicht sehr edel und nicht sehr groß, aber er war schwer.
Mit aller Kraft die ich in meinem Zustand aufbringen konnte zog ich dem Mann diesen Kerzenständer über den Kopf.
Es floss kein Blut und der Mann starb nicht – das war mein Glück. Sonst hätte man mich wohl verfolgt.
Ich stand über einem bewusstlosen Mann, der wenige Sekunden zuvor noch versucht hatte, mir schreckliches anzutun. Und in diesem Moment begriff ich, dass es vielleicht das erste, aber wahrscheinlich nicht das letzte Mal gewesen war, dass meine Tante mich zu verkaufen versuchte. Was würde sie mit mir anstellen wenn sie sah, was ich getan hatte? Ich konnte nicht mehr bleiben. Ob meine Tante noch im Haus war? Würde sie es sehen, wenn ich versuchte durch die Tür zu entkommen? Würde sie mich aufhalten?
Mein Blick wanderte zum Fenster. Wir befanden uns im Erdgeschoss und es waren keine Gitter angebracht – ein Fehler. Ich könnte jederzeit heraus springen. Aber wohin sollte ich?
Ich konnte nicht in dieser Stadt bleiben – manche Menschen kannten mich. Meine Tante würde keine Probleme haben mich zu finden. Ich musste also aus der Stadt heraus. Der Straße konnte ich nicht folgen – dort würde meine Tante zuerst suchen, wobei ihr bestimmt einige Menschen helfen würden, wenn sie nur behauptete ich sei einfach von zuhause weggerannt. Das bedeutete, ich würde in den Wald rennen müssen. Ich sah an mir selbst herab – ich trug ein grün-braunes Kleid. Nichts edles, aber man musste sich auch nicht verstecken. Also ziemlich unauffällig. Aber würde es mich warmhalten können? Ich hatte einige kalte Nächte vor mir. Hastig blickte ich mich im Raum um – ich konnte schlecht die Decke Bettes nehmen, oder? An einem Garderobenständer hing ein langer Mantel, der wohl dem Mann gehörte. Natürlich war er für mich zu groß. Gab es denn sonst nichts? Da fiel mir plötzlich ein großer Schrank ins Auge – was war da drinnen?
Ich öffnete die Türen des großen, aus hellem Holz gebauten Schrankes und erblickte einen einzigen Mantel, der offensichtlich meiner Tante gehörte. Es war ein Wintermantel, der aber nicht allzu vornehm oder teuer aussah. Er war schlicht und meiner Tante – so wie ich das sehen konnte – bestimmt zu eng. Vorsichtig fischte ich ihn aus dem Schrank, während ich noch einmal einen Blick auf den ohnmächtigen Mann warf – er würde doch nicht aufwachen?
Glücklicherweise tat er es nicht. Ich musste ihn ziemlich hart getroffen haben. Erleichtert wandte ich mich ab und betrachtete den Mantel. Er war dick und fest, die Farbe etwas dunkler als die von allen anderen Mänteln die ich zuvor gesehen hatte. Er war mir natürlich zu lang, aber er lag ganz gut an – er war nur ein bisschen zu groß. Wie dünn war meine Tante einmal gewesen, dass er einem siebenjährigen, etwas abgemagerten Mädchen beinahe passte? Schnell zog ich ihn über und kurbelte die Ärmel hoch, bis sie mir in etwa passten. Über den zu langen Saum konnte ich mich nicht beschweren – beim Laufen könnte das vielleicht stören, aber ansonsten würde es mich vor allem beim Schlafen warm halten. Ich zog den Mantel wieder aus und faltete ihn hastig zu einem kleinen Bündel – wenn ich ihn anbehalten würde, würde ich zu sehr auffallen. Als ich endlich fertig war, wandte ich meinen Blick dem Fenster zu.
Lebwohl, Tante, dachte ich und riss es auf. Dann schwang ich mich heraus und landete in einer kleinen, dunkeln Gasse. Es war Mittag und der Weg war leer – abends versammelte sich hier das Gesindel der Stadt und… ich wollte gar nicht wissen, was sie taten.
Mit dem kleinen Päckchen von einem Mantel und meinem Arm lief ich über den schmutzigen Boden so schnell ich konnte in Richtung der Hauptstraße – sie war nicht weit entfernt. Ich würde ihr innerhalb des Ortes folgen, da es keinen schnelleren Weg gab die Stadt zu durchqueren. Und angeblich fiel man doch in Menschenmengen am wenigsten auf.
Also rannte ich Ecke um Ecke bis ich schließlich die Hauptstraße erreichte. Es war ein heller, gepflasterter Weg, dessen Ränder mit Geschäften und Ständen gesäumt waren, die alles Mögliche anboten. Das dort war ein Laden für magische Gegenstände. Dort wurden Tiere verkauft und direkt daneben stand ein Lebensmittelgeschäft, wenn ich mich nicht irrte. Das Haus dort gehörte den Fureis, da war ich mir sicher. Die meisten Häuser waren aus Holz, nur wenige Steinbauten mischten sich ein – das lag wohl daran dass die Stadt nicht wie die meisten Städte um irgendeine Burg oder ein anderes wichtiges Gebäude herumgebaut war. Es gab hier massenweise reisende Händler, die ihre Waren auf hölzernen Ständen, die man in wenigen Minuten zu fahrbaren Vehikeln umbauen konnte um sie aus der Stadt zu schieben, auslegten. Dort drüben stand ein Fischhändler an einen Vasenverkäufer angelehnt – und dort bot ein Kopfgeldjäger seine Dienste an. Es gab viele Kopfgeldjäger. Die Meisten jagten auf Anfrage Monster, Zauberer oder einfache Verbrecher. Andere arbeiteten auch für weniger anständige Ziele und wieder andere spezialisierten sich auf die Jagd nach… nun ja, Kopfgeldern. Man nannte sie zwar Kopfgeldjäger aber Tatsache war, dass nur die wenigsten steckbrieflich gesuchte Verbrecher jagten. Der Stand des Kopfgeldjägers, der hier war, sah einfach und simpel aus. Er saß hinter einem kleinen Tisch und neben ihm lehnte sein Schwert. Auf einem Schild stand sein Name geschrieben und eine Liste von „erlegten“ Zielen lag aus. Tatsache war aber eigentlich, dass es oft nicht darum ging das Ziel zu töten, sondern es gefangen zu nehmen oder zu etwas zu überzeugen. Dennoch sagte man dazu erlegen. Im Allgemeinen waren Kopfgeldjäger für so gut wie alles zu haben – wenn die Bezahlung stimmte. Ich fand sie faszinierend. Für gewöhnlich wäre ich näher auf den Stand zugegangen und hätte mir den in einen Kapuzenmantel gehüllten Mann näher angesehen – warum trug er einen Mantel? Es war Sommer – doch das ging jetzt natürlich nicht. Also betrat ich stattdessen die Straße.
Glücklicherweise empfing mich hier genau das, auf das ich gehofft hatte. Eine Menschenmenge. Alle rannten aneinander vorbei – fröhliches Lachen, scharfes Feilschen und erheiterte Gespräche waren überall zu hören.
Kaum berührten meine Füße die Steine der Straße tauchte ich auch schon unter. Ein siebenjähriges Kind, das manch einer schon beim Einkaufen gesehen hatte, war wirklich nichts besonders auffälliges.
Immer dem Strom der Menge folgend schaffte ich es schließlich mich an den Rand der Stadt zu bringen, wo sich weniger Mensche aufhielten, aber immer noch ein ziemlich Haufen. Es herrschte ein ständiges Kommen und gehen, da es kein Stadttor gab und auch keine Mauer, die die Stadt einschränkte.
Endlich kam ich am Ende der Hauptstraße an, das zu einer Landstraße führte, die mitten durch den Wald führte – absolut gerade.
Ab hier konnte ich keinem Weg mehr folgen – ich war vor in etwa einer halben Stunde aus dem Haus meiner Tante entkommen. Ob sie es mittlerweile wohl schon bemerkt hatte? Und wenn nicht, wie viel Zeit blieb mir noch? Nicht mehr allzu lange, so viel war mir klar.
Mit gesenktem Kopf und von der fröhlich scherzenden Masse der Menschen unbemerkt verließ ich die Straße und lief in die Büsche des Waldes – ein kurzes Rascheln und ich war vom Rest der Menschen abgeschnitten.
Der Wald war heller, als ich es erwartet hatte – das Blätterdach ließ mehr Licht durch, als ich jemals gedacht hätte. Die Bäume waren groß und der Boden über und über mit Gras bedeckt. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass dieser Wald der erste Ort war, an dem ich jemals das Gefühl der Freiheit kennenlernte, oder daran, dass er wirklich einfach wunderschön war, aber ich fand ihn unglaublich. Hell, schön, warm. Offen. Frei.
Gerne wäre ich stehen geblieben, um ihn näher zu betrachten, die Vollkommenheit der Natur auf mich einwirken zu lassen, doch das ging nicht. Ich rannte. So schnell ich konnte rannte ich mitten in den Wald hinein, zwischen raschelnden Büschen hindurch und über die eine oder andere Lichtung, wobei ich mich absichtlich immer weiter von der Straße entfernte. Angeblich gab es im Wald Dämonen und wilde Tiere, doch das war nicht wichtig. Das einzig Wichtige war nicht gefasst zu werden.
Also rannte ich. Rannte immer schneller. Stunde um Stunde rannte ich weiter. Eigentlich konnte ich schon seit langem nicht mehr, doch ich rannte dennoch weiter und ignorierte sowohl die Erschöpfung als auch mein Seitenstechen. Hier ging es um alles oder nichts – ich wollte gar nicht erst wissen, was meine Tante mir antun würde, sollte sie mich jemals erwischen.
Das Gras unter meinen Füßen war dicht und ging mir bis zu den Knöcheln. Erstaunlicher weise war es auch etwas feucht, im Gegensatz zu dem kurzen und trockenen Gras, dass ich zuerst betreten hatte. Überhaupt verschwanden Helligkeit und Wärme immer mehr.
Langsam senkte sich die Dunkelheit über den Wald und ich begann zu begreifen, warum man sooft „im dunklen, dunklen Wald“ sagte. Vor ein paar Augenblicken hatte ich noch mehrere Meter weit sehen können, doch jetzt verkürzte sich meine Sichtweite immer mehr. Ich konnte fast nichts mehr erkennen. So konnte ich die richtige Richtung nicht mehr ausmachen – rannte ich jetzt weiter, würde ich mich nur verlaufen.
Also kam ich keuchend unter einer großen Eiche zum Stillstand. Sie war gewaltig und ihre Wurzeln boten mir einen halbwegs geschützten Platz zum Schlafen. Sie waren trocken und hart, doch zwischen ihnen erstreckte sich weiches Gras, auf dem ich jetzt zusammenbrach. Ich war stundenlang gerannt und hatte den ganzen Tag über noch nichts gegessen, da ich morgens keinen Hunger gehabt hatte und das Frühstück hatte ausfallen lassen. Gott, wie ich das bereute.
Nach Luft schnappend und vor Erschöpfung zitternd griff ich mit meinen kleinen Ärmchen nach meinem Mantel und entfaltete ihn. Dann wickelte ich mich, so gut es ging ohne Aufzustehen, in ihm ein und rollte mich unter den Ästen der Eiche zu einer Kugel zusammen.
In Märchen wäre das die Stelle gewesen, an der ein Ritter in glänzender Rüstung erschien und mich rettete. Aber ich lebte in keinem Märchen.
Ich schlief die Nacht überraschend gut durch. Mein Mantel war dick und warm, bequem und weich.
Als ich aufwachte begann das Leben im Wald gerade wieder – die Sonne würde jeden Moment aufgehen und den Wald erhellen, doch schon jetzt fingen die Vögel wieder an ihre Balladen vor sich hin zu zwitschern während die ersten Tiere wieder durchs Gebüsch huschten.
Gähnend öffnete ich meine Augen. Die Eiche, die in der Nacht so groß und schützend gewirkt hatte erweckte jetzt das Gefühl absoluter Zufriedenheit und Sicherheit in mir. Sie war noch etwas größer als ich gedacht hatte – ihre Wurzeln gingen mir hier an ihrem Ansatz bis zum Bauch. Ich spürte, dass ich am Vortag zu viel gerannt war, denn all meine Muskeln stöhnten und der Muskelkater drückte sich schon bei meinem ersten Versuch mich aus meinem Mantel zu befreien aus. Als ich mich schließlich aus dem Stück Stoff herauswickelte und mit meinen Schuhen in das vom Tau durchnässte Gras trat erleuchtete die Sonne bereits die ganze Szenerie. Niemals würde ich den ganzen Tag über rennen können, so wie ich es zuvor getan hatte. Hatte ich es übertrieben? Oder war es richtig gewesen erstmal aus der nahsten Umgebung meiner Tante zu fliehen? Das war jetzt ganz egal. Was geschehen war, war geschehen. Jetzt kam es darauf an, was nun das schlauste wäre.
Zuerst musste ich aus diesem Wald raus, und am besten in einen anderen hinein. Ich musste mich soweit von dieser Stadt entfernen wie ich nur konnte.
Also kämpfte ich mich auf meine Füße und machte mich wieder auf den Weg.
Am Abend kam ich an einer kleinen Quelle an, aus der ich trank. Daneben wuchsen auch einige Beeren, bei denen ich mich bediente. Dort schlief ich in dieser Nacht.
Am nächsten Tag verließ ich dann schließlich den Wald und erblickte eine weite Hügellandschaft, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Vor mir erstreckten sich große Wiesen, geradezu Ebenen. In der ferne konnte ich einen anderen Wald erkennen – mein nächstes Ziel. Man konnte die Landstraße die aus dem Wald führte von hier nicht einmal ausmachen.
Den ganzen Tag über wanderte ich in Richtung des Waldes, doch dafür musste ich mich zuerst in eine Senke begeben und auf der anderen Seite wieder hinaufsteigen. Und sogar dann erwartete mich noch eine lange Strecke. Deswegen kam ich an diesem Tag gerade mal in die Senke hinab und stellte fest, dass hier ein kleines Bächlein entlang floss. Aus diesem Bach trank ich und and dessen Rand schlief ich auch.
Am nächsten Tag wanderte ich den Abhang hinauf und noch ein Stück weiter. Am Tag darauf erreichte ich schließlich den Wald – und mein erstes Dorf. Es lag ein kleines Stück im Wald, also hatte ich es aus der Entfernung nicht erkennen können. Mehrere Holzhäuser und ein oder zwei aus Stein empfingen mich, als ich mich in langsam näherte. Ich hatte seit mehreren Tagen nichts gegessen und es war reines Glück gewesen, dass ich immer wieder auf Wasser gestoßen war. Sonst wäre ich schon verdurstet – wie lange konnte man ohne Wasser überhaupt überleben? Ich meinte mich daran erinnern zu können, dass mir mein Vater erklärt hatte, dass es höchstens drei Tage sein.
Der Wald in dem dieses Dorf lag war weniger dicht und dunkel als der in dem die Stadt meiner Tante lag.
Würde ich in diesem Ort bleiben können? Würde meine Tante mich hier finden? Wahrscheinlich. Ich war immer noch zu nah. Doch vielleicht könnte ich hier etwas zu essen und zu trinken bekommen, oder sogar einen Platz zum Schlafen – wenn auch nur für eine Nacht.
Man bemerkte mich noch bevor ich den Ort betrat. Ich trug meinen Mantel wieder unter dem Arm und mein Kleid war mittlerweile ziemlich beschmutzt. Ich hörte aufgeregte Stimmen und sah Menschen von rechts nach links und von links nach rechts zwischen den Häusern herumfusseln. Doch niemand kam auf mich zu. Als ich schließlich den ersten Schritt zwischen die Häuser machte, hörte ich wie eine Tür nach der anderen Zuschlug. Fenster wurden geschlossen, Kinder von der Straße in die Häuser geholt. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich der eben noch so lebhafte Ort in eine Geisterstadt.
Verwirrt wanderte ich zwischen den Häusern weiter und sah mich nach Leuten um, die ich um Hilfe bitten konnte. Doch nicht ein Mensch war mehr auf der Straße. Es dauerte mehrere Momente bis ich begriff, dass das an mir lag. Die Menschen versteckten sich vor mir, dem komischen und eigenartigen Mädchen, das, schmutzig und heruntergekommen, einfach in das Dorf marschiert war. Ich war für sie alles, aber kein gutes Omen.
Für ein paar Momente stand ich einfach nur auf dem Weg herum und starrte ins Leere. So viel unbegründete Ablehnung war mir noch nie entgegengeschlagen. In den ersten Sekunden dachte ich, ich würde jeden Moment in Tränen ausbrechen. Doch dann schluckte ich den Schock herunter und verkrampfte meine Hände zu Fäusten. Womit hatte ich gerechnet? Freude über ein Waisenkind mehr, das durchgefüttert werden wollte? Das hier war ab sofort meine Realität und ich würde damit leben müssen.
„Nur ein Brot. Bitte nur ein Brot und ich gehe. Ich flehe Sie an“, rief ich in die Stille des Dorfs hinein. Ich musste seltsam aussehen, wie ich so allein in der Mitte einer verlassenen Straße stand und bettelte. Aber ich sah keine andere Möglichkeit – ich war am verhungern.
Zuerst blieb alles still und ich fing an, mich zu fragen, ob das die schlauste Vorgehensweise gewesen war. Sie könnten doch einfach in ihren Häusern warten, bis ich verschwand. Schon wieder musste ich mir die Frage stellen, was ich eigentlich erwartete. Mitleid? Hatte ich wirklich erst so wenig von der Welt begriffen? Wieder griff die Verzweiflung nach meiner unerfahrenen Seele. Doch das würde ich nicht zulassen. Mit all der Macht, die ich als kleines Kind besaß verdrängte ich alle Gefühle, die ich als Schwäche deutete aus meinen Gedanken und ersetzte sie mit Entschlossenheit.
Mit verschränkten Armen ließ ich mich auf den Boden fallen. Sie konnten in ihren Häusern warten?
Das kann ich auch!, dachte ich. Logisch betrachtet konnte ich genau das eigentlich nicht. Ich hatte keine Zeit zu verlieren. Aber es war mir wichtig.
Ich weiß nicht, wie lang ich damals einfach nur im Schneidersitz mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen auf dem harten, kalten Boden saß und stur blieb.
Doch ich gewann. Irgendwann öffnete sich die Tür eines nahe stehendes Hauses, eine braungebrannte Hand erschien und ein Laib Brot flog in meine Richtung.
Es war ein kleiner Laib, und er landete in dem größten Haufen Matsch in einem Umkreis von 10 Metern. Aber es war Brot, und es war essbar.
Ich stand so schnell auf wie noch nie zuvor. Blitzschnell griffen meine winzigen Hände nach dem Brot. Fahrig wischte ich den Schmutz ab ehe ich meine Zähne in der wahrscheinlich leckersten Mahlzeit meines Lebens versenkte. Doch ehe ich anfangen konnte das Brot richtig zu genießen, war es auch schon verschwunden. Und ich hatte ein Versprechen zu halten.
Ein wenig gesättigt und schwer enttäuscht von der Menschlichkeit stand ich vom Boden auf, wischte mein Kleid ab und ging.
Ich weiß nicht einmal, wie oft sich diese Prozedur wiederholt hat – egal in welches Dorf ich kam, immer mieden mich die Menschen. Aber auf diese Weise überlebte ich.
Und nachdem ich unzählige Orte gesehen, mehrere Wälder durchquert und von mehr als genug Menschen gehasst worden war, erreichte ich endlich mein Zuhause. Den Ort, an dem der alte Mann lebte. Ich hatte allen Glauben an die Menschen verloren – bis ich ihn traf. Durch ihn lernte ich von wahrer Gnade und Güte. Von Menschlichkeit.
Er brachte mir auch bei, dass jeder Mensch Gnade und Güte verdient. Eine zweite Chance, bedingungslose Liebe. Und jetzt war er tot.
Er war ein genialer Heiler gewesen, doch keine seiner noch meiner Medizinen hatte ihn retten können. Natürlich nicht – schließlich war er es gewesen, der mir alles über das Heilen beibrachte. Und seine erste Lektion besagte, dass jeder Mensch einmal stirbt – ein Heiler soll nie versuchen diese Tatsache umzustoßen.
„Habt ihr eigentlich schon gehört, dass der kalte Dämon in Rektol gewesen ist?“, unterbrach eines der Mädchen auf der Brücke meine Gedanken.
Erschrocken zuckte ich zusammen – ich hatte die Welt um mich herum ganz kurz vergessen.
„Ja, es soll einen Riesen-Kampf gegeben haben!“, meinte eines der anderen Mädchen entzückt. Das war Julia, oder zumindest hörte sie sich von der Stimme her genauso an.
Der kalte Dämon…
Ich hatte definitiv schon einmal von ihm gehört – und das, obwohl mich nur selten Klatsch und Tratsch erreichte. Er war angeblich der grausamste Krieger aller Zeiten. Er war bekannt dafür, dass er, bei einem Krieg zweier verfeindeter Länder, im Alleingang hunderte von Feinden getötet hatte. Angeblich kämpfte er ohne jegliche Art von Rüstung und nur mit seinem sehr schmalen Schwert. Aber seine Technik war mittlerweile sogar schon sagenumwoben. Außerdem sollte er höchstens 20 sein – also gar nicht mal soviel älter als ich.
„Er soll gegen Natalion gekämpft haben!“, rief eines der Mädchen begeistert.
Natalion… auch den Namen hatte ich schon einmal gehört. Er hatte im Krieg gegen den kalten Dämon gekämpft. Und war der Einzige, der das überlebt hatte. Er war der Anführer einer Rebellengruppe, die Hikar, eines der am Krieg beteiligten Länder, schon seit Ewigkeiten inoffiziell regierten. Sie waren für den Krieg verantwortlich – also war es im Endeffekt Natalions Schuld. Gewonnen hatte dem Krieg dann doch niemand – eine sinnlose Verschwendung von Menschenleben.
„Neben Rektol ist jetzt ein riesiger Krater. Melene, ihr wisst schon, die eine die von dort kommt, sagt, dass der Kampf echt knapp war – alle Leute haben sich im Wald versteckt und sie beobachtet und sie behaupten, dass der kalte Dämon am Ende einfach verschwunden ist!“, gab eines der Mädchen mit ihrem Wissen an.
„Der kalte Dämon ist Schwertkämpfer, stimmt's? Und Natalion ist ein Magier. Da war doch klar, wer gewinnt! Er hat ihn wahrscheinlich einfach in Luft aufgelöst!“
Ich musste ein Kichern unterdrücken. Dieses Mädchen wusste offensichtlich nicht sehr viel von Magie. Man konnte Magie nicht so einfach benutzen um zu tun, was man wollte. Der alte Mann hatte mir erklärt, dass es für alles eine Formel gab – nur waren die meisten viel zu lang und kompliziert, als dass man sie einfach auswendig lernen könnte. Es sei den man war ein Genie. Für den Kampf waren solche Formeln also natürlich auch nicht wirklich geeignet. Dieser Natalion musste unfassbar intelligent sein.
„Der kalte Dämon hat aber schon oft gegen Natalion gekämpft und nie hat einer den anderen besiegt!“, widersprach Mili.
„Aber er war schwer verletzt. Entweder ist er entkommen oder er ist jetzt tot – aber man kann es auf jeden Fall als Sieg für Natalion verstehen!“
Langsam ließ meine Aufmerksamkeit nach – wirklich, dieses Gesprächsthema interessierte mich nicht. Und ich würde sie auch gar nicht belauschen, hätte ich die Wahl – aber ich konnte nichts dagegen tun, dass sie sich immer auf dieser Brücke trafen, und dass ich meine Medizinen nicht in meinem Schuppen mischen konnte. Aber das funktionierte nun einmal einfach nicht. Ich hatte zu große Angst, dass ich, sollte ich einen Fehler machen, mich selbst vergasen könnte. Dabei hatte ich eigentlich schon sehr lange keinen solchen Fehler mehr gemacht.
Vor mir hatte ich mehrere Schüsseln und Schalen, so wie einige leere und andere mit bestimmten Mixturen gefüllte Fläschchen aufgestellt.
Ich war gerade dabei eine Heilsalbe aus schwarzer Rahnose herzustellen. Sie war sehr effektiv für die Wundheilung – in Verbindung mit einem Schmerzmittel aus Sternfrüchten, Lichtkräutern und Göttinnenkraut konnte damit auch Schwerverletzte heilen. Solche Medikamente auf Vorrat zu haben war eine Grundvoraussetzung für Heiler, auch wenn es im Moment keine Verwendung für sie gab.
„Denkst du eigentlich, wir wissen nicht, dass du kleines Monster uns belauschst?“, durchschnitt auf einmal Eleos Meinung die ruhige Atmosphäre.
Eleo war so was wie das Alpha-Weibchen der Mädchen aus meinem Dorf.
Sie war groß, schwarzhaarig, stolz, schön und die Tochter des Bürgermeisters. Natürlich war sie bei allen beliebt – und genauso natürlich war es, dass sie mich hasste. Genau wie der Rest verabscheute sie mich – nur war diese Generation anders als ihre Eltern, die mich aus Angst abgelehnt hatten. Sie sahen einfach nur auf mich herab – und das gab ihnen genug Grund, mich mit allem was sie hatten fertig zu machen.
„Mischst du schon wieder dein Hexentränke zusammen?“, rief Eleo herunter und die anderen Mädchen lachten.
Natürlich wussten sie, dass es Heiltränke waren und dass ich keine Hexe war. Ein Paar von ihnen hatte ich sogar schon etwas verabreicht, als sie krank gewesen waren. Und würden sie mich ernsthaft für eine Hexe halten, würden sie es nicht wagen, mich zu schikanieren. Aber wahrscheinlich hätten sie mich dann auch schon aus dem Dorf vertrieben.
Stumm blieb ich sitzen. Ich blickte nicht einmal auf. Es war nicht mein Problem, wenn sie das Gefühl hatten, so tun zu müssen als wüssten sie die Wahrheit nicht. Stattdessen zerquetschte ich weiterhin Sternfrüchte und sammelte ihren Saft in einer Schale, in der ich bereits gemahlenes Lichtkraut aufgehäuft hatte – eine mühselige Arbeit, aber glücklicherweise hatte ich es endlich hinter mich gebracht.
„Hörst du mir zu?!“, rief Eleo wütend herab. Ich wusste eigentlich, dass ignorieren nicht di beste Taktik war, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte.
Reagier nicht!, befahl ich mir also selbst. Von oben hörte ich nur ein wütendes Zischen.
Erleichtert atmete ich aus.
Für einen Moment dachte ich, dass ich ihnen dieses Mal entkommen war.
Doch dann machte es „KRACK“ und direkt vor mir schlug ein Stein auf. Er verfehlte mich zwar, aber innerhalb von Sekunden sah ich meine stundenlange Arbeit in Scherben zerbrechen. Ein einziges Klirren und Krachen und überall vor mir rannte Flüssigkeit über den Boden.
Würde ich das Ganze wohl noch mal machen müssen. Am besten ging ich morgen in den Wald, um mir noch etwas Lichtkraut zu holen. Das warme Klima dort bot die perfekten Vorraussetzungen für Lichtkraut. Und Lichtkraut wächst ja bekanntlich immer nur in großen Sträuchern. Von den Sternfrüchten hatte ich noch genug übrig und das Göttinnenkraut hatte ich noch nicht einmal herausgeholt.
Schnell begann ich die heilen Flaschen und noch zu verwendenden Zutaten aus den Trümmern meiner Arbeit zu retten.
Über mir hörte ich nur lautes Lachen über mein hektisches Herumgefussel und die herablassende Bemerkung „Damit sie niemanden vergiften kann“.
Dann zogen sie endlich ab.
Als ich alle nicht zerstörten Flaschen gerettet hatte, setzte ich mich auf und begann damit die traurigen Überreste meiner Heilmittel zu entsorgen. Damit würde ich wohl für den Rest des Tages beschäftigt sein.
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Umzugsprobleme
am Samstag, 5. November 2011, 13:54 im Topic 'Ich und dieser Blog'
Ich denke heut hab ich keine Zeit zum schreiben, aber morgen mach ich wahrscheinlich an "Fernweh" weiter (Gott ich mag diesen Namen nicht - da muss was besseres her). Vielleicht auch noch heute. Eigentlich hab ich ja nichts vor, aber meine Eltern kommen nicht rechtzeitig nach Hause um die Leute, die sich unser Haus ansehen wollen herumzuführen. Wir ziehen nämlich um. Und jetzt ist es mein Job dafür zu sorgen, dass das Haus halbwegs ordentlich ist, mein älterer Bruder wach ist, und meine kleine Schwester das Haus nicht in die Luft jägt. Wieso muss ich das überhaupt machen? Eigentlich ist mein Bruder ja 16 und damit älter als ich, und trotzdem muss ich mich um sowas kümmern -.-
Aber danach mach ich mir nen gemütlichen Abend. Nur kein Stress :)
Aber danach mach ich mir nen gemütlichen Abend. Nur kein Stress :)
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Fernweh - Kapitel 2
am Samstag, 5. November 2011, 03:54 im Topic 'Fernweh'
Sera erwachte am nächsten Morgen als Erste – wie üblich. Sie stand auf, zog sich um und verließ leise den Raum. Dann steuerte sie auf die Bäder zu, in denen sie sich um ihre Haare kümmerte und sich erneut duschte.
Danach ging sie in Hauptgebäude. Im Gegensatz zum Wohnhaus der Novizen war dieses Gebäude riesig und aus kaltem Stein. Die Gänge waren verzwickt, aber Sera fand sich mittlerweile zurecht, so dass sie ohne irgendwelche Probleme in die Mensa gelangte, in der schon das Frühstück serviert wurde. Es war ein großer Raum mit einer hohen Decke und vielen Tischen, die allesamt mit weißen Tischtüchern bedeckt waren. Überall fusselten Diener herum, die Tische deckten, Zutaten in die Küche brachten oder auch Speisen auftischten.
„Sera!“, rief eine weibliche Stimme links von Sera.
Sie wandte den Kopf in die Richtung erblickte Rose, eine Dienerin, die ihr wie wild zu winkte und vor einem freien Tisch stand.
„Rose! Guten Morgen“, sagte Sera und ging auf sie zu. Sera hatte nicht viele Freunde unter den Schülern. Für sie war sie nur das Gossen-Kind. Doch mit den Dienern verstand sie sich gut. Für sie war sie eine Heldin, die zeigte, dass auch Leute aus ärmeren Verhältnissen es weit bringen konnten. Sera gefiel das nicht wirklich und sie hatte versucht den Dienern zu erklären, dass das nichts mit Heldentum zu tun hatte, doch sie hatten ihr nicht zugehört.
Rose hatte sich deswegen mit der Zeit zu Seras bester Freundin gemausert. Sie war ein gutherziges Mädchen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, das sogar im simplen Dienstmädchenkostüm gut aussah. Vom Charakter her war sie aber eher schüchtern und traute sich vieles nicht. So hatte sie zum Beispiel Probleme damit, mit anderen Novizen als mit Sera zu sprechen, da sie immer rot anlief und anfing zu stammeln. Wenn jemand Sera gefragt hätte, wer den Titel einer Prinzessin verdiente, hätte sie mit Rose geantwortet. Sie musste dieses einfache, schüchterne und rein Mädchen um jeden Preis von Menschen wie Riven fernhalten.
„Setz dich Sera, heute hab ich was besonderes für dich!“, befahl ihr Rose und drückte sie auf einen Stuhl.
Verwundert blickte Sera sie an – was konnte sie nur meinen?
Rose lief schnell weg und Sera fragte sich, was sie jetzt wohl vorhatte.
Na ja, was konnte Sera jetzt schon großartig machen? Seufzend schenkte sie sich ein glas Wasser ein und betrachtete den reichlich gedeckten Tisch. Silberwaren, -Löffel und -Gabeln, Teller und Schüsseln aus Porzellan und mehrere Blumenvasen mit Pflanzen, die Sera nicht einmal kannte.
Wie verschwenderisch das doch alles war! Wieso musste hier alles so edel sein? Man hätte so viel Geld sparen können, hätte man sich allein schon mit normalen Blumen begnügt, nicht an das Porzellan und Silber zu denken! Man hätte mit diesem Geld so vielen Menschen helfen können – und was tat man damit? Man ermöglichte den Kindern der Reichen ein sinnlos luxuriöses Leben, nur damit sie sich wohl fühlten.
Während Sera so darüber nachdachte, wie viele Menschenleben diese Gabel in ihrer Hand wohl retten hätte können, kam Rose zurück.
„Schau! Das hab ich selbst gemacht, nur für dich!“, rief sie begeistert und hob den Deckel von dem Tablett, das sie gerade trug.
Dort thronte ein unglaublich lecker aussehender Pudding mit Schokosoße oben drauf.
„Danke!“, rief Sera erfreut aus. Sie hatte nicht viele Schwächen, aber eine Sache zählte um jeden Preis zu ihnen – Süßigkeiten.
„Danke, Rose, du bist die Beste!“, sagte Sera erneut, nachdem Rose den Pudding vor ihr abgestellt hatte und sie einen Bissen genommen hatte.
Rose lächelte sie strahlend an: „Ach, keine große Sache! Aber ich muss jetzt wieder weg. Genieß den Pudding!“
Mit diesen Worten ging Rose in dem Meer aus Dienern unter, während Sera mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdruck ihr Essen genoss.
„Hat schon wieder die Diener bestochen!“, hörte sie ein nicht sehr gut verdecktes Tuscheln neben sich.
Am Tisch links von Sera saß eine Gruppe Schüler die sie mit verächtlichen Blicken bedachten und sich über sie lustig machten. Sera war einfach schon immer das in eine reiche Familie adoptierte Gossen-Kind. Und ihre gute Beziehung zu den Dienern machte das Ganze nicht besser. Und seitdem ihre Adoptiv-Mutter schwer krank geworden war, gingen umso mehr Gerüchte um.
„Hat ihre Adoptivmutter krank gemacht, obwohl sie so gütig ihr gegenüber war!“, sagten die Leute.
Sera war von Madam Alore, einer reichen Frau, adoptiert worden, kurz nachdem ihr Mann verstorben war. Sie hatte Sera auf der Straße gefunden, wie sie mit sich selbst darüber gestritten hatte, ob sie einen Apfel stehlen sollte. Sie hatte damals kurz vor dem Hungertod gestanden, und dennoch hatte sie sich im Endeffekt nicht durchringen können, gegen ihre eigenen Moralvorstellungen zu verstoßen. Nachdem Madam Alore das gesehen hatte, beschloss sie, Sera aufzunehmen und sie in die Schule zu stecken.
Sera war ihr unendlich dankbar für alles was sie für sie getan hatte und seitdem sie im Heilerhaus lag, kam Sera sie so oft besuchen, wie sie es nur konnte.
Aber das interessierte die Leute nicht. Sie sahen Sera nur als kleinen, schmutzigen Virus der die angesehene Geschäftsfrau Madam Alore vergiftet hatte.
Hätte Madam Alore davon gehört, hätte sie wahrscheinlich allen, die das behaupteten, eine Ohrfeige verpasst, doch die Gerüchte erreichten sie nicht und Sera ließ das Ganze einfach über sich ergehen.
Seufzend erhob sich Sera. Ihr war der Appetit vergangen. Genervt verließ sie die Mensa und ging durch die großen, steinernen Flure auf ihr Klassenzimmer zu. Der Unterricht würde bald beginnen.
Als Sera das Klassenzimmer betrat hoben sich die Köpfe aller Schüler, die schon anwesend waren, wie von selbst an und senkten sich automatisch wieder, als sie erkannten, wer da gekommen war.
Der Raum war weiß gestrichen und hatte lauter Stühle und Tische in sich verteilt, die auf die Tafel und das Lehrerpult ausgerichtet waren.
Seufzend nahm Sera ihren Platz in der Letzten Reihe ein. Neben ihr saß niemand.
Bis der Unterricht begann würden die meisten Schüler noch auf den Tischen und Stühlen sitzen und sich ausgelassen über alles Mögliche unterhalten, von dem – zumindest nach Seras Meinung – wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte wahr war. Die Jungen gaben ununterbrochen ihre Geschichten von irgendwelchen Mädchen zum Besten, die sich erstunken und erlogen anhörten – wie pubertierende kleine Kinder. Die Mädchen dagegen kicherten und kreischten, während sie hinter dem Rücken der anderen übereinander lästerten und vorne so taten, als wären sie beste Freunde. Das Alles war für Sera viel zu hinterhältig um mitzukommen – und die wenigen Mädchen, die begriffen, dass es falsch war, sich so zu verhalten, maulten und meckerten nur deswegen rum, machten aber dennoch mit ohne irgendetwas zu unternehmen. Heuchler.
Plötzliche verstummte der ganze Raum. Sera blickte auf – da war Meister Conites. Er betrat den Raum und alle standen auf der Stelle auf und sagten zusammen: „Guten Morgen, Meister Conites!“
„Setzt euch“, gab er zur Antwort und alle ließen sich auf ihre Hintern plumpsen.
„Heute wird unserem Unterricht ein Schüler der „Akademie“ einer anderen magischen Schule, die sehr gute Verbindungen zu der unseren hat, beiwohnen. Er ist, obwohl er so alt ist wie ihr, schon ein vollständig ausgebildeter Magier, da in seiner Familie große Kräfte, die sich schon früher entwickeln, weitergegeben werden. Er ist zu Besuch an unserer Schule, da er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat und nimmt nur am Unterricht teil, da dies sein eigener Wunsch war. Also verhaltet euch ihm gegenüber angemessen!“, befahl Meister Conites.
Oh Gott, bitte nicht, dachte Sera und blickte wie alle anderen Schüler in Richtung Tür.
„Dies ist Lord Riven Nalishian“, stellte Conites Riven, der unterdessen durch die Tür geschritten war, vor.
„Hallo. Ich bin erfreut, euch kennen zu lernen“, sagte Riven und schenkte der Klasse ein Lächeln, das sich stark von dem vom Vortag unterschied. Es war falsch – das merkte Sera sofort.
Sie merkte auch, dass ein begeistertes Raunen durch die Reihen der Mädchen lief – war er wirklich so gut aussehend?
Sie betrachtete ihn noch einmal eingehend – sicher, diese Augen schienen einen magisch Bann auszustrahlen, und sein Haare weckten in ihr den Wunsch, sie zu verwuscheln, aber sie hatte sich nie groß um äußerliche Werte gekümmert, weswegen sie seine Attraktivität auch jetzt kalt ließ.
„Setzt euch, wohin ihr wollt, Lord Nalishian“, sagte Conites unterwürfig und Riven nickte ihm zu.
Dann schritt er bestimmt durch die Reihen aus Tischen und ließ sich neben Sera fallen.
Sie hatte das Gefühl als würden sie hunderte von Blicken durchbohren. Es waren so viele Plätze frei und Riven suchte sich ausgerechnet den neben ihr aus – da konnte sich jeder irgendetwas denken. Verschämt senkte Sera den Kopf und hoffte, dass sich die anderen bald abwenden würden. Das taten sie auch, denn sobald Riven sich gesetzt hatte, begann Conites den Unterricht und alle mussten aufpassen.
Das hätte Sera auch gerne getan, nur verhinderte Riven das sehr geschickt.
„Guten Morgen, Prinzessin“, flüsterte er ihr ins Ohr, nachdem er sich zu ihr herübergebeugt hatte.
Mit der linken Hand packte Sera ihn am Kinn und drückte ihn von sich weg, doch er entging ihrem Griff geschickt und nahm stattdessen ihre Hand in seine.
„Du kommst also von einer anderen Schule?“, fragte Sera ihn. Gegen dieses „Prinzessin“ konnte sie wohl nichts mehr tun.
„Ja, das tue ich. Und ich bin wegen den Zwillingen hier, wenn es Euch interessiert“, sagte Riven und führte Seras Hand, mit der sie ihn bisher weggedrückt hatte, einfach zur Seite um sich ihr wieder zu nähern.
Sera konnte es nicht mehr ertragen – sie lief so rot an wie eine Tomate und versuchte ihren Kopf abzuwenden.
„Warum seht Ihr mich nicht an, Prinzessin?“, fragte Riven.
Sera fiel keine passende Antwort ein.
„Hör auf mit dem „Ihr“! Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann duz mich wenigstens – ich fühle mich unwohl!“, sagte sie stattdessen um das Thema zu wechseln. Vielleicht würde er so auch aufhören, sie Prinzessin zu nennen.
„Wie du wünschst, Prinzessin!“, gab er nur zur Antwort und lächelte – aber dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln. Sera widerstand dem verlangen zurück zu lächeln – warum machte es sie so verdammt glücklich, dass er aufrichtig lächelte?
„Seraphina, passt du auf?!“, rief Conites nach hinten, als er bemerkte, dass Sera die Tafel nicht einmal ansah.
„Ah, verzeihen Sie Meister Conites!“, antwortete Sera überrascht. Sie hatte vergessen, dass sie sich im Unterricht befand.
„Oh, was ich beinahe vergessen hätte: Seraphina geh bitte nach dem Unterricht zum Büro des Direktors“, fiel es Conites plötzlich wieder ein und er drehte sich einfach wieder zur Tafel um – er war im Moment wirklich zerstreut.
Sera wurde blass. Sie hatte doch nach dem Unterricht ihre Mutter besuchen wollen. Oder wollte ihr der Direktor vielleicht etwas über ihre Mutter sagen? Es konnte unmöglich um ihr Training gehen – der Direktor hatte sie deswegen noch nie in sein Büro gerufen. Um es genau zu nehmen, war sie überhaupt noch nie auch nur dort gewesen. Was war mit ihrer Mutter? Sie war doch nicht etwa gestorben? Oder ging es um etwas anderes… ihr fiel nichts ein, außer die Möglichkeit, dass ihre Mutter gestorben war und ihr jetzt mitgeteilt werden würde, dass sie aus der Schule fliegen würde, da niemand mehr ihre Ausbildung bezahlen würde und man ihre Kräfte versiegeln müsste.
Leichenblass blickte Sera auf den Tisch. Das musste es sein.
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie musste schniefen um sie zurück zu halten.
Plötzlich aber wischte eine andere Hand als ihre ihr die Tränen aus den Augen und ein warmer Arm legte sich um ihren Rücken.
„Weine nicht, Prinzessin. Es ist nicht so, wie du denkst. Es gibt keinen Grund so traurig sein“, flüsterte ihr Riven zu.
Sera blickte auf und sah direkt in seine warmen Augen.
Woher kam dieses plötzliche Verlangen, sich an seine Brust zu werfen und erbarmungslos zu weinen? Ganz egal, Sera widerstand auch dem und wischte sich die anstauenden Tränen selbst aus den Augen.
„Was redest du? Wer weint hier?“, sagte sie so überlegen wie nur möglich und Riven musste kichern.
„Schon gut, Prinzessin“, gab er zur Antwort und wandte sich lächelnd ab.
Auch Sera wandte sich nach vorne. Wieso hatten Rivens Worte es tatsächlich geschafft, dass sie nicht weinte? Wieso vertraute sie ihm? Aber er hatte Recht – es konnte alles Mögliche sein! Es musste nicht einmal um ihre Mutter gehen!
Mit diesem Gedanken ertrug Sera den Rest des stinklangweiligen Unterrichtes und zu ihrer Freude näherte Riven sich ihr nicht mehr unerwünscht.
Als der Unterricht dann endlich vorbei war und Conites alle Schüler entließ stürzte Sera gerade zu auf dem Klassenzimmer und rannte in Richtung des Büros des Direktors.
Es lag am Höchsten Punkt der ganzen Schule und Sera musste Treppe um Treppe nach oben rennen, um sich dem Büro auch nur zu nähern.
Als sie schließlich ganz oben ankam, bog sie nur noch ein paar Mal ab, bis sie vor einer überdimensionalen Tür stand, deren goldene Griffe die Form von Engeln hatten.
Seufzend holte sie noch einmal Luft, um sich innerlich auf das vorzubereiten, was sie jetzt erwartete.
Schließlich klopfte sie an.
„Herein!“, tönte ihr die Stimme des Direktors entgegen und sie öffnete die Tür.
Das Büro war ein sechseckiger Raum, der eine Wand, um es genau zunehmen die am der Tür gegenüberliegenden Ende, besaß, die nur aus Fenstern bestand. Vor eben dieser Wand stand der Schreibtisch des Direktors, der erstaunlich sauber und ordentlich war – statt den Papierstapeln, die ich erwartet hatte, thronten hier nur ordentlich aufgeräumte Stifte, Schreibfedern und Tintenfässer.
Vor diesem Schreibtisch standen mehrere Stühle. Und hinter dem Schreibtisch stand ein einziger, großer Stuhl aus Ebenholz. Auf ihm saß, in seiner schwarzen Robe der Direktor.
Was Sera aber viel mehr verwunderte, waren die Leute, die auf zweien der Stühle vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte. Conites und Riven. Wie waren die beiden so schnell hierher gekommen? Wahrscheinlich gab es irgendeine Abkürzung.
Als Riven seinen Kopf zu ihr wandte und sie anlächelte war es ihr regelrecht peinlich, dass sie nicht mit ihnen mitgegangen war und sie lief – schon wieder – rot an.
„Sera! Schön, dass du da bist, ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen!“, rief Sera der Direktor mit seiner tiefen und freundlich Stimme zu, „Setz dich doch!“
„Ja, Direktor Ralion“, gab Sera brav zur Antwort und setzte sich auf den Stuhl neben Riven, da er als einziger frei war.
„Was wollten sie mir denn nun wichtiges erzählen?“, fragte Sera, nachdem sie saß.
„Also, zu erst einmal Sera: Es tut mir leid, dass ich dich davon abhalte, deine Mutter zu besuchen, natürlich kannst du gehen, sobald wir hier fertig sind“, entschuldigte sich der Direktor bei Sera.
Oh Gott sei Dank, war alles, das Sera in dieser Sekunde dachte.
Es ging nicht um ihre Mutter. Sie lebte noch. Aber weswegen war sie dann hier?
„Sera, du bist heute hier, weil du eine wichtige Entscheidung treffen musst. Und das schon bis morgen“, erklärte der Direktor mit ernster Stimme und Sera musste schlucken. Was für eine Entscheidung er wohl meinte?
Riven neben ihr lächelte sie verständnisvoll an, während sie ihren Blick starr auf den Direktor gerichtet hielt.
„Zu erst einmal – du weißt wer Riven hier ist, oder?“, fragte der Direktor und sah Riven an, der plötzlich wieder ernst wirkte.
„Er hält den Titel „Lord Nalishian“ inne und kommt von der „Akademie“, einer anderen magischen Schule. Er ist nur zu Besuch hier und hatte irgendeine wichtige Aufgabe zu erfüllen“, spulte Sera automatisch die Informationen, die sie von Conites erhalten hatte herunter, hängte aber noch etwas daran, „Außerdem sagt er, er sei der Bodyguard von Kanon und Karm, zwei Zwillingen.“
Der Direktor fing lauthals an zu lachen.
„Ja, das passt zu dir, dich so zu beschreiben, Riven!“, brüllte er regelrecht und Riven antwortete mit diesem ekelhaften falschen Lächeln.
„Ich fand es erklärte die Situation recht angemessen.“
Jetzt hörte der Direktor auf zu lachen und sah wieder ernst in die Runde.
„Weißt du, wer Kanon und Karm sind?“, fragte er Sera jetzt.
„Nein“, antwortete sie ehrlich.
„Kanon und Karm sind meine Söhne“, sagte der Direktor todernst.
Seine Söhne?! Sera konnte es nicht glauben – sie hatte immer gedacht, der Direktor wäre kinderlos. Obwohl – eigentlich hatte er sehr väterliche Eigenschaften, so verständnisvoll und fürsorglich wie er war.
„Dann muss sich also Riven um ihre Söhne kümmern… Wieso eigentlich? Er ist doch ein Lord, wieso muss er den Babysitter spielen?“, fragte Sera, zugegebener maßen etwas unhöflich, doch der Direktor fing bei dieser Ausdrucksweise nur wieder an zu lachen.
Hallend schallte sein „Haha!“ von den mit Bücherregalen bedeckten Wänden des Büros wieder.
Auch Rivens Mundwinkel zuckten, und als Sera das sah, lief sie erneut rot an – war das wirklich so lächerlich gewesen?
Zumindest lachte Conites nicht. Er blickte als einziger ziemlich genervt in die Runde, als könnte er dieses ganze Theater nicht mehr ertragen.
Als sich der Direktor schließlich wieder gefangen hatte und sich die Tränen aus den Augen wischen musste, war Sera puderrot und wünschte sich aus tiefstem Herzen, im Boden zu versinken.
„Sera, hast du schon mal vom „Begrüßungslauf“ gehört?“, fragte der Direktor sie schließlich.
„Nein“, antwortete sie.
Langsam hatte Sera genug – warum stellte der Direktor nur Fragen, anstatt ihr endlich zu erklären, was sie hier sollte?
„Weißt du, wie der nächste Direktor bestimmt wird?“, wollte der Direktor feststellen, wie viel Sera wusste.
„Nein.“
„Gut. Dann habe ich dir viel zu erklären“, meinte der Direktor grinsend und Sera seufzte erleichtert.
„Der Direktor wird nach Abstammung bestimmt – das heißt, dass mein direkter ältester Nachfahre der nächste Direktor werden wird. Allerdings sind meine ältesten direkten Nachfahren Zwillinge, also gleich alt. Verstehst du, was ich meine“, versicherte sich der Direktor noch einmal.
„Ja, ich denke schon. Irgendwie muss jetzt entschieden werden, wer der nächste Direktor wird“, antwortete Sera nachdenklich. Bis hierhin wusste sie allerdings noch immer nicht, was sie denn mit der ganzen Sache zu tun hatte.
„Und um zum Begrüßungslauf zu kommen: Als 5-Jähriger muss jeder zukünftige Direktor, ohne den amtierenden Direktor natürlich, auf eine Reise gehen um alle Rassen und Völker dieser Welt zu besuchen, sich vorzustellen und ihre Zustimmung für seine Übernahme des Postens zu erhalten. Die Zwillinge sind vor wenigen Tagen 5 geworden, und der Streit darum, wer jetzt Direktor werden soll, ist endgültig zwischen vielen Königen, Herrschern und reichen Bürgern entbrannt. Um einen Krieg, der sich zweifellos anbahnt, da die Schule Schüler aus jedem Land hat und es folglich jeden etwas angeht, zu vermeiden haben ich und meine Frau beschlossen, beide auf die Reise zu schicken, wobei der Begrüßungslauf zu einer Art Abstimmung werden soll – jede Reisestation hat eine Stimme, die sie entweder für Kanon oder Karm einsetzen müssen. Enthaltungen gibt es nicht. Begreifst du?“, fragte der Direktor Sera so ernst, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
„Ja und – es tut mir leid wenn sie mich jetzt für unverschämt halten – es tut mir leid. Es tut mir so leid für sie“, sagte Sera und versuchte ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, „es muss unendlich schwer sein, seine 5-Jährigen Kinder auf eine Reise zu schicken, auf der man sie nicht begleiten kann. Geschweige denn, das selbst als Kind ertragen zu müssen. Ich wusste nie, dass das Amt des Direktors solchen Horror mit sich bringt.“
Sera kümmerte sich nicht darum, dass sie den angesehensten Posten der Welt gerade beschimpft hatte – sie merkte es nicht einmal. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Allein die Vorstellung daran, wie sich der Direktor fühlen musste versetzte ihr einen Stich ins Herz.
Als ihr dann der Gedanke an den armen Kanon und Karm kam, war Sera den Tränen nahe.
Melancholisch lächelte Riven sie an und schien einerseits genauso traurig wie sie und andererseits sehr zufrieden zu sein.
Auch der Direktor bedachte Sera mit einem traurigen Lächeln.
„Wie von dir erwartet“, murmelte er, allerdings hörte ihn Sera nicht.
Stattdessen schluckte sie ihre Tränen herunter und sah den Direktor ernst an. Sie wollte, dass er seine Erklärung beendete, und er verstand.
„Natürlich kann man 5-Jährige nicht allein auf eine solche Reise schicken, denn du weist bestimmt wie gefährlich die Welt da draußen für kleine Magier ist. Und deswegen begleitet sie jedes Mal einige Personen dazu gehört immer ein Abkömmling der Familie Nalishian. Weist du was an ihrer Familie so besonders?“, stellte der Direktor schon wieder eine Frage.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Sera und warf Riven einen Blick zu – dass sie Perverse sind, vielleicht?
„Das kann dir dann wahrscheinlich Riven hier am Besten erklären“, meinte der Direktor und überlies Riven mit einer Handbewegung das Wort.
Riven lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann grinste er Sera an: „Nun ja, Prinzessin, meine Familie ist eine Mischungen. Niemand weiß genau in welcher Reihenfolge, ob es Absicht war oder reine Zufälle, aber über Generationen hinweg ist zu meiner Familie aus jeder Art und Rasse mindestens einer hinzu gekommen – zu meinen Vorfahren gehören Zwerge, Riesen, Feen, Elfen, Kobolde, Trolle, Mare, Vampire, Wolfsmenschen und natürlich Menschen. Deswegen gilt unsere Familie als besonders und wird oft dazu gezwungen, an irgendwelchen Zeremonien teilzunehmen, als Zeichen für die Freundschaft zwischen allen Völkern. Der Begrüßungslauf gehört dazu. Und da außerdem sowohl von der „Akademie“ als auch von der „Schule“ ein Abgesandter als Begleitung beim Begrüßungslauf dienen muss, wurde dieses Mal einfach ich als beides benutzt – Abkömmling der Nalishians und Schüler der „Akademie“.“
Er war… kein Mensch? Sera wurde klar, dass sie ihn die ganze Zeit über für einen Menschen gehalten hatte. Er hatte aber auch keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas anderem.
„Ah, deshalb kann ich deine Präsenz nicht spüren!“, rief Sera plötzlich erfreut aus und schlug mit der rechten Faust in ihre linke geöffnete Hand, „Weil du einer mir fremden Rasse angehörst!“
Endlich verstand Sera etwas!
Alle blickten sie verwundert an – Sera hatte noch nie mit jemanden über ihre Fähigkeit gesprochen, weswegen weder ihr Lehrer noch der Direktor darüber Bescheid wussten. Riven lächelte entspannt – ob er alles verstand? Nein. Da war noch etwas anderes in seinem Blick – Erleichterung?
„Was meinst du, Seraphina?“, fragte Conites verwundert.
Verschämt rieb sich Sera den Hinterkopf und versuchte sich möglichst in ihrem Stuhl zu verstecken, als sowohl der Direktor als auch Conites sie mit wachsamen Blicken musterten.
„Na ja, ich spüre die Präsenzen von den Menschen um mich herum. Es hat schon immer funktioniert, auch bei Feen und Zwergen. Andere Rassen habe ich noch nicht getroffen. Aber bei Riven hat es nicht geklappt, was mich sehr gewundert hat“, erklärte sie möglichst schnell und unkompliziert.
Der Direktor musterte sie mit einem ernsten Blick: „Wieso denkst du, dass es an seiner Rasse liegen könnte?“
„Weil es genauso war, als ich zum ersten Mal Zwerge und Feen traf. Ich konnte sie erst nach längerer Zeit spüren, aber dann konnte ich jeden ihrer Rasse spüren“, berichtete sie, „Ist das so außergewöhnlich?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe es nur noch nie bei einem Schüler erlebt“, meinte der Direktor nachdenklich und rieb sich am Kinn.
„Aber es kann schon vorkommen, oder?“, warf Conites ein und der Direktor nickte.
„Ähm… könnten wir dann wieder zum Thema kommen? Ich verstehe nämlich immer noch nicht, was ich mit der ganzen Geschichte zu tun habe“, wollte Sera schnell wieder zum eigentlichen Gespräch zurückkehren. Sie vertrug diese seltsame Stimmung nicht.
„Um es kurz zu machen – ich will dich bitten, als Abgesandte unserer Schule mit auf den Begrüßungslauf zu gehen“, erklärte der Direktor, jetzt wieder ganz ruhig.
„Mi- Mich?“, stammelte Sera überrascht. Wieso denn sie?
„Einerseits haben sowohl Kanon und Karm als auch Riven um dich gebeten und andererseits bist du eine exzellente Schülerin mit überdurchschnittlicher Begabung“, erklärte der Direktor.
„Wie lange dauert dieser Begrüßungslauf in etwa?“, fragte Sera todernst.
„Jahre. In meinem Fall waren es 5, aber man kann es zuvor nie wissen“, erklärte der Direktor genauso ernst, „schließlich muss man in jedem Ort für mehrere Monate bleiben, damit das Volk einen Eindruck des Anwärters bekommen kann und die Reisedauer ist auch nicht zu unterschätzen. Außerdem gibt es viele Reiseziele, die besucht werden müssen.“
Sera wurde blass – was sollte sie tun?
„Wer wird die Zwillinge noch begleiten?“, fragte sie.
„Nur ein paar Diener, die allerdings dieses Mal allesamt von der „Akademie“ zur Verfügung gestellt werden. Du kennst sie also nicht. Und der Hauptmann der königlichen Garde von Kisapei, zusammen mit einigen seiner Männer“, antwortete der Direktor.
Nachdem er diesen Satz beendet hatte, wurde Sera klar, dass sie die Wahl hatte – entweder sie ließ ihre Mutter für mehrere Jahre im Stich, oder aber sie ließ die Zwillinge alleine mit Riven, einem Soldaten und einem ihrer Mitschüler.
Als der Direktor sah, wie jede Farbe aus Seras Gesicht wich, hob er beschwichtigend die Hände.
„Du hast noch Zeit deine Entscheidung zu treffen – bis morgen. Komm bei Unterrichtsbeginn wieder hierher und teile mir deine Entscheidung mit. Wenn du dich dafür entscheidest mitzugehen war heute dein letzter Schultag hier. Bleibst du hier, fällt der unterricht für dich morgen dennoch aus“, erklärte er Sera und sah ihr in die Augen, „Ich kann verstehen, wenn du nicht willst.“
„Kann ich gehen?“, fragte Sera. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte keinerlei Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
„Ja. Geh ruhig“, antwortete der Direktor und wandte sich dann an Riven und Conites: „Ihr könnt auch gehen.“
Bis auf den Direktor, der begann in einer Schreibtischschublade nach etwas zu suchen, erhoben sich alle und verließen den Raum.
Sera wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Die Welt schien Kopf zu stehen.
„Prinzessin?“, fragte Riven neben ihr plötzlich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Conites schon gegangen war und sie sich unbewusst gegen die Wand des Flures gelehnt hatte.
„Ich… weiß nicht was ich tun soll“, murmelte sie ihm verzweifelt zu. Wen kümmerte es, ob er ein Verrückter war? Bis jetzt hatte er ihr eigentlich nichts getan, außer sie in peinliche Situationen zu bringen.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte er und lehnte sich zu ihr hinüber, „aber du würdest mich sehr glücklich machen, wenn du mitkommen würdest.“
Wieder lief Sera rot an – in Rivens Gegenwart schien sie fast nichts anderes zu tun.
„Das hilft mir nicht!“, schrie die ihn auf einmal an, verpasste ihm einen gut gezielten Tritt in die Magengegend, durch den er an die gegenüberliegende Wand des Flures geschleudert wurde und rannte. Sie rannte so schnell wie sie noch nie gerannt war – und Sera war oft gerannt. Immer schneller zwang sie ihre Beine nach vorne. Sie wollte hier nur raus.
Sie stürmte aus dem Hauptgebäude und rannte ohne zu zögern über die Wege an mehreren Schülern und Magiern vorbei, die ihr verwunderte und missbilligende Blicke hinterher warfen, was Sera aber kalt ließ. Sie galoppierte gerade zu durch das Tor hinaus auf die Straße, stürzte durch die Straßen dieser so elend reichen Stadt, bis sie schließlich keuchend und erschöpft vor einem großen, weißen Gebäude um dass sich eine Mauer schlang und Platz für ein Stückchen Rasen im Vor und Hinterhof bot, stehen blieb. Das Heilerhaus.
Mit langsamen Schritt betrat sie das Haus und kam in eine mit Fließen ausgelegte Vorhalle, in der eine Empfangsdame hinter einem kleinen Tisch saß und ziemlich gelangweilt aussah.
Doch Sera sprach die – wie sie wusste – unhöfliche Frau gar nicht erst an. Sie ging an ihr vorbei den Flur entlang, zwei Mal die Treppen hoch und schließlich bog sie um ein paar Ecken bis sie davor stand. Vor dem Zimmer ihrer Mutter. Die Flure waren allesamt weiß gestrichen und die Tür, vor der Sera stand, war es auch.
Immer noch verwirrt, aber entschlossen ihre Mutter zu besuchen, klopfte sie endlich an.
„Herein!“, ertönte die, sogar in diesem geschwächten Zustand, noch immer herrische Stimme ihrer Mutter.
„Mutter“, sagte Sera während sie die Tür öffnete. Dort lag ihre Mutter. Sie war so schmal und mager wie immer und ihre dunkelbraunen Haare stachen auf dem schneeweißen Bettlaken stark hervor und ließen auch ihre Haut blasser wirken, als sie es in Wirklichkeit war. Bielleicht war sie auch wirklich so blass. Seitdem sie krank geworden war hatte sich soviel verändert.
Sera schloss die Tür hinter sich und blickte in die strengen Augen ihrer Mutter, fühlte ihre schwache aber immer noch ausstrahlende Präsenz.
„Was is…“, setzte Seras Mutter zu einer Frage an als Sera in Tränen ausbrach.
Schreiend und weinen warf sie sich auf das Bett ihrer Mutter und ging davor in die Knie, so dass nur noch ihre Kopf, den sie auf ihre verschränkten Arme gelegt hatte auf dem Bett lag.
„Was ist?“, beendete Seras Mutter ihren Satz und tätschelte Sera liebevoll den Kopf, „Komm schon, sag es mir.“
Und so fing Sera, in Tränen aufgelöst und unter hunderten von Schluchzern an von bemitleidenswerten Zwillingen, dem Begrüßungslauf, einem perversen Riven, einer Prinzessin, einer jahrelangen Reise und allen möglichen Rassen zu erzählen.
Es war erstaunlich, dass ihr Mutter überhaupt in der Lage war ein einziges Wort von Seras Geschluchze zu verstehen, aber sie begriff sogar was Sera eigentlich versuchte zu sagen.
Als sie endlich verstand blickte sie Sera mit geweiteten Augen an, nahm ihre linke Hand in die Höhe und schlug Sera mit der Faust direkt auf den Kopf. Sera schrie auf und hielt sich den Kopf, aber sie blickte auch auf und ihre Tränen stoppten für kurze Zeit.
„Was für ein dummes Kind du doch bist!“, beschwerte sich ihre Mutter lauthals bei Sera, „Das ist kein Grund zu weinen, das ist ein Grund einen Freudentanz aufzuführen!“
„Aber…aber, dann muss ich dich zurücklassen!“, schniefte Sera und wischte sich das Gesicht.
„Na und?! Meine Zeit ist sowieso vorbei! Begreifst du nicht?! Ich habe höchstens noch ein paar Wochen zu leben! Du wirst mich so oder so bald nicht mehr sehen können!“, schrie ihre Mutter.
Sera hätte gern eine Antwort gegeben, aber ihre Mutter kam ihr zuvor.
„Mein Leben ist vorbei! Ich habe es gelebt! Ich habe fremde Länder bereist, war die kälteste Geschäftsfrau der Welt, habe geliebt, geheiratet, getrauert, verloren, gelitten, gefreut, gestritten, entschieden, bereut, verwünscht! Aber du – du hast dein Leben nie gelebt! Immer tust du nur, was andere wollen! Tu das, was DU willst! Sei du selbst! Mache Reisen, lerne fremde Wesen kennen, entdecke die Welt! Finde heraus, was Liebe ist, von mir aus auch mit diesem Riven! Geh da raus und fang endlich an! Auch du hast nicht ewig Zeit! Eines Tages wirst du sterben, und ich möchte nicht, dass du an diesem Tag auch nur eine einzige deiner Entscheidungen bereust! Meine Zeit ist vorbei – schau du nach vorne und nicht zurück! Werde glücklich!“, schrie sie sie an und Sera stiegen wieder die Tränen in die Augen.
„Wein jetzt nicht! Du hast in deinem Leben mehr als genug Tränen verschüttet! Glaube mir, ich werde sterben, und daran gibt es keinen Zweifel! Mach dir keine falschen Hoffnungen, die dich nur noch mehr zum weinen bringen werden! Und wenn ich erst einmal tot und im Himmel bin, dann werde ich deiner verantwortungslosen Mutter sagen, was für ein großartiges Mädchen ihre Tochter doch ist!“, machte Seras Mutter immer weiter.
„Mutter…“, flüsterte Sera. Dann stand sie auf und umarmte ihre noch im Bett liegende Mutter. Bis dahin hatte die Frau nur geschrien und Sera Anweisungen erteilt, doch kaum legten sich Seras Arme um sie, brach auch sie in Tränen aus. Und so weinten sie gemeinsam, während sie sich in den Armen lagen.
Als Sera schließlich all ihre Tränen geweint hatte und keine neuen mehr nachkommen wollten, fasste sie einen Entschluss.
„Mutter, ich werde auf diese Reise gehen“, sagte sie bestimmt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht, während sie begann den Raum rückwärts zu verlassen, „und ich werde leben. Ich verspreche es dir.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, unterstützte ihre Mutter sie, „Zeig es ihnen allen!“
Mit diesen Worten riss sie ihre Faust in die Luft um Sera anzufeuern.
Sera antworte mit der gleichen Geste: „Das werde ich. Auf Wiedersehen Mutter!“
Mit diesen Worten war sie an der Zimmertür angekommen und öffnete sie.
„Leb wohl, meine Tochter!“, rief ihre Mutter ihr, etwas melodramatisch hinterher.
Sera schloss die Tür hinter ich und brach auf der Stelle zusammen. Auch wenn sie es ihrer Mutter nicht sagen konnte, bis vor wenigen Minuten, hatte sie an eine Heilung geglaubt.
Stumme Tränen flossen ihr Gesicht herab. Ihre Mutter hätte sie auch durch Wände schluchzen hören. Sie würde sterben. Einfach sterben.
Auf einmal fühlte sich Sera so allein und verlassen. Sie wollte jemanden, an dem sie sich jetzt festhalten konnte. Jemand, der für sie da war.
„Prinzessin“, sagte Riven, als er plötzlich vor ihr stand. Wie kam er nur hierher? War er Sera gefolgt? Und wieso schaffte er es immer, so plötzlich aufzutauchen? Er beugte sich und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.
„Riven…“, murmelte Sera, während sie noch am Boden saß.
„Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann übernimm jetzt Verantwortung“, schluchzte sie unsinniges Zeug, während sie ihm auf einmal in die Arme sprang.
Überrascht, aber nicht wütend erwiderte er ihre Umarmung und legte seine Arme um sie. Er stand einfach nur da, umarmte sie und nahm alles stumm hin.
Weinend vergrub sie ihren Kopf in seiner weichen Robe. Er war größer als sie, dass wurde ihr erst jetzt wirklich bewusst. Und er war schlank und dennoch stark. Er war so haltgebend. So sicher. Und seine Umarmung war so weich und trotzdem fest. So warm und so geborgen.
Sie klammerte sich an ihn so fest sie nur konnte und er strich ihr sanft über das lange Haar, während er sie an sich gedrückt hielt.
„Prinzessin… Es ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung“, murmelte er ihr an die Stirn.
Und so blieben sie noch eine Weile stehen, bis Sera aufhörte zu weinen und selbst dann lösten sie sich nicht aus ihrer Umarmung.
Aber irgendwann hob sie dann schließlich ihren Kopf und sah ihm in die Augen, wie er da so fürsorglich auf sie herabsah und ihr über die Haare strich.
„Geht es wieder?“, fragte er sie mit einem sanften Ausdruck in seinen Augen.
Sera nickte zur Antwort, ließ ihn endlich los und ihr wurde klar, was sie soeben getan hatte. Sie hatte sich an Riven festgeklammert und ihn vollgeheult.
„Danke“, sagte sie zu ihm und sah ihm in die Augen, „danke, dass du mich getröstet hast. Und es tut mir leid, wenn ich dich genervt habe“.
„Für dich tue ich doch alles, Prinzessin“, antwortete Riven und lächelte sie ehrlich an, „außerdem war es, als würde ein Traum wahr werden, als du mich umarmt hast.“
Sera lief hochrot an – nicht schon wieder!
„Du hast mich in einem schwachen Moment erwischt – bilde dir bloß nichts drauf ein!“, wandte sie ihren Kopf ab als die beiden nebeneinander durch den Flur in Richtung Ausgang gingen.
Riven musste lächeln: „Natürlich nicht, Prinzessin.“
Sera hätte jetzt gerne geschmollt und ihn mit Schweigen bestraft, aber ihre Neugier übermannte sie: „Was tust du überhaupt hier? Woher wusstest du wo ich bin?“
„Du hast beinahe geweint als du weggerannt bist – wie hätte ich dich in diesem Zustand allein lassen können?“
Sera lief noch roter an – er war ihr den ganzen Weg bis ins Heilerhaus gefolgt? Sie hatte ihn geschlagen und war weggerannt und er kümmerte sich darum, wie sie sich fühlte?
„Wie sportlich bist du eigentlich, dass du mir so einfach hinterrennen kannst?“, murmelte sie mit hochrotem Kopf und abgewandten Gesicht, weil sie ihren Schlag nicht ansprechen wollte.
„Es geht“, gab Riven grinsend zur Antwort.
Und so verließen sie dann schließlich das Heilerhaus und gingen zur „Schule“ zurück – Riven lachend und Sera mit rotem Kopf.
Danach ging sie in Hauptgebäude. Im Gegensatz zum Wohnhaus der Novizen war dieses Gebäude riesig und aus kaltem Stein. Die Gänge waren verzwickt, aber Sera fand sich mittlerweile zurecht, so dass sie ohne irgendwelche Probleme in die Mensa gelangte, in der schon das Frühstück serviert wurde. Es war ein großer Raum mit einer hohen Decke und vielen Tischen, die allesamt mit weißen Tischtüchern bedeckt waren. Überall fusselten Diener herum, die Tische deckten, Zutaten in die Küche brachten oder auch Speisen auftischten.
„Sera!“, rief eine weibliche Stimme links von Sera.
Sie wandte den Kopf in die Richtung erblickte Rose, eine Dienerin, die ihr wie wild zu winkte und vor einem freien Tisch stand.
„Rose! Guten Morgen“, sagte Sera und ging auf sie zu. Sera hatte nicht viele Freunde unter den Schülern. Für sie war sie nur das Gossen-Kind. Doch mit den Dienern verstand sie sich gut. Für sie war sie eine Heldin, die zeigte, dass auch Leute aus ärmeren Verhältnissen es weit bringen konnten. Sera gefiel das nicht wirklich und sie hatte versucht den Dienern zu erklären, dass das nichts mit Heldentum zu tun hatte, doch sie hatten ihr nicht zugehört.
Rose hatte sich deswegen mit der Zeit zu Seras bester Freundin gemausert. Sie war ein gutherziges Mädchen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, das sogar im simplen Dienstmädchenkostüm gut aussah. Vom Charakter her war sie aber eher schüchtern und traute sich vieles nicht. So hatte sie zum Beispiel Probleme damit, mit anderen Novizen als mit Sera zu sprechen, da sie immer rot anlief und anfing zu stammeln. Wenn jemand Sera gefragt hätte, wer den Titel einer Prinzessin verdiente, hätte sie mit Rose geantwortet. Sie musste dieses einfache, schüchterne und rein Mädchen um jeden Preis von Menschen wie Riven fernhalten.
„Setz dich Sera, heute hab ich was besonderes für dich!“, befahl ihr Rose und drückte sie auf einen Stuhl.
Verwundert blickte Sera sie an – was konnte sie nur meinen?
Rose lief schnell weg und Sera fragte sich, was sie jetzt wohl vorhatte.
Na ja, was konnte Sera jetzt schon großartig machen? Seufzend schenkte sie sich ein glas Wasser ein und betrachtete den reichlich gedeckten Tisch. Silberwaren, -Löffel und -Gabeln, Teller und Schüsseln aus Porzellan und mehrere Blumenvasen mit Pflanzen, die Sera nicht einmal kannte.
Wie verschwenderisch das doch alles war! Wieso musste hier alles so edel sein? Man hätte so viel Geld sparen können, hätte man sich allein schon mit normalen Blumen begnügt, nicht an das Porzellan und Silber zu denken! Man hätte mit diesem Geld so vielen Menschen helfen können – und was tat man damit? Man ermöglichte den Kindern der Reichen ein sinnlos luxuriöses Leben, nur damit sie sich wohl fühlten.
Während Sera so darüber nachdachte, wie viele Menschenleben diese Gabel in ihrer Hand wohl retten hätte können, kam Rose zurück.
„Schau! Das hab ich selbst gemacht, nur für dich!“, rief sie begeistert und hob den Deckel von dem Tablett, das sie gerade trug.
Dort thronte ein unglaublich lecker aussehender Pudding mit Schokosoße oben drauf.
„Danke!“, rief Sera erfreut aus. Sie hatte nicht viele Schwächen, aber eine Sache zählte um jeden Preis zu ihnen – Süßigkeiten.
„Danke, Rose, du bist die Beste!“, sagte Sera erneut, nachdem Rose den Pudding vor ihr abgestellt hatte und sie einen Bissen genommen hatte.
Rose lächelte sie strahlend an: „Ach, keine große Sache! Aber ich muss jetzt wieder weg. Genieß den Pudding!“
Mit diesen Worten ging Rose in dem Meer aus Dienern unter, während Sera mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdruck ihr Essen genoss.
„Hat schon wieder die Diener bestochen!“, hörte sie ein nicht sehr gut verdecktes Tuscheln neben sich.
Am Tisch links von Sera saß eine Gruppe Schüler die sie mit verächtlichen Blicken bedachten und sich über sie lustig machten. Sera war einfach schon immer das in eine reiche Familie adoptierte Gossen-Kind. Und ihre gute Beziehung zu den Dienern machte das Ganze nicht besser. Und seitdem ihre Adoptiv-Mutter schwer krank geworden war, gingen umso mehr Gerüchte um.
„Hat ihre Adoptivmutter krank gemacht, obwohl sie so gütig ihr gegenüber war!“, sagten die Leute.
Sera war von Madam Alore, einer reichen Frau, adoptiert worden, kurz nachdem ihr Mann verstorben war. Sie hatte Sera auf der Straße gefunden, wie sie mit sich selbst darüber gestritten hatte, ob sie einen Apfel stehlen sollte. Sie hatte damals kurz vor dem Hungertod gestanden, und dennoch hatte sie sich im Endeffekt nicht durchringen können, gegen ihre eigenen Moralvorstellungen zu verstoßen. Nachdem Madam Alore das gesehen hatte, beschloss sie, Sera aufzunehmen und sie in die Schule zu stecken.
Sera war ihr unendlich dankbar für alles was sie für sie getan hatte und seitdem sie im Heilerhaus lag, kam Sera sie so oft besuchen, wie sie es nur konnte.
Aber das interessierte die Leute nicht. Sie sahen Sera nur als kleinen, schmutzigen Virus der die angesehene Geschäftsfrau Madam Alore vergiftet hatte.
Hätte Madam Alore davon gehört, hätte sie wahrscheinlich allen, die das behaupteten, eine Ohrfeige verpasst, doch die Gerüchte erreichten sie nicht und Sera ließ das Ganze einfach über sich ergehen.
Seufzend erhob sich Sera. Ihr war der Appetit vergangen. Genervt verließ sie die Mensa und ging durch die großen, steinernen Flure auf ihr Klassenzimmer zu. Der Unterricht würde bald beginnen.
Als Sera das Klassenzimmer betrat hoben sich die Köpfe aller Schüler, die schon anwesend waren, wie von selbst an und senkten sich automatisch wieder, als sie erkannten, wer da gekommen war.
Der Raum war weiß gestrichen und hatte lauter Stühle und Tische in sich verteilt, die auf die Tafel und das Lehrerpult ausgerichtet waren.
Seufzend nahm Sera ihren Platz in der Letzten Reihe ein. Neben ihr saß niemand.
Bis der Unterricht begann würden die meisten Schüler noch auf den Tischen und Stühlen sitzen und sich ausgelassen über alles Mögliche unterhalten, von dem – zumindest nach Seras Meinung – wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte wahr war. Die Jungen gaben ununterbrochen ihre Geschichten von irgendwelchen Mädchen zum Besten, die sich erstunken und erlogen anhörten – wie pubertierende kleine Kinder. Die Mädchen dagegen kicherten und kreischten, während sie hinter dem Rücken der anderen übereinander lästerten und vorne so taten, als wären sie beste Freunde. Das Alles war für Sera viel zu hinterhältig um mitzukommen – und die wenigen Mädchen, die begriffen, dass es falsch war, sich so zu verhalten, maulten und meckerten nur deswegen rum, machten aber dennoch mit ohne irgendetwas zu unternehmen. Heuchler.
Plötzliche verstummte der ganze Raum. Sera blickte auf – da war Meister Conites. Er betrat den Raum und alle standen auf der Stelle auf und sagten zusammen: „Guten Morgen, Meister Conites!“
„Setzt euch“, gab er zur Antwort und alle ließen sich auf ihre Hintern plumpsen.
„Heute wird unserem Unterricht ein Schüler der „Akademie“ einer anderen magischen Schule, die sehr gute Verbindungen zu der unseren hat, beiwohnen. Er ist, obwohl er so alt ist wie ihr, schon ein vollständig ausgebildeter Magier, da in seiner Familie große Kräfte, die sich schon früher entwickeln, weitergegeben werden. Er ist zu Besuch an unserer Schule, da er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat und nimmt nur am Unterricht teil, da dies sein eigener Wunsch war. Also verhaltet euch ihm gegenüber angemessen!“, befahl Meister Conites.
Oh Gott, bitte nicht, dachte Sera und blickte wie alle anderen Schüler in Richtung Tür.
„Dies ist Lord Riven Nalishian“, stellte Conites Riven, der unterdessen durch die Tür geschritten war, vor.
„Hallo. Ich bin erfreut, euch kennen zu lernen“, sagte Riven und schenkte der Klasse ein Lächeln, das sich stark von dem vom Vortag unterschied. Es war falsch – das merkte Sera sofort.
Sie merkte auch, dass ein begeistertes Raunen durch die Reihen der Mädchen lief – war er wirklich so gut aussehend?
Sie betrachtete ihn noch einmal eingehend – sicher, diese Augen schienen einen magisch Bann auszustrahlen, und sein Haare weckten in ihr den Wunsch, sie zu verwuscheln, aber sie hatte sich nie groß um äußerliche Werte gekümmert, weswegen sie seine Attraktivität auch jetzt kalt ließ.
„Setzt euch, wohin ihr wollt, Lord Nalishian“, sagte Conites unterwürfig und Riven nickte ihm zu.
Dann schritt er bestimmt durch die Reihen aus Tischen und ließ sich neben Sera fallen.
Sie hatte das Gefühl als würden sie hunderte von Blicken durchbohren. Es waren so viele Plätze frei und Riven suchte sich ausgerechnet den neben ihr aus – da konnte sich jeder irgendetwas denken. Verschämt senkte Sera den Kopf und hoffte, dass sich die anderen bald abwenden würden. Das taten sie auch, denn sobald Riven sich gesetzt hatte, begann Conites den Unterricht und alle mussten aufpassen.
Das hätte Sera auch gerne getan, nur verhinderte Riven das sehr geschickt.
„Guten Morgen, Prinzessin“, flüsterte er ihr ins Ohr, nachdem er sich zu ihr herübergebeugt hatte.
Mit der linken Hand packte Sera ihn am Kinn und drückte ihn von sich weg, doch er entging ihrem Griff geschickt und nahm stattdessen ihre Hand in seine.
„Du kommst also von einer anderen Schule?“, fragte Sera ihn. Gegen dieses „Prinzessin“ konnte sie wohl nichts mehr tun.
„Ja, das tue ich. Und ich bin wegen den Zwillingen hier, wenn es Euch interessiert“, sagte Riven und führte Seras Hand, mit der sie ihn bisher weggedrückt hatte, einfach zur Seite um sich ihr wieder zu nähern.
Sera konnte es nicht mehr ertragen – sie lief so rot an wie eine Tomate und versuchte ihren Kopf abzuwenden.
„Warum seht Ihr mich nicht an, Prinzessin?“, fragte Riven.
Sera fiel keine passende Antwort ein.
„Hör auf mit dem „Ihr“! Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann duz mich wenigstens – ich fühle mich unwohl!“, sagte sie stattdessen um das Thema zu wechseln. Vielleicht würde er so auch aufhören, sie Prinzessin zu nennen.
„Wie du wünschst, Prinzessin!“, gab er nur zur Antwort und lächelte – aber dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln. Sera widerstand dem verlangen zurück zu lächeln – warum machte es sie so verdammt glücklich, dass er aufrichtig lächelte?
„Seraphina, passt du auf?!“, rief Conites nach hinten, als er bemerkte, dass Sera die Tafel nicht einmal ansah.
„Ah, verzeihen Sie Meister Conites!“, antwortete Sera überrascht. Sie hatte vergessen, dass sie sich im Unterricht befand.
„Oh, was ich beinahe vergessen hätte: Seraphina geh bitte nach dem Unterricht zum Büro des Direktors“, fiel es Conites plötzlich wieder ein und er drehte sich einfach wieder zur Tafel um – er war im Moment wirklich zerstreut.
Sera wurde blass. Sie hatte doch nach dem Unterricht ihre Mutter besuchen wollen. Oder wollte ihr der Direktor vielleicht etwas über ihre Mutter sagen? Es konnte unmöglich um ihr Training gehen – der Direktor hatte sie deswegen noch nie in sein Büro gerufen. Um es genau zu nehmen, war sie überhaupt noch nie auch nur dort gewesen. Was war mit ihrer Mutter? Sie war doch nicht etwa gestorben? Oder ging es um etwas anderes… ihr fiel nichts ein, außer die Möglichkeit, dass ihre Mutter gestorben war und ihr jetzt mitgeteilt werden würde, dass sie aus der Schule fliegen würde, da niemand mehr ihre Ausbildung bezahlen würde und man ihre Kräfte versiegeln müsste.
Leichenblass blickte Sera auf den Tisch. Das musste es sein.
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie musste schniefen um sie zurück zu halten.
Plötzlich aber wischte eine andere Hand als ihre ihr die Tränen aus den Augen und ein warmer Arm legte sich um ihren Rücken.
„Weine nicht, Prinzessin. Es ist nicht so, wie du denkst. Es gibt keinen Grund so traurig sein“, flüsterte ihr Riven zu.
Sera blickte auf und sah direkt in seine warmen Augen.
Woher kam dieses plötzliche Verlangen, sich an seine Brust zu werfen und erbarmungslos zu weinen? Ganz egal, Sera widerstand auch dem und wischte sich die anstauenden Tränen selbst aus den Augen.
„Was redest du? Wer weint hier?“, sagte sie so überlegen wie nur möglich und Riven musste kichern.
„Schon gut, Prinzessin“, gab er zur Antwort und wandte sich lächelnd ab.
Auch Sera wandte sich nach vorne. Wieso hatten Rivens Worte es tatsächlich geschafft, dass sie nicht weinte? Wieso vertraute sie ihm? Aber er hatte Recht – es konnte alles Mögliche sein! Es musste nicht einmal um ihre Mutter gehen!
Mit diesem Gedanken ertrug Sera den Rest des stinklangweiligen Unterrichtes und zu ihrer Freude näherte Riven sich ihr nicht mehr unerwünscht.
Als der Unterricht dann endlich vorbei war und Conites alle Schüler entließ stürzte Sera gerade zu auf dem Klassenzimmer und rannte in Richtung des Büros des Direktors.
Es lag am Höchsten Punkt der ganzen Schule und Sera musste Treppe um Treppe nach oben rennen, um sich dem Büro auch nur zu nähern.
Als sie schließlich ganz oben ankam, bog sie nur noch ein paar Mal ab, bis sie vor einer überdimensionalen Tür stand, deren goldene Griffe die Form von Engeln hatten.
Seufzend holte sie noch einmal Luft, um sich innerlich auf das vorzubereiten, was sie jetzt erwartete.
Schließlich klopfte sie an.
„Herein!“, tönte ihr die Stimme des Direktors entgegen und sie öffnete die Tür.
Das Büro war ein sechseckiger Raum, der eine Wand, um es genau zunehmen die am der Tür gegenüberliegenden Ende, besaß, die nur aus Fenstern bestand. Vor eben dieser Wand stand der Schreibtisch des Direktors, der erstaunlich sauber und ordentlich war – statt den Papierstapeln, die ich erwartet hatte, thronten hier nur ordentlich aufgeräumte Stifte, Schreibfedern und Tintenfässer.
Vor diesem Schreibtisch standen mehrere Stühle. Und hinter dem Schreibtisch stand ein einziger, großer Stuhl aus Ebenholz. Auf ihm saß, in seiner schwarzen Robe der Direktor.
Was Sera aber viel mehr verwunderte, waren die Leute, die auf zweien der Stühle vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte. Conites und Riven. Wie waren die beiden so schnell hierher gekommen? Wahrscheinlich gab es irgendeine Abkürzung.
Als Riven seinen Kopf zu ihr wandte und sie anlächelte war es ihr regelrecht peinlich, dass sie nicht mit ihnen mitgegangen war und sie lief – schon wieder – rot an.
„Sera! Schön, dass du da bist, ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen!“, rief Sera der Direktor mit seiner tiefen und freundlich Stimme zu, „Setz dich doch!“
„Ja, Direktor Ralion“, gab Sera brav zur Antwort und setzte sich auf den Stuhl neben Riven, da er als einziger frei war.
„Was wollten sie mir denn nun wichtiges erzählen?“, fragte Sera, nachdem sie saß.
„Also, zu erst einmal Sera: Es tut mir leid, dass ich dich davon abhalte, deine Mutter zu besuchen, natürlich kannst du gehen, sobald wir hier fertig sind“, entschuldigte sich der Direktor bei Sera.
Oh Gott sei Dank, war alles, das Sera in dieser Sekunde dachte.
Es ging nicht um ihre Mutter. Sie lebte noch. Aber weswegen war sie dann hier?
„Sera, du bist heute hier, weil du eine wichtige Entscheidung treffen musst. Und das schon bis morgen“, erklärte der Direktor mit ernster Stimme und Sera musste schlucken. Was für eine Entscheidung er wohl meinte?
Riven neben ihr lächelte sie verständnisvoll an, während sie ihren Blick starr auf den Direktor gerichtet hielt.
„Zu erst einmal – du weißt wer Riven hier ist, oder?“, fragte der Direktor und sah Riven an, der plötzlich wieder ernst wirkte.
„Er hält den Titel „Lord Nalishian“ inne und kommt von der „Akademie“, einer anderen magischen Schule. Er ist nur zu Besuch hier und hatte irgendeine wichtige Aufgabe zu erfüllen“, spulte Sera automatisch die Informationen, die sie von Conites erhalten hatte herunter, hängte aber noch etwas daran, „Außerdem sagt er, er sei der Bodyguard von Kanon und Karm, zwei Zwillingen.“
Der Direktor fing lauthals an zu lachen.
„Ja, das passt zu dir, dich so zu beschreiben, Riven!“, brüllte er regelrecht und Riven antwortete mit diesem ekelhaften falschen Lächeln.
„Ich fand es erklärte die Situation recht angemessen.“
Jetzt hörte der Direktor auf zu lachen und sah wieder ernst in die Runde.
„Weißt du, wer Kanon und Karm sind?“, fragte er Sera jetzt.
„Nein“, antwortete sie ehrlich.
„Kanon und Karm sind meine Söhne“, sagte der Direktor todernst.
Seine Söhne?! Sera konnte es nicht glauben – sie hatte immer gedacht, der Direktor wäre kinderlos. Obwohl – eigentlich hatte er sehr väterliche Eigenschaften, so verständnisvoll und fürsorglich wie er war.
„Dann muss sich also Riven um ihre Söhne kümmern… Wieso eigentlich? Er ist doch ein Lord, wieso muss er den Babysitter spielen?“, fragte Sera, zugegebener maßen etwas unhöflich, doch der Direktor fing bei dieser Ausdrucksweise nur wieder an zu lachen.
Hallend schallte sein „Haha!“ von den mit Bücherregalen bedeckten Wänden des Büros wieder.
Auch Rivens Mundwinkel zuckten, und als Sera das sah, lief sie erneut rot an – war das wirklich so lächerlich gewesen?
Zumindest lachte Conites nicht. Er blickte als einziger ziemlich genervt in die Runde, als könnte er dieses ganze Theater nicht mehr ertragen.
Als sich der Direktor schließlich wieder gefangen hatte und sich die Tränen aus den Augen wischen musste, war Sera puderrot und wünschte sich aus tiefstem Herzen, im Boden zu versinken.
„Sera, hast du schon mal vom „Begrüßungslauf“ gehört?“, fragte der Direktor sie schließlich.
„Nein“, antwortete sie.
Langsam hatte Sera genug – warum stellte der Direktor nur Fragen, anstatt ihr endlich zu erklären, was sie hier sollte?
„Weißt du, wie der nächste Direktor bestimmt wird?“, wollte der Direktor feststellen, wie viel Sera wusste.
„Nein.“
„Gut. Dann habe ich dir viel zu erklären“, meinte der Direktor grinsend und Sera seufzte erleichtert.
„Der Direktor wird nach Abstammung bestimmt – das heißt, dass mein direkter ältester Nachfahre der nächste Direktor werden wird. Allerdings sind meine ältesten direkten Nachfahren Zwillinge, also gleich alt. Verstehst du, was ich meine“, versicherte sich der Direktor noch einmal.
„Ja, ich denke schon. Irgendwie muss jetzt entschieden werden, wer der nächste Direktor wird“, antwortete Sera nachdenklich. Bis hierhin wusste sie allerdings noch immer nicht, was sie denn mit der ganzen Sache zu tun hatte.
„Und um zum Begrüßungslauf zu kommen: Als 5-Jähriger muss jeder zukünftige Direktor, ohne den amtierenden Direktor natürlich, auf eine Reise gehen um alle Rassen und Völker dieser Welt zu besuchen, sich vorzustellen und ihre Zustimmung für seine Übernahme des Postens zu erhalten. Die Zwillinge sind vor wenigen Tagen 5 geworden, und der Streit darum, wer jetzt Direktor werden soll, ist endgültig zwischen vielen Königen, Herrschern und reichen Bürgern entbrannt. Um einen Krieg, der sich zweifellos anbahnt, da die Schule Schüler aus jedem Land hat und es folglich jeden etwas angeht, zu vermeiden haben ich und meine Frau beschlossen, beide auf die Reise zu schicken, wobei der Begrüßungslauf zu einer Art Abstimmung werden soll – jede Reisestation hat eine Stimme, die sie entweder für Kanon oder Karm einsetzen müssen. Enthaltungen gibt es nicht. Begreifst du?“, fragte der Direktor Sera so ernst, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
„Ja und – es tut mir leid wenn sie mich jetzt für unverschämt halten – es tut mir leid. Es tut mir so leid für sie“, sagte Sera und versuchte ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, „es muss unendlich schwer sein, seine 5-Jährigen Kinder auf eine Reise zu schicken, auf der man sie nicht begleiten kann. Geschweige denn, das selbst als Kind ertragen zu müssen. Ich wusste nie, dass das Amt des Direktors solchen Horror mit sich bringt.“
Sera kümmerte sich nicht darum, dass sie den angesehensten Posten der Welt gerade beschimpft hatte – sie merkte es nicht einmal. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Allein die Vorstellung daran, wie sich der Direktor fühlen musste versetzte ihr einen Stich ins Herz.
Als ihr dann der Gedanke an den armen Kanon und Karm kam, war Sera den Tränen nahe.
Melancholisch lächelte Riven sie an und schien einerseits genauso traurig wie sie und andererseits sehr zufrieden zu sein.
Auch der Direktor bedachte Sera mit einem traurigen Lächeln.
„Wie von dir erwartet“, murmelte er, allerdings hörte ihn Sera nicht.
Stattdessen schluckte sie ihre Tränen herunter und sah den Direktor ernst an. Sie wollte, dass er seine Erklärung beendete, und er verstand.
„Natürlich kann man 5-Jährige nicht allein auf eine solche Reise schicken, denn du weist bestimmt wie gefährlich die Welt da draußen für kleine Magier ist. Und deswegen begleitet sie jedes Mal einige Personen dazu gehört immer ein Abkömmling der Familie Nalishian. Weist du was an ihrer Familie so besonders?“, stellte der Direktor schon wieder eine Frage.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Sera und warf Riven einen Blick zu – dass sie Perverse sind, vielleicht?
„Das kann dir dann wahrscheinlich Riven hier am Besten erklären“, meinte der Direktor und überlies Riven mit einer Handbewegung das Wort.
Riven lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann grinste er Sera an: „Nun ja, Prinzessin, meine Familie ist eine Mischungen. Niemand weiß genau in welcher Reihenfolge, ob es Absicht war oder reine Zufälle, aber über Generationen hinweg ist zu meiner Familie aus jeder Art und Rasse mindestens einer hinzu gekommen – zu meinen Vorfahren gehören Zwerge, Riesen, Feen, Elfen, Kobolde, Trolle, Mare, Vampire, Wolfsmenschen und natürlich Menschen. Deswegen gilt unsere Familie als besonders und wird oft dazu gezwungen, an irgendwelchen Zeremonien teilzunehmen, als Zeichen für die Freundschaft zwischen allen Völkern. Der Begrüßungslauf gehört dazu. Und da außerdem sowohl von der „Akademie“ als auch von der „Schule“ ein Abgesandter als Begleitung beim Begrüßungslauf dienen muss, wurde dieses Mal einfach ich als beides benutzt – Abkömmling der Nalishians und Schüler der „Akademie“.“
Er war… kein Mensch? Sera wurde klar, dass sie ihn die ganze Zeit über für einen Menschen gehalten hatte. Er hatte aber auch keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas anderem.
„Ah, deshalb kann ich deine Präsenz nicht spüren!“, rief Sera plötzlich erfreut aus und schlug mit der rechten Faust in ihre linke geöffnete Hand, „Weil du einer mir fremden Rasse angehörst!“
Endlich verstand Sera etwas!
Alle blickten sie verwundert an – Sera hatte noch nie mit jemanden über ihre Fähigkeit gesprochen, weswegen weder ihr Lehrer noch der Direktor darüber Bescheid wussten. Riven lächelte entspannt – ob er alles verstand? Nein. Da war noch etwas anderes in seinem Blick – Erleichterung?
„Was meinst du, Seraphina?“, fragte Conites verwundert.
Verschämt rieb sich Sera den Hinterkopf und versuchte sich möglichst in ihrem Stuhl zu verstecken, als sowohl der Direktor als auch Conites sie mit wachsamen Blicken musterten.
„Na ja, ich spüre die Präsenzen von den Menschen um mich herum. Es hat schon immer funktioniert, auch bei Feen und Zwergen. Andere Rassen habe ich noch nicht getroffen. Aber bei Riven hat es nicht geklappt, was mich sehr gewundert hat“, erklärte sie möglichst schnell und unkompliziert.
Der Direktor musterte sie mit einem ernsten Blick: „Wieso denkst du, dass es an seiner Rasse liegen könnte?“
„Weil es genauso war, als ich zum ersten Mal Zwerge und Feen traf. Ich konnte sie erst nach längerer Zeit spüren, aber dann konnte ich jeden ihrer Rasse spüren“, berichtete sie, „Ist das so außergewöhnlich?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe es nur noch nie bei einem Schüler erlebt“, meinte der Direktor nachdenklich und rieb sich am Kinn.
„Aber es kann schon vorkommen, oder?“, warf Conites ein und der Direktor nickte.
„Ähm… könnten wir dann wieder zum Thema kommen? Ich verstehe nämlich immer noch nicht, was ich mit der ganzen Geschichte zu tun habe“, wollte Sera schnell wieder zum eigentlichen Gespräch zurückkehren. Sie vertrug diese seltsame Stimmung nicht.
„Um es kurz zu machen – ich will dich bitten, als Abgesandte unserer Schule mit auf den Begrüßungslauf zu gehen“, erklärte der Direktor, jetzt wieder ganz ruhig.
„Mi- Mich?“, stammelte Sera überrascht. Wieso denn sie?
„Einerseits haben sowohl Kanon und Karm als auch Riven um dich gebeten und andererseits bist du eine exzellente Schülerin mit überdurchschnittlicher Begabung“, erklärte der Direktor.
„Wie lange dauert dieser Begrüßungslauf in etwa?“, fragte Sera todernst.
„Jahre. In meinem Fall waren es 5, aber man kann es zuvor nie wissen“, erklärte der Direktor genauso ernst, „schließlich muss man in jedem Ort für mehrere Monate bleiben, damit das Volk einen Eindruck des Anwärters bekommen kann und die Reisedauer ist auch nicht zu unterschätzen. Außerdem gibt es viele Reiseziele, die besucht werden müssen.“
Sera wurde blass – was sollte sie tun?
„Wer wird die Zwillinge noch begleiten?“, fragte sie.
„Nur ein paar Diener, die allerdings dieses Mal allesamt von der „Akademie“ zur Verfügung gestellt werden. Du kennst sie also nicht. Und der Hauptmann der königlichen Garde von Kisapei, zusammen mit einigen seiner Männer“, antwortete der Direktor.
Nachdem er diesen Satz beendet hatte, wurde Sera klar, dass sie die Wahl hatte – entweder sie ließ ihre Mutter für mehrere Jahre im Stich, oder aber sie ließ die Zwillinge alleine mit Riven, einem Soldaten und einem ihrer Mitschüler.
Als der Direktor sah, wie jede Farbe aus Seras Gesicht wich, hob er beschwichtigend die Hände.
„Du hast noch Zeit deine Entscheidung zu treffen – bis morgen. Komm bei Unterrichtsbeginn wieder hierher und teile mir deine Entscheidung mit. Wenn du dich dafür entscheidest mitzugehen war heute dein letzter Schultag hier. Bleibst du hier, fällt der unterricht für dich morgen dennoch aus“, erklärte er Sera und sah ihr in die Augen, „Ich kann verstehen, wenn du nicht willst.“
„Kann ich gehen?“, fragte Sera. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte keinerlei Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
„Ja. Geh ruhig“, antwortete der Direktor und wandte sich dann an Riven und Conites: „Ihr könnt auch gehen.“
Bis auf den Direktor, der begann in einer Schreibtischschublade nach etwas zu suchen, erhoben sich alle und verließen den Raum.
Sera wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Die Welt schien Kopf zu stehen.
„Prinzessin?“, fragte Riven neben ihr plötzlich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Conites schon gegangen war und sie sich unbewusst gegen die Wand des Flures gelehnt hatte.
„Ich… weiß nicht was ich tun soll“, murmelte sie ihm verzweifelt zu. Wen kümmerte es, ob er ein Verrückter war? Bis jetzt hatte er ihr eigentlich nichts getan, außer sie in peinliche Situationen zu bringen.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte er und lehnte sich zu ihr hinüber, „aber du würdest mich sehr glücklich machen, wenn du mitkommen würdest.“
Wieder lief Sera rot an – in Rivens Gegenwart schien sie fast nichts anderes zu tun.
„Das hilft mir nicht!“, schrie die ihn auf einmal an, verpasste ihm einen gut gezielten Tritt in die Magengegend, durch den er an die gegenüberliegende Wand des Flures geschleudert wurde und rannte. Sie rannte so schnell wie sie noch nie gerannt war – und Sera war oft gerannt. Immer schneller zwang sie ihre Beine nach vorne. Sie wollte hier nur raus.
Sie stürmte aus dem Hauptgebäude und rannte ohne zu zögern über die Wege an mehreren Schülern und Magiern vorbei, die ihr verwunderte und missbilligende Blicke hinterher warfen, was Sera aber kalt ließ. Sie galoppierte gerade zu durch das Tor hinaus auf die Straße, stürzte durch die Straßen dieser so elend reichen Stadt, bis sie schließlich keuchend und erschöpft vor einem großen, weißen Gebäude um dass sich eine Mauer schlang und Platz für ein Stückchen Rasen im Vor und Hinterhof bot, stehen blieb. Das Heilerhaus.
Mit langsamen Schritt betrat sie das Haus und kam in eine mit Fließen ausgelegte Vorhalle, in der eine Empfangsdame hinter einem kleinen Tisch saß und ziemlich gelangweilt aussah.
Doch Sera sprach die – wie sie wusste – unhöfliche Frau gar nicht erst an. Sie ging an ihr vorbei den Flur entlang, zwei Mal die Treppen hoch und schließlich bog sie um ein paar Ecken bis sie davor stand. Vor dem Zimmer ihrer Mutter. Die Flure waren allesamt weiß gestrichen und die Tür, vor der Sera stand, war es auch.
Immer noch verwirrt, aber entschlossen ihre Mutter zu besuchen, klopfte sie endlich an.
„Herein!“, ertönte die, sogar in diesem geschwächten Zustand, noch immer herrische Stimme ihrer Mutter.
„Mutter“, sagte Sera während sie die Tür öffnete. Dort lag ihre Mutter. Sie war so schmal und mager wie immer und ihre dunkelbraunen Haare stachen auf dem schneeweißen Bettlaken stark hervor und ließen auch ihre Haut blasser wirken, als sie es in Wirklichkeit war. Bielleicht war sie auch wirklich so blass. Seitdem sie krank geworden war hatte sich soviel verändert.
Sera schloss die Tür hinter sich und blickte in die strengen Augen ihrer Mutter, fühlte ihre schwache aber immer noch ausstrahlende Präsenz.
„Was is…“, setzte Seras Mutter zu einer Frage an als Sera in Tränen ausbrach.
Schreiend und weinen warf sie sich auf das Bett ihrer Mutter und ging davor in die Knie, so dass nur noch ihre Kopf, den sie auf ihre verschränkten Arme gelegt hatte auf dem Bett lag.
„Was ist?“, beendete Seras Mutter ihren Satz und tätschelte Sera liebevoll den Kopf, „Komm schon, sag es mir.“
Und so fing Sera, in Tränen aufgelöst und unter hunderten von Schluchzern an von bemitleidenswerten Zwillingen, dem Begrüßungslauf, einem perversen Riven, einer Prinzessin, einer jahrelangen Reise und allen möglichen Rassen zu erzählen.
Es war erstaunlich, dass ihr Mutter überhaupt in der Lage war ein einziges Wort von Seras Geschluchze zu verstehen, aber sie begriff sogar was Sera eigentlich versuchte zu sagen.
Als sie endlich verstand blickte sie Sera mit geweiteten Augen an, nahm ihre linke Hand in die Höhe und schlug Sera mit der Faust direkt auf den Kopf. Sera schrie auf und hielt sich den Kopf, aber sie blickte auch auf und ihre Tränen stoppten für kurze Zeit.
„Was für ein dummes Kind du doch bist!“, beschwerte sich ihre Mutter lauthals bei Sera, „Das ist kein Grund zu weinen, das ist ein Grund einen Freudentanz aufzuführen!“
„Aber…aber, dann muss ich dich zurücklassen!“, schniefte Sera und wischte sich das Gesicht.
„Na und?! Meine Zeit ist sowieso vorbei! Begreifst du nicht?! Ich habe höchstens noch ein paar Wochen zu leben! Du wirst mich so oder so bald nicht mehr sehen können!“, schrie ihre Mutter.
Sera hätte gern eine Antwort gegeben, aber ihre Mutter kam ihr zuvor.
„Mein Leben ist vorbei! Ich habe es gelebt! Ich habe fremde Länder bereist, war die kälteste Geschäftsfrau der Welt, habe geliebt, geheiratet, getrauert, verloren, gelitten, gefreut, gestritten, entschieden, bereut, verwünscht! Aber du – du hast dein Leben nie gelebt! Immer tust du nur, was andere wollen! Tu das, was DU willst! Sei du selbst! Mache Reisen, lerne fremde Wesen kennen, entdecke die Welt! Finde heraus, was Liebe ist, von mir aus auch mit diesem Riven! Geh da raus und fang endlich an! Auch du hast nicht ewig Zeit! Eines Tages wirst du sterben, und ich möchte nicht, dass du an diesem Tag auch nur eine einzige deiner Entscheidungen bereust! Meine Zeit ist vorbei – schau du nach vorne und nicht zurück! Werde glücklich!“, schrie sie sie an und Sera stiegen wieder die Tränen in die Augen.
„Wein jetzt nicht! Du hast in deinem Leben mehr als genug Tränen verschüttet! Glaube mir, ich werde sterben, und daran gibt es keinen Zweifel! Mach dir keine falschen Hoffnungen, die dich nur noch mehr zum weinen bringen werden! Und wenn ich erst einmal tot und im Himmel bin, dann werde ich deiner verantwortungslosen Mutter sagen, was für ein großartiges Mädchen ihre Tochter doch ist!“, machte Seras Mutter immer weiter.
„Mutter…“, flüsterte Sera. Dann stand sie auf und umarmte ihre noch im Bett liegende Mutter. Bis dahin hatte die Frau nur geschrien und Sera Anweisungen erteilt, doch kaum legten sich Seras Arme um sie, brach auch sie in Tränen aus. Und so weinten sie gemeinsam, während sie sich in den Armen lagen.
Als Sera schließlich all ihre Tränen geweint hatte und keine neuen mehr nachkommen wollten, fasste sie einen Entschluss.
„Mutter, ich werde auf diese Reise gehen“, sagte sie bestimmt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht, während sie begann den Raum rückwärts zu verlassen, „und ich werde leben. Ich verspreche es dir.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, unterstützte ihre Mutter sie, „Zeig es ihnen allen!“
Mit diesen Worten riss sie ihre Faust in die Luft um Sera anzufeuern.
Sera antworte mit der gleichen Geste: „Das werde ich. Auf Wiedersehen Mutter!“
Mit diesen Worten war sie an der Zimmertür angekommen und öffnete sie.
„Leb wohl, meine Tochter!“, rief ihre Mutter ihr, etwas melodramatisch hinterher.
Sera schloss die Tür hinter ich und brach auf der Stelle zusammen. Auch wenn sie es ihrer Mutter nicht sagen konnte, bis vor wenigen Minuten, hatte sie an eine Heilung geglaubt.
Stumme Tränen flossen ihr Gesicht herab. Ihre Mutter hätte sie auch durch Wände schluchzen hören. Sie würde sterben. Einfach sterben.
Auf einmal fühlte sich Sera so allein und verlassen. Sie wollte jemanden, an dem sie sich jetzt festhalten konnte. Jemand, der für sie da war.
„Prinzessin“, sagte Riven, als er plötzlich vor ihr stand. Wie kam er nur hierher? War er Sera gefolgt? Und wieso schaffte er es immer, so plötzlich aufzutauchen? Er beugte sich und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.
„Riven…“, murmelte Sera, während sie noch am Boden saß.
„Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann übernimm jetzt Verantwortung“, schluchzte sie unsinniges Zeug, während sie ihm auf einmal in die Arme sprang.
Überrascht, aber nicht wütend erwiderte er ihre Umarmung und legte seine Arme um sie. Er stand einfach nur da, umarmte sie und nahm alles stumm hin.
Weinend vergrub sie ihren Kopf in seiner weichen Robe. Er war größer als sie, dass wurde ihr erst jetzt wirklich bewusst. Und er war schlank und dennoch stark. Er war so haltgebend. So sicher. Und seine Umarmung war so weich und trotzdem fest. So warm und so geborgen.
Sie klammerte sich an ihn so fest sie nur konnte und er strich ihr sanft über das lange Haar, während er sie an sich gedrückt hielt.
„Prinzessin… Es ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung“, murmelte er ihr an die Stirn.
Und so blieben sie noch eine Weile stehen, bis Sera aufhörte zu weinen und selbst dann lösten sie sich nicht aus ihrer Umarmung.
Aber irgendwann hob sie dann schließlich ihren Kopf und sah ihm in die Augen, wie er da so fürsorglich auf sie herabsah und ihr über die Haare strich.
„Geht es wieder?“, fragte er sie mit einem sanften Ausdruck in seinen Augen.
Sera nickte zur Antwort, ließ ihn endlich los und ihr wurde klar, was sie soeben getan hatte. Sie hatte sich an Riven festgeklammert und ihn vollgeheult.
„Danke“, sagte sie zu ihm und sah ihm in die Augen, „danke, dass du mich getröstet hast. Und es tut mir leid, wenn ich dich genervt habe“.
„Für dich tue ich doch alles, Prinzessin“, antwortete Riven und lächelte sie ehrlich an, „außerdem war es, als würde ein Traum wahr werden, als du mich umarmt hast.“
Sera lief hochrot an – nicht schon wieder!
„Du hast mich in einem schwachen Moment erwischt – bilde dir bloß nichts drauf ein!“, wandte sie ihren Kopf ab als die beiden nebeneinander durch den Flur in Richtung Ausgang gingen.
Riven musste lächeln: „Natürlich nicht, Prinzessin.“
Sera hätte jetzt gerne geschmollt und ihn mit Schweigen bestraft, aber ihre Neugier übermannte sie: „Was tust du überhaupt hier? Woher wusstest du wo ich bin?“
„Du hast beinahe geweint als du weggerannt bist – wie hätte ich dich in diesem Zustand allein lassen können?“
Sera lief noch roter an – er war ihr den ganzen Weg bis ins Heilerhaus gefolgt? Sie hatte ihn geschlagen und war weggerannt und er kümmerte sich darum, wie sie sich fühlte?
„Wie sportlich bist du eigentlich, dass du mir so einfach hinterrennen kannst?“, murmelte sie mit hochrotem Kopf und abgewandten Gesicht, weil sie ihren Schlag nicht ansprechen wollte.
„Es geht“, gab Riven grinsend zur Antwort.
Und so verließen sie dann schließlich das Heilerhaus und gingen zur „Schule“ zurück – Riven lachend und Sera mit rotem Kopf.
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Fernweh - Kapitel 1
am Samstag, 5. November 2011, 03:51 im Topic 'Fernweh'
Sera hatte nicht vor gehabt so lange auf dem Markt zu bleiben. Sie hatte eigentlich schon nach wenigen Stunden zurück sein wollen, um durch ihre Überpünktlichkeit zu glänzen und alle zu beeindrucken, indem sie den ganzen Verlockungen der Stadt entsagte. Schließlich mussten ihr die Leute um sie herum, vor allem die Lehrer, vertrauen, sonst hatte sie keine Chance, bald ihre Mutter besuchen zu dürfen.
Verärgert eilte sie durch die Straßen der Stadt, in der Hoffnung, vielleicht doch noch vor den meisten Anderen anzukommen. Oder wenigstens rechtzeitig. Sie hatte sich auf dem Markt verloren, als all die bunten Stände um sie herum aufgetaucht waren und diese Leute in den albernen Aufmachungen ihr dies und das angeboten hatten. Doch wirklich angefangen ihre Zeit zu verschwenden hatte sie erst, als sie ein armes Kind, vermutlich ein Gossen-Kind, wie Seras Mitschüler sie nannten, entdeckt hatte. Das arme Ding hatte Lumpen getragen und war ganz abgemagert gewesen. Es hatte den Apfel, den Sera sich wenige Sekunden zuvor gekauft hatte mit sehnsüchtigen Augen angestarrt. Es hatte Sera an sie selbst erinnert, dieses hungrige Kind, dessen Geschlecht sie unter den Lumpen nicht hatte erkennen können. An sie, bevor ihre Mutter sie aufnahm und in die „Schule“ steckte. Sie hatte ihm den Apfel geben wollen. Doch kaum hatte sie eine Bewegung auf es zu gemacht, hatte es die Flucht ergriffen, in panischer Angst. Sie hatte den Apfel dann auf den Boden gelegt. Ihr war der Appetit vergangen. Sie wollte wirklich nicht wissen, was man schon mit diesem armen kleinen Kind gemacht hatte, dass eine einzige Bewegung von ihr es so erschreckte.
Seufzend beschleunigte Sera ihre Schritte. Langsam senkte sich ein tiefer Schatten über die Stadt und sie wollte auf keinen Fall von der Dunkelheit überrascht werden. Einerseits, weil sie dann großen Ärger bekommen würde, andererseits, hätte sie dann keinerlei Chance mehr ihre Mutter zu besuchen. Also besser schnell zurück zu den Wohneinrichtungen der „Schule“.
„Sieh mal, Karm, hier wachsen tolle Blumen!“, rief eine Kinderstimme durch die Stille des Abends.
Verwundert drehte Sera sich von der Straße weg und sah den leichten, mit Blumen und Gras überwachsenen Abhang neben ihr hinunter.
Dort unten spielten zwei kleine Jungen auf der Wiese. In ihren schneeweißen Roben sahen sie aus der Ferne wie zwei kleine Engel aus.
Sera schnappte laut nach Luft. Was machten zwei Jungen in weißen Roben hier? Sie müssten in der „Schule“ sein und üben! Nein, stattdessen brüllten sie hier herum und zeigten jedem, was sie waren!
Entsetzt blickte Sera sich um – waren schon irgendwo seltsame Gestalten in Sicht?
Um sie herum wirkte alles normal, doch sie konnte, ein paar Häuser weiter in einer schmalen Seitengasse, zwei Männer erspähen, die die Jungen verdächtig beäugten.
Sera kam es so vor, als befände sie sich in der schlimmstmöglichen Position. Sie hatte keine Ahnung was sie nun tun sollte. Es blieb keine Zeit, irgendjemanden zur Hilfe zu holen. Sie wusste nämlich sehr genau, was die beiden Männer mit den Jungen vorhatten. Sie wollten sie entführen und, für sehr viel Geld wahrscheinlich, an den Meistbietenden verkaufen. Denn auch wenn die beiden noch weiße Roben trugen hatten sie doch schon die ersten und, nach Seras Meinung, die schwersten und wichtigsten Schritte auf ihrem Weg zum Magier gemacht. Deshalb waren sie auch so einfache Opfer – sie besaßen schon Magie, was sie wertvoll machte, waren aber im Umgang damit noch so ungeübt, dass sie zu entführen kein großes Problem darstellte.
Sera wusste, dass es ihre Pflicht war zu handeln. Ihre Roben waren schon dunkelgrau. Jemand, der nicht genau hinsah, konnte es leicht für schwarz halten. Sie war stark genug die Männer schwer zu verletzen und zu vertreiben, doch dass würde ihr keine Pluspunkte einbringen. Sie hätte auch einfach weitergehen können und so tun, als hätte sie all das hier nicht gesehen. Das wäre wahrscheinlich der einfachste Weg, doch dann würde sie sich schlecht fühlen, weil es einfach falsch war. Sie musste etwas tun. Ihr kam eine Idee.
Plötzlich hustete sie laut und vernehmlich. Die Jungen schienen sie nicht zu bemerken, doch die Köpfe der beiden Männer fuhren wie Schnappschildkröten in die Höhe. Sera musste jetzt wirklich, wirklich cool wirken, was im Allgemeinen eigentlich nicht ihre Stärke war. Sie sah die Männer direkt an. Sie zuckten zusammen.
Aus der Ferne und im Dunkeln musste Sera wie eine voll ausgebildete Magierin erscheinen, die über ihre Schützlinge wachte. Die Männer taten einen Schritt zurück – sehr gut, Sera hatte sie fast – jetzt musste sie nur noch etwas Macht demonstrieren. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es funktionieren möge. Dann stand sie aus dem nichts vor den beiden, wirklich übelriechenden Männern. Einer der beiden war so groß und mager, dass er als Vogelscheuche hätte durchgehen können. Der andere war kleiner, doch Sera bemerkte, das der Geruch von verfaulenden Zähnen von ihm ausging. Er zeigte sie ihr mit einem dümmlichen Lächeln. Sera hätte gern ihr Gesicht vor Abscheu verzogen – nicht weil ihre Erscheinung so abstoßend war, sondern weil sie ihr Vorhaben, zwei hilflosen Kindern wehzutun, so niederträchtig fand, dass sie sich hätte übergeben können. Doch das ging jetzt nicht. Stattdessen setzte sie ein möglichst kaltes und überlegenes Gesicht auf und blickte zwischen den Beiden hin und her. Sie machten ein paar Schritte zurück, doch noch rannten sie nicht. Sera würde noch einen drauf legen müssen.
„Geht, solange ich es euch noch erlaube“, sagte sie mit aller Autorität, die sie aufzubieten vermochte, was nun wirklich nicht viel war.
Doch die beiden Männer wurden starr vor Entsetzen und dann nahmen sie, endlich, die Beine in die Hand und rannten, als ginge es um ihr Leben.
Als sie um die nächste Ecke gebogen waren seufzte Sera erleichtert auf. Geht, solange ich es euch noch erlaube – von so etwas absolut übertrieben melodramatischen hatten sie sich einschüchtern lassen. Sera und die beiden Jungen hatten Glück gehabt. Es waren nur zwei Kleinkriminelle gewesen, die die Chance der Stunde nutzen wollten. Niemand von der Organisation.
„Hey, ihr beiden da!“, rief Sera. Jetzt hörte sie sich wieder wie die echte Sera an. Das gutherzige, selbstlose, sture und zugleich kluge Mädchen, das sein Leben lang alles getan hatte um zu überleben, bis ihre Mutter kam, und Sera sich ein neues Ziel setzen musste. Nämlich ihre Mutter glücklich zu machen. Sie klang wie ein Mensch, der sich nie etwas gefallen lies, und wenn es noch so unvernünftig war sich zu wehren. Sie klang wie ein Mensch, der nicht wusste, wann es Zeit war, an sich selbst zu denken. Sie klang wie ein Mensch, der stark war.
Dabei sah sie nicht wirklich so aus. Ihr Gesicht war herzförmig, ihre Augen dunkelgrün und ihre Lippen voll. Auch wenn Sera sich selbst ganz anders sah – sie hielt sich für dürr, verschroben und hässlich. Eigentlich war sie dünn und sportlich – sehr sportlich sogar. Sie hatte, seit sie klein war, Kampfsportarten trainiert und war stolz auf ihre Fähigkeiten, die allerdings von ihren Haaren behindert wurden. Seras Haare waren lang und blond – sie waren sogar so lang, dass sie sie sich zu einem langen Pferdeschwanz hochbinden musste, damit sie ihr nicht bis zur Hüfte reichten. So brav und gehorsam Sera auch war, hatte sie sich die Haare doch nicht den Schulregeln gemäß, schulterlang geschnitten. Ihr Haar war für sie ein wertvolles Erinnerungsstück, und wenn es sie noch so sehr beim Kampf hinderte. Und wenn es ihr noch so viel Energie, die sie eigentlich für das Zaubern benötigte, entzog. Denn es war Seras einzige Erinnerung an ihre wahre Mutter. Als sie kleiner war, sehr viel kleiner, so klein, dass sie sich kaum noch an diese Zeit erinnern konnte, war ihre Mutter schwer krank geworden. Ihr Vater war abgehauen, als Seras Mutter schwanger wurde und so hatte sie sich allein um sich selbst und ihr kleines Kind kümmern müssen. Sie hatte jeden Tag viele Stunden lang gearbeitet um Sera halbwegs anständige Lebensumstände zu ermöglichen. Und jeden Abend, wenn die beiden im Bett lagen, fuhr sie Sera durchs Haar und sagte:
„Schatz, du hast so schöne Haare. Sie sind weich und glänzend. Eines Tages werden dich alle für diese Haare beneiden. Bitte versprich mir, dass du sie dir nie abschneiden wirst. Und immer wenn du sie kämmst, musst du an mich denken, versprochen?
Sie hatte es gewusst. Sie hatte gewusst, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, wenn sie so weitermachte. Aber es war ihr egal gewesen. Sie wollte Sera so lange bei sich behalten, wie es nur ging. Sie dachte nicht daran sie wegzugeben. Und immer wenn ihre neue Mutter das erwähnte und über Seras unvernünftige Mutter schimpfte, musste Sera sich auf die Lippen beißen, um die Stärke und den Mut ihrer echten Mutter nicht lauthals zu loben.
„Wer bist du?“, fragte sie einer der kleinen Jungen verwundert und etwas nervös. Vielleicht hatte ihm ja doch jemand erzählt, wie gefährlich es für ihn war sich einfach so draußen rumzutreiben.
„Ich bin Sera“, antwortete sie freundlich. Sera konnte gut mit Kindern umgehen – sie liebte sie und sie liebten Sera. Nun hob sie ihre Robe mit zwei Fingern an, „Siehst du? Ich bin von derselben Schule wie ihr.“
Der Junge schien sich etwas zu entspannen. Der andere hatte eben erst angefangen zuzuhören, und bekam gerade noch mit, dass Sera eine Schulkameradin war. Er schien sie deshalb für keine Gefahr zu halten und jagte fröhlich einem Schmetterling hinterher.
„Was tut ihr beiden denn hier?“, wollte Sera wissen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie die beiden kleinen Kinder aus der Schule hätten entkommen sollen.
„Ach, unser Bruder hat uns mit in die Stadt genommen und dann haben wir ihn verloren“, erzählte der Junge übermütig.
„Euer Bruder, wie? Wie alt ist er denn?“, fragte Sera neugierig. Sie musste wissen, ob es ein erwachsener Magier, vielleicht sogar ein Lehrer war, oder ein Schüler. Sie wusste, dass Kinder in Begleitung von Magiern, die stark genug waren, um sich zu verteidigen, die Schule hin und wieder verlassen durften. Sera hätte als solcher Magier gegolten, aber nur sehr knapp.
„Er ist 16“, antwortete der kleine Junge ohne zu zögern.
16?! Das war Seras Alter. Sie wusste, dass der Junge definitiv kein ausgebildeter Magier sein konnte, da die Ausbildung immer erst mit 17 abgeschlossen wurde, weil sich in diesem Alter die magischen Kräfte vollständig entwickelten.
„Ich bin auch 16“, sagte sie und lächelte den kleinen Jungen an, „Aber wollen wir nicht lieber zusammen zur Schule zurück gehen? Euer Bruder wird den Weg ja kennen und dann könnt ihr ihn da wieder treffen.“
Der kleine Junge zog seine Stirn in Falten und schien schwer nachzudenken, was schon ziemlich süß aussah.
„Wie heißt ihr überhaupt?“, fragte Sera um den jungen dazu zu bringen, ihr zu vertrauen.
„Ich bin Kanon und das ist Karm“, gab er zur Antwort und schien einen Entschluss zu fassen.
„Karm, wir gehen mit Sera zur Schule zurück“, sagte er bestimmt. Er war ganz offensichtlich mehr zum Anführer geboren als sein unvorsichtiger, aber sehr simple Bruder.
Als Karm angerannt kam und sich neben seinen Bruder stellte, fiel Sera auf, dass sie Zwillinge waren. Beide hatten braune Haare und Augen, glatte helle Haut und niedliche Stupsnasen. Nur ihr Gesichtsaustrug schien sie zu unterscheiden – Karm war fröhlich und gedankenlos, während Kanon ernster schien. Wenn sie älter waren würde man sie sehr einfach auseinander halten können.
„Hey, ich bin Sera“, stellte sich Sera Karm vor, da sie wusste, dass der Junge nicht aufgepasst hatte, „und du bist Karm, stimmt's?“
„Ja, stimmt“, antwortete der Junge mit einem fröhlichen Lächeln und begann um sie herum hüpfen: „Wo ist denn Riven?“
„Riven? Ist das euer Bruder?“, fragte Sera und Kanon nickte.
„Der ist wahrscheinlich im Moment auf der Suche nach euch. Aber wenn er euch nicht finden kann, wird er bestimmt zur Schule zurück kommen, um euch als vermisst zu melden und dann seit ihr schon wieder da, okay?“, erklärte Sera sanft und die Jungen schienen zu verstehen.
„Dann lasst uns gehen“, fügte sie hinzu, stellte sich gerade hin und wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als die beiden Jungen, zu ihrer großen Überraschung, ihre Hände ergriffen – an jeder Seite einer.
Als die kleinen Hände sanft, schüchtern und ängstlich ihre ergriffen, wurde Sera klar, dass die beiden sich schrecklich gefürchtet haben mussten. Sie waren schließlich ganz allein gewesen.
Zärtlich erwiderte sie den Händedruck und ging mit den beiden los.
Sera hatte sich zuvor den Hügel hinunter teleportiert, was bedeutete, dass sie jetzt einen etwas längeren Umweg nehmen mussten, da Sera nicht noch einmal unerlaubt Magie einsetzen wollte um sich mit den Jungen wieder hoch zu porten und ihnen andererseits nicht den Aufstieg zumuten konnte. Zu spät würden sie sowieso kommen – da zählten fünf Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr.
Und so gingen sie durch die Stadt, die mit schönen, mittelalterlichen, größtenteils weißen Häusern ausgestattet war. Die Straßen waren einfach und sauber, was bewies, dass der größte Anteil der Bürger sehr reich war. Natürlich lebten hier keine Gossen-Kinder.
Bestimmt schritt Sera aus, als sie sich der Schule näherten. Sie straffte ihre Schultern und machte sich bereit, ausgeschimpft zu werden.
Die Schule bestand aus einem großen, grauen Hauptgebäude, das sechs Stockwerke besaß und innen nach einem komplizierten, spiralförmigen System aufgebaut war, einem Garten und überhaupt sehr vielen Wiesen, einem Quartier für die Magier, in dem jeder vollständig ausgebildete Magier wohnen konnte, wenn er wollte, der Villa des Direktors der Schule, die im tiefsten Schwarz gestrichen war um zu zeigen, dass der Direktor der stärkste aller Magier war, dem Wohnhaus der Novizen, dass innerhalb nach Geschlechtern aufgetrennt war und dem Friedhof der Magier. Das Alles war von einer großen, magischen Mauer aus Stein umgeben, an der mehrere Kirschbäume wuchsen.
Es gab nur einen Eingang, ein breites, stählernes Tor, und auf genau dieses gingen Sera und die Zwillinge jetzt zu.
Sera hatte den ganzen Weg über immer darauf geachtet, ob sie irgendjemand beobachtete – Magier, die zwei schwache und hilflose Zwerge herumführten, die ihnen bei einem Kampf nur im Weg herum stehen würden, waren leichte Beute. Und die Tatsache, dass die Schule immer näher kam, machte die Situation keineswegs sicherer, nein, sogar gefährlicher, denn vor der Schule lungerten immer ein, zwei Menschenhändler herum.
Als Sera und die beiden Kinder kaum noch zwei Meter vom Tor entfernt waren, und Sera langsam anfing sich zu entspannen, blieb Karm urplötzlich stehen.
Auf das schlimmste gefasst wirbelte Sera herum, wobei sie Kanons Hand losließ um jegliche Art von Angreifer sofort mit einer körperlichen Attacke außer Gefecht setzen zu können.
Doch da war niemand.
„Riven!“, rief Karm und zeigte nach oben auf einen der Kirschbäumen.
Verwirrt blickte Sera auf den Baum. Dort lag auf einem besonders breiten Ast, nahe der Baumkrone, ein Junge. Er trug eine Robe, die schwärzer war als jede andere Robe, die ich je gesehen hatte – auch al die des Schulleiters. Außerdem hing um seinen Hals eine silberne Kette mit einem eigenartigen, schlüsselartigen Zeichen, die auf dem schwarzen Stoff sehr hervorstach. Eigentlich war es verboten seine Roben besonders auszuschmücken. Er hatte schwarze, wirre Haare, zarte Lippen und eine schöne Nase. Oder so empfand es Sera zumindest. Seine Augenfarbe konnte sie nicht erkennen, denn seine Augen waren geschlossen – er schlief.
Auf einmal kochte Wut in Sera auf – er schlief während seine kleinen Brüder hilf- und wehrlos in der Stadt herumliefen?
„HEY!“, schrie sie, um ihn aufzuwecken, möglichst so, dass er vom Baum fiel.
Doch der Junge schlug seelenruhig die Augen auf und blickte auf sie herab, wie sie dort unten neben seinen kleinen Brüdern die begeistert seinen Namen riefen die Hände zu Fäusten ballte und sich wünschte, ihm eine reinzuhauen.
„Kanon. Karm“, stellte der Junge ruhig fest, dann warf er Sera einen Blick zu und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Sie wollte ihm gerade zurufen, dass er gefälligst von diesem elenden Baum herunterkommen solle, als er sich von selbst herunter schwang – er umfasste den Ast auf dem er saß einfach mit einer Hand und im nu war er unten, und stand verdammt nah vor Sera. Er beugte sein Gesicht immer weiter auf sie zu, so dass sie ihren Kopf zurückziehen musste, und schließlich einen Schritt zurück macht. Seine Augen waren schwarz – so schwarz wie seine Robe.
„Hast du die beiden zurück gebracht?“, fragte er.
Sera lief rot. Sie war es nicht gewohnt, das Gesicht eines Jungen so nah vor ihrem zu haben.
Doch dann kam wieder ihr Selbstbewusstsein zum Vorschein.
„Ja – und du solltest deine Brüder nicht allein in der Stadt lassen – es ist gefährlich!“, antwortete sie, immer noch wütend.
„Sie sind nicht meine Brüder“, gab Riven zur Antwort, „aber ich muss trotzdem auf sie aufpassen. Also vielen Dank, Prinzessin.“
Mit diesen Worten nahm er ihre Hand in sein und küsste sie.
Ein Kuss auf die Hand? Er war nicht ihr Bruder? Prinzessin?
Sera war mehr als verwirrt, aber was sie begriff, war, dass dieser Junge ihr für ihren Geschmack zu nahe gekommen war.
Als Riven sich wieder aufrichtete und sein Gesicht ihr wieder so nahe kam sah Sera schwarz. Blitzschnell nutze sie die Hand, die noch immer in Rivens lag, packte ihn am Arm und warf ihn über ihr Hüfte hinter sich. Sein Widerstand war nur gering – er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich wehren würde, und deswegen flog er jetzt durch die Luft.
Mist!, dachte Sera, einen Bruchteil einer Sekunde nachdem sie ihn losgelassen hatte. Sie hatte ihn bestimmt verletzt. Das hatte sie nicht gewollt – das Ganze war eine reine Affekthandlung gewesen. Sie nutzte ihre Kampfkünste eigentlich nur selten und noch nie hatte sie sie gegen einen wehrlosen Gegner verwendet.
Sie drehte sich herum, um ihm aufzuhelfen und sich für ihre heftige Reaktion zu entschuldigen und bekam gerade noch mit, wie er sich in der Luft drehte und elegant zwei Meter hinter ihr auf seinen Füßen landete.
„Riven!“, schrien Karm und Kanon wie aus einem Munde und rannten zu ihm, um nach ihm zu sehen.
„Oh Gott, es tut mir leid“, rief auch Sera und rannte den Jungen hinterher um sich bei Riven zu entschuldigen. Sie war zwar beeindruckt, dass er sicher gelandet war, aber das änderte nichts daran, dass sie etwas falsch gemacht hatte.
Schnell war sie bei ihm und stand ihm direkt gegenüber.
„Hab ich dir weh getan? Oh Gott, dass wollte ich ehrlich nicht, du hast mich nur erschreckt!“, geriet sie immer mehr in Panik.
„Ist schon in Ordnung, Prinzessin, ich habe mich nicht verletzt“, gab Riven grinsend zur Antwort.
Wieder dieses Prinzessin! Sera hatte in ihrem ganzen Leben noch niemand Prinzessin genannt – und Gott wusste, dass sie alles andere als eine Prinzessin war!
Aber das war jetzt nicht so wichtig – wenn er sie um jeden Preis Prinzessin nennen wollte, dann sollte er ruhig! Aber was zählte, war die Sache mit dem Bruder.
„Warte! Die Beiden haben gesagt du seiest ihr Bruder, aber du sagst, du bist nicht ihr Bruder, musst aber auf sie aufpassen – was bist du jetzt?!“
„Ich bin… so was wie ihr Bodyguard“, gab er zur Antwort, immer noch mit diesem nervigen Grinsen auf den Lippen, „sie nennen mich nur Bruder, weil sie nicht verstehen, wofür ich da bin und es so einfacher für sie ist.“
Ein magischer Bodyguard also? Davon hatte Sera noch nie gehört.
„Wofür brauchen die beiden überhaupt einen Bodyguard? Sie müssten doch nur in der Schule bleiben und…“, setzte sie an, als ihr plötzlich etwas einfiel, „Warte! Wenn du ihr Bodyguard bist, ist das Ganze ja noch schlimmer! Wie kannst du sie alleine in der Stadt herumrennen lassen ohne sie überhaupt zu suchen?!“
Riven grinste immer noch so verdammt nervig, und jetzt näherte er sein Gesicht wieder dem von Sera.
„Mir wurde nie gesagt, dass ich immer neben ihnen stehen soll – nur dass ich auf sie aufpassen sollte. Und wie mir befohlen wurde, habe ich sie nicht aus den Augen verloren und hätte eingegriffen, wäre es notwendig gewesen. Apropos, Prinzessin, „Geht, solange ich es euch noch erlaube“? War das nicht etwas übertrieben? Obwohl ich zugeben muss, dass mir sogar diese Worte aus eurem Mund gefallen haben.“
Sera lief so rot an, wie man überhaupt rot anlaufen konnte.
Er war also die ganze Zeit über dort gewesen. Dann hatte er auf dem Ast wahrscheinlich auch gar nicht geschlafen, sondern nur so getan. Und… wieso hatte Sera seine Präsenz eigentlich nicht spüren können? Für gewöhnlich konnte sie die Präsenz eines jeden um sie herum spüren – sogar der Rektor entzog sich dieser Fähigkeit nicht. Aber dieser Junge war ihr zweimal entkommen. Und wenn sie es genau nahm, konnte sie seine Präsenz auch jetzt nicht spüren.
Was Sera jetzt aber viel wichtiger war, war die Tatsache, dass er sie belauscht hatte. Sie verspürte erneut den Drang ihm eine Ohrfeige zu verpassen – aber dieses Mal würde sie sich unter Kontrolle halten. Stattdessen ballte sie die Fäuste und senkte den Hochroten Kopf.
Plötzlich legten sich sanfte Finger auf ihr Kinn und hoben ihren Kopf erneut an.
„Das muss euch nicht peinlich sein, Prinzessin. Es zeigt nur wie stark Ihr seid“, flüsterte Riven Sera zu. Sein Gesicht war nur Millimeter von ihrem entfernt. Sera schaffte das Unmögliche und lief noch eine Nummer roter an.
„Hau ab!“, schrie sie, als sie ihm einen gut gezielten Kinnhacken verpasste und ihn fliegen schickte.
Nicht schon wieder! Wie konnte sie zweimal und noch dazu so kurz hintereinander die Kontrolle verlieren? Sera machte sich ernsthaft sorgen – wieso konnte dieser Junge sie so einfach reizen? Jetzt musste sie sich wieder entschuldigen. Dafür hatte sie ihn dieses Mal aber wenigstens auch richtig erwischt.
Doch Riven flog nicht einfach auf den Rücken, nein, stattdessen legte er einen Rückwärtssalto hin und landete genauso elegant wie zuvor auf seinen Füßen. Wie sportlich war er eigentlich?
„Entschuldigung“, murmelte Sera, diesmal nicht einmal ansatzweise so reuevoll wie beim ersten Mal. Sie war immer noch wütend und genauso rot wie bevor und sah dieses Mal ernsthaft keinen Grund sich zu entschuldigen, allerdings sagte ihr Verstand, dass man sich entschuldigen musste, wenn man jemanden schlug. Nur deshalb entschuldigte sie sich überhaupt.
Aber auf einmal zuckte Seras Kopf, den sie bis dahin absichtlich wieder gesenkt hatte, in die Höhe. Diese Präsenz…
„SERAPHINA!“, brüllte Meister Conites hinter Sera ihren vollständigen Vornamen und kam durch das große Tor auf sie zugelaufen.
Meister Conites war ein schlanker Mann in seinen Vierzigern mit Halbglatze, Brille und spitzer Nase. Ein Magierlehrer wie aus dem Buche geschnitten. Und genau das war er – er unterrichtete die 16-jährigen, zu denen ja auch Sera zählte. Wegen ihm hatte Sera sich auch solche Sorgen gemacht, noch pünktlich zu sein. Und hier stand sie mit immer noch erhobener Faust vor einem Jungen, der mit seiner Kette gegen eine Regel verstieß, zwei kleinen Kindern, die zwar verwirrt dreinblickten, aber höchstwahrscheinlich ohne Erlaubnis die Schule verlassen hatten, und war puderrot. Nicht zu vergessen, dass sie mindestens eine Stunde zu spät war.
„Meister Conites!“, rief Sera erschrocken und straffte ihr Haltung auf der Stelle.
„Seraphina, was tust du hier?“, fragte Meister Conites sie, als er die Situation überblickt hatte.
„Das ist mein Fehler. Ich habe diese beiden hier aus den Augen verloren und die Prinzessin hat sie zurück gebracht“, stoppte Riven Sera, noch ehe sie ihren Satz beginnen konnte, indem er auf die Zwillinge zeigte.
Wieso log er?
Die Zwillinge, die wohl aus Seras und Rivens Unterhaltung heraus verstanden hatten, dass Riven mit „Prinzessin“ Sera meinte, nickten wie wild, als wollten sie Wahrheit dieses Satzes unterstreichen.
Wieder lief Sera rot an – wie konnte Riven sie so offen vor einem vollständig ausgebildeten Magier „Prinzessin“ nennen?
Sera hatte erwartet, dass diese Aussage Meister Conites nur noch mehr verwirren würde, doch stattdessen warf er einen entsetzten Blick auf die Zwillinge und dann auf Riven.
„Meister Kanon, Meister Karm! Und Lord Nalishian! Wann seid Ihr angekommen? Hattet ihr eine angenehme Reise? Ich hoffe doch, es gab keine Schwierigkeiten!“, rief Conites unterwürfig.
So hatte Sera ihn noch nie gesehen – der für gewöhnlich so erhabene und strenge Lehrer wurde klein und schwach in der Anwesenheit von Kanon, Karm und Lord Riven Nalishian? Und wieso hatte er Kanon und Karm „Meister“ genannt, obwohl sie noch am Anfang ihrer Ausbildung standen und er selbst ein Magier war? Wieso sprach er Riven nicht auf seine Kette an? Und wo war Rivens freche, unverschämte Art hin und wo kam dieses reife, erwachsene Verhalten her? Und jetzt fiel Sera auch wieder ein, dass Riven doch erst 16 war – wieso trug er schwarze Roben? Das war unmöglich!
Was soll das alles überhaupt?
Sera verstand die Welt nicht mehr.
„Meister Conites…“, fing sie ihre Frage an.
„Ach ja, Seraphina, du bist ja auch noch hier!“, rief Conites und sprang zerstreut zu ihr herum, fast als hätte er ihre Anwesenheit vollständig vergessen.
„Da du den jungen Meistern und Lord Nalishian geholfen hast, werde ich von einer Bestrafung absehen“, erklärte er, wieder etwas ruhiger und offensichtlich ganz in seinem Element, „Geh jetzt zum Wohnhaus der Novizen zurück!“
Sera begriff zwar nicht, was hier vor sich ging, und für gewöhnlich hätte sie genau das getan, was Conites von ihr verlangt hätte, aber dieses Mal nicht. Er war irgendwie geschwächt – nicht mehr so streng. Und Sera hatte guten Grund, diese Situation auszunutzen, auch wenn sie es nur ungern tat. Aber was sein muss, muss sein.
„Meister Conites, was ist jetzt eigentlich mit meinem Besuch bei meiner Mutter?“, fragte sie und schämte sich dafür, so etwas Hinterhältiges zu tun.
Conites, der sich eigentlich gerade wieder zu Riven hatte umdrehen wollen, wirbelte noch einmal herum – verschwunden war all seine Ruhe und seine Zerstreutheit war zurück gekehrt.
„Ja, natürlich“, fing er an, ganz offensichtlich darauf bedacht, Sera möglichst schnell los zu werden, um sich um Riven und die Zwillinge zu kümmern, „du kannst sie morgen nach dem Unterricht besuchen. Und jetzt geh bitte.“
Endlich!, dachte Sera und wäre Conites am liebsten vor lauter Dankbarkeit und Freude um den Hals gesprungen.
„Vielen Dank, Meister Conites, und gute Nacht“, sagte sie stattdessen ruhig und reserviert, allerdings lief sie vor lauter Glück rot an.
Dann wandte sie sich Riven und den Kindern zu – wie sollte sie sich von ihnen verabschieden? Sollte sie sie auch Meister und Lord nennen? Nein, das ergab für Sera keinen Sinn.
„Gute Nacht, Karm, Kanon. Passt auf euch auf und rennt nicht alleine herum!“, sagte sie und beugte sich zu den beiden hinab um ihre Haare zu verwuscheln.
„Gute Nacht, Sera!“, antworteten sie gleichzeitig und lachten ein unschuldiges Kinderlachen auf das Sera einfach mit einem Lächeln reagieren musste.
Dann richtete sie sich auf – was sollte sie zu Riven sagen? Am besten, sie machte das Ganze möglichst kurz und sah ihn nie wieder.
„Gute Nacht“, sagte sie einfach und sah ihm in die Augen – verdammt hübsche Augen, musste sie zugeben.
„Gute Nacht, Prinzessin“, antwortete Riven und verbeugte sich, so als wäre Sera wirklich eine Prinzessin, „Wir sehen uns hoffentlich wieder.“
War er nicht selbst ein Lord? Wieso verneigte er sich dann vor ihr? Und hoffte er wirklich auf ein Wiedersehen?
Sera lief erneut rot an, doch es war schon ein hellerer Ton.
Dann drehte, sie sich ohne ein weiteres Wort zu sagen um und schritt schnell aus. Kaum war sie innerhalb der Mauern drehte sie sich herum und lief auf das Wohnhaus der Novizen zu. Sie musste noch trainieren, und wenn sie sich nicht irrte, hatte sie dafür gerade noch Zeit.
Das Wohnhaus der Novizen waren eigentlich eher zwei große, braune Gebäude aus Holz, die durch einen einzigen, schmalen Gang, der nur Glaswände besaß, verbunden waren. Das konnte man Geschlechtertrennung nennen.
Jeder Teil des Gebäudes besaß Baderäume, Schlafzimmer, in den meistens um die 10 Leute unterkamen, ein Schwimmbad, eine Sauna und einen Dojo. Und auf genau diesen Dojo im teil der Mädchen lief Sera zu.
Es gab zu diesem Dojo einen besonderen Eingang, der direkt von außerhalb in die Umkleideräume führte. Allerdings hatten nur wenige Schüler einen Schlüssel zu diesem Raum. Sera zählte zu diesen wenigen Schülern und so eilte sie jetzt durch die Bäume, die neben dem Wohnhaus standen, bis sie schließlich an der Tür ankam.
Vie es an dieser Schule zu erwarten war, war der Schlüssel natürlich kein einfaches Stück Metall und die Tür keine normale Tür. Wenn jemand sie suchen würde, könnte er sie nicht finden, da sie sich perfekt an die Außenwand des Wohnhauses anpasste. Aber Sera wusste ganz genau wo sie lag und so sprach sie, als sie an dieser Stelle angekommen war, schnell eine Zauberformel um sie zu öffnen.
Die Wand klappte einfach auf und erlaubte den Blick auf eine Umkleidekabine. Schnell sprang Sera hinein und die Tür klappte hinter ihr wieder zu.
Sera musste sich beeilen – sie hatte nicht mehr viel Zeit um noch als pünktlich zu gelten. Sie riss sich die Klamotten förmlich vom Leib und sprang gerade zu in ihren Kampfsortaufzug, der simpel und weiß war – er erinnerte stark an einen Karateanzug, war aber keiner.
Als sie fertig war, riss sie eine normale Tür auf und stürmte gerade zu in den Dojo, der eigentlich nur ein großer Raum aus Holz mit Parkettboden war.
Hier warteten schon ein paar Mädchen und trainierten miteinander, während ihr Lehrer, ein großer, muskulöser Mann mit schwarzen, kurzen Haaren um die dreißig daneben stand, ihnen zusah und hin und wieder irgendwelche Anweisungen dazwischen ruf.
„Direktor Ralion“, begrüßte Sera ihn.
Der Direktor mochte als mächtigster Magier gelten, doch er war eigentlich ein recht simpler und freundlich Mann, der zwar auch seine erwachsene Reife Seite hatte, aber auch sehr kindlich und wie ein Trunkenbold erscheinen konnte.
„Sera. Du bist spät.“
Das war seine ernste Seite. Er hatte sich zu ihr umgewendet und betrachtete sie mit verschränkten Armen.
„Es tut mir leid. Ich wurde aufgehalten“, antwortete Sera wahrheitsgetreu.
„Schon gut“, sagte der Direktor und lächelte sie an, „dafür sollten wir dein Training aber sofort beginnen.
„Ja“, antwortete Sera und nahm Kampfstellung ein.
Sie war im Kampsport sehr gut ausgebildet und keine ihrer Mitschülerinnen konnte mit ihr mithalten, weswegen sie immer gegen den Direktor antrat, wenn es zum direkten Training kam. Und das war heute ihre Aufgabe.
Natürlich war der Direktor auch sehr gut, um es genau zu nehmen besser als Sera, aber sie schaffte es jedes Mal aufs Neue ihm einen guten Kampf hinzulegen. Doch nicht heute.
Meister Karm und Meister Kanon, während sie versuchte den Direktor mit einem seitlichen Tritt zu erwischen, unter dem er sich einfach hinweg duckte und ihr Bein ergriff.
Wer sind die beiden?, fragte sie sich innerlich als sie ihr Bein nach unten bewegte um ihm einen direkten Treffer auf den Kopf zu verpassen.
Und Riven ist ein Lord?, fragte sie sich, als der Direktor sich unter ihrem Tritt davon kugelte.
Was für ein toller Lord!, wurde sie wütend, während sie dem Direktor mit einem schlag hinterher hechtete.
Wie kann er ein Lord sein?, zweifelte sie wieder, als der Direktor ihren Arm ergriff und sie auf den Boden warf.
Und wenn er ein Lord ist, wieso ist er ein Bodyguard?, versuchte sie die Situation zu begreifen, während sie dem Direktor einen direkten Tritt von unten ins Gesicht verpasste, der sein Ziel nicht verfehlte.
Hat er mich belogen?!, zürnte sie, während der Direktor, der sich schnell erholt hatte, ihren linken Arm ergriff und auf ihren Rücken drehte.
Dieser…!!!!, tobte Sera schließlich und warf den Direktor mit exakt dem gleichen Überwurf auf den Rücken, wie sie es zuvor mit Riven gemacht hatte. Und genau wie Riven landete er auf den Füßen.
Seras Kopf war wieder hochrot und sie schien vor Wut nur so zu kochen.
„Sera, du bist nicht bei der Sache“, unterbrach der Direktor ihre Gedanken, die verrückt zu werden schienen.
„Entschuldigung!“, rief Sera als sie begriff, dass sie sich überhaupt nicht konzentriert hatte, „ich habe an etwas völlig anderes gedacht.“
Die Direktor sah sie besorgt an: „Ich glaube, haute hat es keinen Sinn, wenn du trainierst. Wir setzen das Ganze morgen fort.“
„Ah, tut mir leid, aber morgen kann ich nicht. Meister Conites hat mir die Erlaubnis erteilt, meine Mutter zu besuchen“, fiel es Sera wieder ein und sie war im Begriff sich erneut zu entschuldigen.
„Ach, deine Mutter!“, sagte der Direktor mit einem mitleidigen Lächeln auf den Lippen, „Wieso hast du nicht einfach mich um Erlaubnis gebeten?“
„Ich könnte die Tatsache, dass ich sie kenne nicht so einfach ausnutzen. Anderen Schülern ist das schließlich auch nicht möglich“, antwortete Sera ehrlich. Sie war immer darauf bedacht, fair mit allen umzugehen und niemanden zurückstecken zu lassen.
Der Direktor und sie standen sich jetzt gegenüber.
„Haha1“, lachte der Direktor, „das passt zu dir! Aber geh jetzt besser. Heute kann man mit dir nichts anfangen!“
„Gut, Direktor Ralion“, antwortete Sera und wandte sich ab.
Wer hätte gedacht, dass sie den Umkleideraum schon so bald wieder betreten würde?
Es war ihr sehr peinlich, dass ausgerechnet Riven sie so hatte ablenken können! Aber das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern.
Seufzend zog sich Sera erneut um und ging – dieses Mal durch das Gebäude, das überall so ziemlich gleich aussah – zu den Baderäumen.
Hier waren magische Duschen aufgestellt, die Sera einfach liebte. Nichts war schöner als das Gefühl von warmen Wasser, das über ihre Haut lief.
Als sie fertig war, warf sie sich in ihr Nachthemd und ging in ihren Schlafsaal. Die meisten Mädchen rannten noch im Gebäude herum, doch Sera hielt sich an die Regel und lag pünktlich im Bett.
Schließlich war sie im Gegensatz zu den anderen Schülern nicht aus einem reichen Haus, sondern nur ein Gossen-Kind, dass all diesen Luxus mehr als nur zu schätzen wusste. Sie war wohl die einzige, die das alles nicht als selbstverständlich ansah.
Dieser Riven war bestimmt auch nur einer dieser verwöhnten Bengel, die ihre Kindheit noch nicht hinter sich gelassen hatten, da war sich Sera sicher. Aber war da nicht etwas in seinen Augen gewesen, das eher nach einem anderen Charakter aussah? Sera wusste es nicht. Aber wenn sie ehrlich war, interessierte es sie sehr.
Verärgert eilte sie durch die Straßen der Stadt, in der Hoffnung, vielleicht doch noch vor den meisten Anderen anzukommen. Oder wenigstens rechtzeitig. Sie hatte sich auf dem Markt verloren, als all die bunten Stände um sie herum aufgetaucht waren und diese Leute in den albernen Aufmachungen ihr dies und das angeboten hatten. Doch wirklich angefangen ihre Zeit zu verschwenden hatte sie erst, als sie ein armes Kind, vermutlich ein Gossen-Kind, wie Seras Mitschüler sie nannten, entdeckt hatte. Das arme Ding hatte Lumpen getragen und war ganz abgemagert gewesen. Es hatte den Apfel, den Sera sich wenige Sekunden zuvor gekauft hatte mit sehnsüchtigen Augen angestarrt. Es hatte Sera an sie selbst erinnert, dieses hungrige Kind, dessen Geschlecht sie unter den Lumpen nicht hatte erkennen können. An sie, bevor ihre Mutter sie aufnahm und in die „Schule“ steckte. Sie hatte ihm den Apfel geben wollen. Doch kaum hatte sie eine Bewegung auf es zu gemacht, hatte es die Flucht ergriffen, in panischer Angst. Sie hatte den Apfel dann auf den Boden gelegt. Ihr war der Appetit vergangen. Sie wollte wirklich nicht wissen, was man schon mit diesem armen kleinen Kind gemacht hatte, dass eine einzige Bewegung von ihr es so erschreckte.
Seufzend beschleunigte Sera ihre Schritte. Langsam senkte sich ein tiefer Schatten über die Stadt und sie wollte auf keinen Fall von der Dunkelheit überrascht werden. Einerseits, weil sie dann großen Ärger bekommen würde, andererseits, hätte sie dann keinerlei Chance mehr ihre Mutter zu besuchen. Also besser schnell zurück zu den Wohneinrichtungen der „Schule“.
„Sieh mal, Karm, hier wachsen tolle Blumen!“, rief eine Kinderstimme durch die Stille des Abends.
Verwundert drehte Sera sich von der Straße weg und sah den leichten, mit Blumen und Gras überwachsenen Abhang neben ihr hinunter.
Dort unten spielten zwei kleine Jungen auf der Wiese. In ihren schneeweißen Roben sahen sie aus der Ferne wie zwei kleine Engel aus.
Sera schnappte laut nach Luft. Was machten zwei Jungen in weißen Roben hier? Sie müssten in der „Schule“ sein und üben! Nein, stattdessen brüllten sie hier herum und zeigten jedem, was sie waren!
Entsetzt blickte Sera sich um – waren schon irgendwo seltsame Gestalten in Sicht?
Um sie herum wirkte alles normal, doch sie konnte, ein paar Häuser weiter in einer schmalen Seitengasse, zwei Männer erspähen, die die Jungen verdächtig beäugten.
Sera kam es so vor, als befände sie sich in der schlimmstmöglichen Position. Sie hatte keine Ahnung was sie nun tun sollte. Es blieb keine Zeit, irgendjemanden zur Hilfe zu holen. Sie wusste nämlich sehr genau, was die beiden Männer mit den Jungen vorhatten. Sie wollten sie entführen und, für sehr viel Geld wahrscheinlich, an den Meistbietenden verkaufen. Denn auch wenn die beiden noch weiße Roben trugen hatten sie doch schon die ersten und, nach Seras Meinung, die schwersten und wichtigsten Schritte auf ihrem Weg zum Magier gemacht. Deshalb waren sie auch so einfache Opfer – sie besaßen schon Magie, was sie wertvoll machte, waren aber im Umgang damit noch so ungeübt, dass sie zu entführen kein großes Problem darstellte.
Sera wusste, dass es ihre Pflicht war zu handeln. Ihre Roben waren schon dunkelgrau. Jemand, der nicht genau hinsah, konnte es leicht für schwarz halten. Sie war stark genug die Männer schwer zu verletzen und zu vertreiben, doch dass würde ihr keine Pluspunkte einbringen. Sie hätte auch einfach weitergehen können und so tun, als hätte sie all das hier nicht gesehen. Das wäre wahrscheinlich der einfachste Weg, doch dann würde sie sich schlecht fühlen, weil es einfach falsch war. Sie musste etwas tun. Ihr kam eine Idee.
Plötzlich hustete sie laut und vernehmlich. Die Jungen schienen sie nicht zu bemerken, doch die Köpfe der beiden Männer fuhren wie Schnappschildkröten in die Höhe. Sera musste jetzt wirklich, wirklich cool wirken, was im Allgemeinen eigentlich nicht ihre Stärke war. Sie sah die Männer direkt an. Sie zuckten zusammen.
Aus der Ferne und im Dunkeln musste Sera wie eine voll ausgebildete Magierin erscheinen, die über ihre Schützlinge wachte. Die Männer taten einen Schritt zurück – sehr gut, Sera hatte sie fast – jetzt musste sie nur noch etwas Macht demonstrieren. Sie sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es funktionieren möge. Dann stand sie aus dem nichts vor den beiden, wirklich übelriechenden Männern. Einer der beiden war so groß und mager, dass er als Vogelscheuche hätte durchgehen können. Der andere war kleiner, doch Sera bemerkte, das der Geruch von verfaulenden Zähnen von ihm ausging. Er zeigte sie ihr mit einem dümmlichen Lächeln. Sera hätte gern ihr Gesicht vor Abscheu verzogen – nicht weil ihre Erscheinung so abstoßend war, sondern weil sie ihr Vorhaben, zwei hilflosen Kindern wehzutun, so niederträchtig fand, dass sie sich hätte übergeben können. Doch das ging jetzt nicht. Stattdessen setzte sie ein möglichst kaltes und überlegenes Gesicht auf und blickte zwischen den Beiden hin und her. Sie machten ein paar Schritte zurück, doch noch rannten sie nicht. Sera würde noch einen drauf legen müssen.
„Geht, solange ich es euch noch erlaube“, sagte sie mit aller Autorität, die sie aufzubieten vermochte, was nun wirklich nicht viel war.
Doch die beiden Männer wurden starr vor Entsetzen und dann nahmen sie, endlich, die Beine in die Hand und rannten, als ginge es um ihr Leben.
Als sie um die nächste Ecke gebogen waren seufzte Sera erleichtert auf. Geht, solange ich es euch noch erlaube – von so etwas absolut übertrieben melodramatischen hatten sie sich einschüchtern lassen. Sera und die beiden Jungen hatten Glück gehabt. Es waren nur zwei Kleinkriminelle gewesen, die die Chance der Stunde nutzen wollten. Niemand von der Organisation.
„Hey, ihr beiden da!“, rief Sera. Jetzt hörte sie sich wieder wie die echte Sera an. Das gutherzige, selbstlose, sture und zugleich kluge Mädchen, das sein Leben lang alles getan hatte um zu überleben, bis ihre Mutter kam, und Sera sich ein neues Ziel setzen musste. Nämlich ihre Mutter glücklich zu machen. Sie klang wie ein Mensch, der sich nie etwas gefallen lies, und wenn es noch so unvernünftig war sich zu wehren. Sie klang wie ein Mensch, der nicht wusste, wann es Zeit war, an sich selbst zu denken. Sie klang wie ein Mensch, der stark war.
Dabei sah sie nicht wirklich so aus. Ihr Gesicht war herzförmig, ihre Augen dunkelgrün und ihre Lippen voll. Auch wenn Sera sich selbst ganz anders sah – sie hielt sich für dürr, verschroben und hässlich. Eigentlich war sie dünn und sportlich – sehr sportlich sogar. Sie hatte, seit sie klein war, Kampfsportarten trainiert und war stolz auf ihre Fähigkeiten, die allerdings von ihren Haaren behindert wurden. Seras Haare waren lang und blond – sie waren sogar so lang, dass sie sie sich zu einem langen Pferdeschwanz hochbinden musste, damit sie ihr nicht bis zur Hüfte reichten. So brav und gehorsam Sera auch war, hatte sie sich die Haare doch nicht den Schulregeln gemäß, schulterlang geschnitten. Ihr Haar war für sie ein wertvolles Erinnerungsstück, und wenn es sie noch so sehr beim Kampf hinderte. Und wenn es ihr noch so viel Energie, die sie eigentlich für das Zaubern benötigte, entzog. Denn es war Seras einzige Erinnerung an ihre wahre Mutter. Als sie kleiner war, sehr viel kleiner, so klein, dass sie sich kaum noch an diese Zeit erinnern konnte, war ihre Mutter schwer krank geworden. Ihr Vater war abgehauen, als Seras Mutter schwanger wurde und so hatte sie sich allein um sich selbst und ihr kleines Kind kümmern müssen. Sie hatte jeden Tag viele Stunden lang gearbeitet um Sera halbwegs anständige Lebensumstände zu ermöglichen. Und jeden Abend, wenn die beiden im Bett lagen, fuhr sie Sera durchs Haar und sagte:
„Schatz, du hast so schöne Haare. Sie sind weich und glänzend. Eines Tages werden dich alle für diese Haare beneiden. Bitte versprich mir, dass du sie dir nie abschneiden wirst. Und immer wenn du sie kämmst, musst du an mich denken, versprochen?
Sie hatte es gewusst. Sie hatte gewusst, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, wenn sie so weitermachte. Aber es war ihr egal gewesen. Sie wollte Sera so lange bei sich behalten, wie es nur ging. Sie dachte nicht daran sie wegzugeben. Und immer wenn ihre neue Mutter das erwähnte und über Seras unvernünftige Mutter schimpfte, musste Sera sich auf die Lippen beißen, um die Stärke und den Mut ihrer echten Mutter nicht lauthals zu loben.
„Wer bist du?“, fragte sie einer der kleinen Jungen verwundert und etwas nervös. Vielleicht hatte ihm ja doch jemand erzählt, wie gefährlich es für ihn war sich einfach so draußen rumzutreiben.
„Ich bin Sera“, antwortete sie freundlich. Sera konnte gut mit Kindern umgehen – sie liebte sie und sie liebten Sera. Nun hob sie ihre Robe mit zwei Fingern an, „Siehst du? Ich bin von derselben Schule wie ihr.“
Der Junge schien sich etwas zu entspannen. Der andere hatte eben erst angefangen zuzuhören, und bekam gerade noch mit, dass Sera eine Schulkameradin war. Er schien sie deshalb für keine Gefahr zu halten und jagte fröhlich einem Schmetterling hinterher.
„Was tut ihr beiden denn hier?“, wollte Sera wissen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie die beiden kleinen Kinder aus der Schule hätten entkommen sollen.
„Ach, unser Bruder hat uns mit in die Stadt genommen und dann haben wir ihn verloren“, erzählte der Junge übermütig.
„Euer Bruder, wie? Wie alt ist er denn?“, fragte Sera neugierig. Sie musste wissen, ob es ein erwachsener Magier, vielleicht sogar ein Lehrer war, oder ein Schüler. Sie wusste, dass Kinder in Begleitung von Magiern, die stark genug waren, um sich zu verteidigen, die Schule hin und wieder verlassen durften. Sera hätte als solcher Magier gegolten, aber nur sehr knapp.
„Er ist 16“, antwortete der kleine Junge ohne zu zögern.
16?! Das war Seras Alter. Sie wusste, dass der Junge definitiv kein ausgebildeter Magier sein konnte, da die Ausbildung immer erst mit 17 abgeschlossen wurde, weil sich in diesem Alter die magischen Kräfte vollständig entwickelten.
„Ich bin auch 16“, sagte sie und lächelte den kleinen Jungen an, „Aber wollen wir nicht lieber zusammen zur Schule zurück gehen? Euer Bruder wird den Weg ja kennen und dann könnt ihr ihn da wieder treffen.“
Der kleine Junge zog seine Stirn in Falten und schien schwer nachzudenken, was schon ziemlich süß aussah.
„Wie heißt ihr überhaupt?“, fragte Sera um den jungen dazu zu bringen, ihr zu vertrauen.
„Ich bin Kanon und das ist Karm“, gab er zur Antwort und schien einen Entschluss zu fassen.
„Karm, wir gehen mit Sera zur Schule zurück“, sagte er bestimmt. Er war ganz offensichtlich mehr zum Anführer geboren als sein unvorsichtiger, aber sehr simple Bruder.
Als Karm angerannt kam und sich neben seinen Bruder stellte, fiel Sera auf, dass sie Zwillinge waren. Beide hatten braune Haare und Augen, glatte helle Haut und niedliche Stupsnasen. Nur ihr Gesichtsaustrug schien sie zu unterscheiden – Karm war fröhlich und gedankenlos, während Kanon ernster schien. Wenn sie älter waren würde man sie sehr einfach auseinander halten können.
„Hey, ich bin Sera“, stellte sich Sera Karm vor, da sie wusste, dass der Junge nicht aufgepasst hatte, „und du bist Karm, stimmt's?“
„Ja, stimmt“, antwortete der Junge mit einem fröhlichen Lächeln und begann um sie herum hüpfen: „Wo ist denn Riven?“
„Riven? Ist das euer Bruder?“, fragte Sera und Kanon nickte.
„Der ist wahrscheinlich im Moment auf der Suche nach euch. Aber wenn er euch nicht finden kann, wird er bestimmt zur Schule zurück kommen, um euch als vermisst zu melden und dann seit ihr schon wieder da, okay?“, erklärte Sera sanft und die Jungen schienen zu verstehen.
„Dann lasst uns gehen“, fügte sie hinzu, stellte sich gerade hin und wollte gerade einen Schritt nach vorne machen, als die beiden Jungen, zu ihrer großen Überraschung, ihre Hände ergriffen – an jeder Seite einer.
Als die kleinen Hände sanft, schüchtern und ängstlich ihre ergriffen, wurde Sera klar, dass die beiden sich schrecklich gefürchtet haben mussten. Sie waren schließlich ganz allein gewesen.
Zärtlich erwiderte sie den Händedruck und ging mit den beiden los.
Sera hatte sich zuvor den Hügel hinunter teleportiert, was bedeutete, dass sie jetzt einen etwas längeren Umweg nehmen mussten, da Sera nicht noch einmal unerlaubt Magie einsetzen wollte um sich mit den Jungen wieder hoch zu porten und ihnen andererseits nicht den Aufstieg zumuten konnte. Zu spät würden sie sowieso kommen – da zählten fünf Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr.
Und so gingen sie durch die Stadt, die mit schönen, mittelalterlichen, größtenteils weißen Häusern ausgestattet war. Die Straßen waren einfach und sauber, was bewies, dass der größte Anteil der Bürger sehr reich war. Natürlich lebten hier keine Gossen-Kinder.
Bestimmt schritt Sera aus, als sie sich der Schule näherten. Sie straffte ihre Schultern und machte sich bereit, ausgeschimpft zu werden.
Die Schule bestand aus einem großen, grauen Hauptgebäude, das sechs Stockwerke besaß und innen nach einem komplizierten, spiralförmigen System aufgebaut war, einem Garten und überhaupt sehr vielen Wiesen, einem Quartier für die Magier, in dem jeder vollständig ausgebildete Magier wohnen konnte, wenn er wollte, der Villa des Direktors der Schule, die im tiefsten Schwarz gestrichen war um zu zeigen, dass der Direktor der stärkste aller Magier war, dem Wohnhaus der Novizen, dass innerhalb nach Geschlechtern aufgetrennt war und dem Friedhof der Magier. Das Alles war von einer großen, magischen Mauer aus Stein umgeben, an der mehrere Kirschbäume wuchsen.
Es gab nur einen Eingang, ein breites, stählernes Tor, und auf genau dieses gingen Sera und die Zwillinge jetzt zu.
Sera hatte den ganzen Weg über immer darauf geachtet, ob sie irgendjemand beobachtete – Magier, die zwei schwache und hilflose Zwerge herumführten, die ihnen bei einem Kampf nur im Weg herum stehen würden, waren leichte Beute. Und die Tatsache, dass die Schule immer näher kam, machte die Situation keineswegs sicherer, nein, sogar gefährlicher, denn vor der Schule lungerten immer ein, zwei Menschenhändler herum.
Als Sera und die beiden Kinder kaum noch zwei Meter vom Tor entfernt waren, und Sera langsam anfing sich zu entspannen, blieb Karm urplötzlich stehen.
Auf das schlimmste gefasst wirbelte Sera herum, wobei sie Kanons Hand losließ um jegliche Art von Angreifer sofort mit einer körperlichen Attacke außer Gefecht setzen zu können.
Doch da war niemand.
„Riven!“, rief Karm und zeigte nach oben auf einen der Kirschbäumen.
Verwirrt blickte Sera auf den Baum. Dort lag auf einem besonders breiten Ast, nahe der Baumkrone, ein Junge. Er trug eine Robe, die schwärzer war als jede andere Robe, die ich je gesehen hatte – auch al die des Schulleiters. Außerdem hing um seinen Hals eine silberne Kette mit einem eigenartigen, schlüsselartigen Zeichen, die auf dem schwarzen Stoff sehr hervorstach. Eigentlich war es verboten seine Roben besonders auszuschmücken. Er hatte schwarze, wirre Haare, zarte Lippen und eine schöne Nase. Oder so empfand es Sera zumindest. Seine Augenfarbe konnte sie nicht erkennen, denn seine Augen waren geschlossen – er schlief.
Auf einmal kochte Wut in Sera auf – er schlief während seine kleinen Brüder hilf- und wehrlos in der Stadt herumliefen?
„HEY!“, schrie sie, um ihn aufzuwecken, möglichst so, dass er vom Baum fiel.
Doch der Junge schlug seelenruhig die Augen auf und blickte auf sie herab, wie sie dort unten neben seinen kleinen Brüdern die begeistert seinen Namen riefen die Hände zu Fäusten ballte und sich wünschte, ihm eine reinzuhauen.
„Kanon. Karm“, stellte der Junge ruhig fest, dann warf er Sera einen Blick zu und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Sie wollte ihm gerade zurufen, dass er gefälligst von diesem elenden Baum herunterkommen solle, als er sich von selbst herunter schwang – er umfasste den Ast auf dem er saß einfach mit einer Hand und im nu war er unten, und stand verdammt nah vor Sera. Er beugte sein Gesicht immer weiter auf sie zu, so dass sie ihren Kopf zurückziehen musste, und schließlich einen Schritt zurück macht. Seine Augen waren schwarz – so schwarz wie seine Robe.
„Hast du die beiden zurück gebracht?“, fragte er.
Sera lief rot. Sie war es nicht gewohnt, das Gesicht eines Jungen so nah vor ihrem zu haben.
Doch dann kam wieder ihr Selbstbewusstsein zum Vorschein.
„Ja – und du solltest deine Brüder nicht allein in der Stadt lassen – es ist gefährlich!“, antwortete sie, immer noch wütend.
„Sie sind nicht meine Brüder“, gab Riven zur Antwort, „aber ich muss trotzdem auf sie aufpassen. Also vielen Dank, Prinzessin.“
Mit diesen Worten nahm er ihre Hand in sein und küsste sie.
Ein Kuss auf die Hand? Er war nicht ihr Bruder? Prinzessin?
Sera war mehr als verwirrt, aber was sie begriff, war, dass dieser Junge ihr für ihren Geschmack zu nahe gekommen war.
Als Riven sich wieder aufrichtete und sein Gesicht ihr wieder so nahe kam sah Sera schwarz. Blitzschnell nutze sie die Hand, die noch immer in Rivens lag, packte ihn am Arm und warf ihn über ihr Hüfte hinter sich. Sein Widerstand war nur gering – er hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich wehren würde, und deswegen flog er jetzt durch die Luft.
Mist!, dachte Sera, einen Bruchteil einer Sekunde nachdem sie ihn losgelassen hatte. Sie hatte ihn bestimmt verletzt. Das hatte sie nicht gewollt – das Ganze war eine reine Affekthandlung gewesen. Sie nutzte ihre Kampfkünste eigentlich nur selten und noch nie hatte sie sie gegen einen wehrlosen Gegner verwendet.
Sie drehte sich herum, um ihm aufzuhelfen und sich für ihre heftige Reaktion zu entschuldigen und bekam gerade noch mit, wie er sich in der Luft drehte und elegant zwei Meter hinter ihr auf seinen Füßen landete.
„Riven!“, schrien Karm und Kanon wie aus einem Munde und rannten zu ihm, um nach ihm zu sehen.
„Oh Gott, es tut mir leid“, rief auch Sera und rannte den Jungen hinterher um sich bei Riven zu entschuldigen. Sie war zwar beeindruckt, dass er sicher gelandet war, aber das änderte nichts daran, dass sie etwas falsch gemacht hatte.
Schnell war sie bei ihm und stand ihm direkt gegenüber.
„Hab ich dir weh getan? Oh Gott, dass wollte ich ehrlich nicht, du hast mich nur erschreckt!“, geriet sie immer mehr in Panik.
„Ist schon in Ordnung, Prinzessin, ich habe mich nicht verletzt“, gab Riven grinsend zur Antwort.
Wieder dieses Prinzessin! Sera hatte in ihrem ganzen Leben noch niemand Prinzessin genannt – und Gott wusste, dass sie alles andere als eine Prinzessin war!
Aber das war jetzt nicht so wichtig – wenn er sie um jeden Preis Prinzessin nennen wollte, dann sollte er ruhig! Aber was zählte, war die Sache mit dem Bruder.
„Warte! Die Beiden haben gesagt du seiest ihr Bruder, aber du sagst, du bist nicht ihr Bruder, musst aber auf sie aufpassen – was bist du jetzt?!“
„Ich bin… so was wie ihr Bodyguard“, gab er zur Antwort, immer noch mit diesem nervigen Grinsen auf den Lippen, „sie nennen mich nur Bruder, weil sie nicht verstehen, wofür ich da bin und es so einfacher für sie ist.“
Ein magischer Bodyguard also? Davon hatte Sera noch nie gehört.
„Wofür brauchen die beiden überhaupt einen Bodyguard? Sie müssten doch nur in der Schule bleiben und…“, setzte sie an, als ihr plötzlich etwas einfiel, „Warte! Wenn du ihr Bodyguard bist, ist das Ganze ja noch schlimmer! Wie kannst du sie alleine in der Stadt herumrennen lassen ohne sie überhaupt zu suchen?!“
Riven grinste immer noch so verdammt nervig, und jetzt näherte er sein Gesicht wieder dem von Sera.
„Mir wurde nie gesagt, dass ich immer neben ihnen stehen soll – nur dass ich auf sie aufpassen sollte. Und wie mir befohlen wurde, habe ich sie nicht aus den Augen verloren und hätte eingegriffen, wäre es notwendig gewesen. Apropos, Prinzessin, „Geht, solange ich es euch noch erlaube“? War das nicht etwas übertrieben? Obwohl ich zugeben muss, dass mir sogar diese Worte aus eurem Mund gefallen haben.“
Sera lief so rot an, wie man überhaupt rot anlaufen konnte.
Er war also die ganze Zeit über dort gewesen. Dann hatte er auf dem Ast wahrscheinlich auch gar nicht geschlafen, sondern nur so getan. Und… wieso hatte Sera seine Präsenz eigentlich nicht spüren können? Für gewöhnlich konnte sie die Präsenz eines jeden um sie herum spüren – sogar der Rektor entzog sich dieser Fähigkeit nicht. Aber dieser Junge war ihr zweimal entkommen. Und wenn sie es genau nahm, konnte sie seine Präsenz auch jetzt nicht spüren.
Was Sera jetzt aber viel wichtiger war, war die Tatsache, dass er sie belauscht hatte. Sie verspürte erneut den Drang ihm eine Ohrfeige zu verpassen – aber dieses Mal würde sie sich unter Kontrolle halten. Stattdessen ballte sie die Fäuste und senkte den Hochroten Kopf.
Plötzlich legten sich sanfte Finger auf ihr Kinn und hoben ihren Kopf erneut an.
„Das muss euch nicht peinlich sein, Prinzessin. Es zeigt nur wie stark Ihr seid“, flüsterte Riven Sera zu. Sein Gesicht war nur Millimeter von ihrem entfernt. Sera schaffte das Unmögliche und lief noch eine Nummer roter an.
„Hau ab!“, schrie sie, als sie ihm einen gut gezielten Kinnhacken verpasste und ihn fliegen schickte.
Nicht schon wieder! Wie konnte sie zweimal und noch dazu so kurz hintereinander die Kontrolle verlieren? Sera machte sich ernsthaft sorgen – wieso konnte dieser Junge sie so einfach reizen? Jetzt musste sie sich wieder entschuldigen. Dafür hatte sie ihn dieses Mal aber wenigstens auch richtig erwischt.
Doch Riven flog nicht einfach auf den Rücken, nein, stattdessen legte er einen Rückwärtssalto hin und landete genauso elegant wie zuvor auf seinen Füßen. Wie sportlich war er eigentlich?
„Entschuldigung“, murmelte Sera, diesmal nicht einmal ansatzweise so reuevoll wie beim ersten Mal. Sie war immer noch wütend und genauso rot wie bevor und sah dieses Mal ernsthaft keinen Grund sich zu entschuldigen, allerdings sagte ihr Verstand, dass man sich entschuldigen musste, wenn man jemanden schlug. Nur deshalb entschuldigte sie sich überhaupt.
Aber auf einmal zuckte Seras Kopf, den sie bis dahin absichtlich wieder gesenkt hatte, in die Höhe. Diese Präsenz…
„SERAPHINA!“, brüllte Meister Conites hinter Sera ihren vollständigen Vornamen und kam durch das große Tor auf sie zugelaufen.
Meister Conites war ein schlanker Mann in seinen Vierzigern mit Halbglatze, Brille und spitzer Nase. Ein Magierlehrer wie aus dem Buche geschnitten. Und genau das war er – er unterrichtete die 16-jährigen, zu denen ja auch Sera zählte. Wegen ihm hatte Sera sich auch solche Sorgen gemacht, noch pünktlich zu sein. Und hier stand sie mit immer noch erhobener Faust vor einem Jungen, der mit seiner Kette gegen eine Regel verstieß, zwei kleinen Kindern, die zwar verwirrt dreinblickten, aber höchstwahrscheinlich ohne Erlaubnis die Schule verlassen hatten, und war puderrot. Nicht zu vergessen, dass sie mindestens eine Stunde zu spät war.
„Meister Conites!“, rief Sera erschrocken und straffte ihr Haltung auf der Stelle.
„Seraphina, was tust du hier?“, fragte Meister Conites sie, als er die Situation überblickt hatte.
„Das ist mein Fehler. Ich habe diese beiden hier aus den Augen verloren und die Prinzessin hat sie zurück gebracht“, stoppte Riven Sera, noch ehe sie ihren Satz beginnen konnte, indem er auf die Zwillinge zeigte.
Wieso log er?
Die Zwillinge, die wohl aus Seras und Rivens Unterhaltung heraus verstanden hatten, dass Riven mit „Prinzessin“ Sera meinte, nickten wie wild, als wollten sie Wahrheit dieses Satzes unterstreichen.
Wieder lief Sera rot an – wie konnte Riven sie so offen vor einem vollständig ausgebildeten Magier „Prinzessin“ nennen?
Sera hatte erwartet, dass diese Aussage Meister Conites nur noch mehr verwirren würde, doch stattdessen warf er einen entsetzten Blick auf die Zwillinge und dann auf Riven.
„Meister Kanon, Meister Karm! Und Lord Nalishian! Wann seid Ihr angekommen? Hattet ihr eine angenehme Reise? Ich hoffe doch, es gab keine Schwierigkeiten!“, rief Conites unterwürfig.
So hatte Sera ihn noch nie gesehen – der für gewöhnlich so erhabene und strenge Lehrer wurde klein und schwach in der Anwesenheit von Kanon, Karm und Lord Riven Nalishian? Und wieso hatte er Kanon und Karm „Meister“ genannt, obwohl sie noch am Anfang ihrer Ausbildung standen und er selbst ein Magier war? Wieso sprach er Riven nicht auf seine Kette an? Und wo war Rivens freche, unverschämte Art hin und wo kam dieses reife, erwachsene Verhalten her? Und jetzt fiel Sera auch wieder ein, dass Riven doch erst 16 war – wieso trug er schwarze Roben? Das war unmöglich!
Was soll das alles überhaupt?
Sera verstand die Welt nicht mehr.
„Meister Conites…“, fing sie ihre Frage an.
„Ach ja, Seraphina, du bist ja auch noch hier!“, rief Conites und sprang zerstreut zu ihr herum, fast als hätte er ihre Anwesenheit vollständig vergessen.
„Da du den jungen Meistern und Lord Nalishian geholfen hast, werde ich von einer Bestrafung absehen“, erklärte er, wieder etwas ruhiger und offensichtlich ganz in seinem Element, „Geh jetzt zum Wohnhaus der Novizen zurück!“
Sera begriff zwar nicht, was hier vor sich ging, und für gewöhnlich hätte sie genau das getan, was Conites von ihr verlangt hätte, aber dieses Mal nicht. Er war irgendwie geschwächt – nicht mehr so streng. Und Sera hatte guten Grund, diese Situation auszunutzen, auch wenn sie es nur ungern tat. Aber was sein muss, muss sein.
„Meister Conites, was ist jetzt eigentlich mit meinem Besuch bei meiner Mutter?“, fragte sie und schämte sich dafür, so etwas Hinterhältiges zu tun.
Conites, der sich eigentlich gerade wieder zu Riven hatte umdrehen wollen, wirbelte noch einmal herum – verschwunden war all seine Ruhe und seine Zerstreutheit war zurück gekehrt.
„Ja, natürlich“, fing er an, ganz offensichtlich darauf bedacht, Sera möglichst schnell los zu werden, um sich um Riven und die Zwillinge zu kümmern, „du kannst sie morgen nach dem Unterricht besuchen. Und jetzt geh bitte.“
Endlich!, dachte Sera und wäre Conites am liebsten vor lauter Dankbarkeit und Freude um den Hals gesprungen.
„Vielen Dank, Meister Conites, und gute Nacht“, sagte sie stattdessen ruhig und reserviert, allerdings lief sie vor lauter Glück rot an.
Dann wandte sie sich Riven und den Kindern zu – wie sollte sie sich von ihnen verabschieden? Sollte sie sie auch Meister und Lord nennen? Nein, das ergab für Sera keinen Sinn.
„Gute Nacht, Karm, Kanon. Passt auf euch auf und rennt nicht alleine herum!“, sagte sie und beugte sich zu den beiden hinab um ihre Haare zu verwuscheln.
„Gute Nacht, Sera!“, antworteten sie gleichzeitig und lachten ein unschuldiges Kinderlachen auf das Sera einfach mit einem Lächeln reagieren musste.
Dann richtete sie sich auf – was sollte sie zu Riven sagen? Am besten, sie machte das Ganze möglichst kurz und sah ihn nie wieder.
„Gute Nacht“, sagte sie einfach und sah ihm in die Augen – verdammt hübsche Augen, musste sie zugeben.
„Gute Nacht, Prinzessin“, antwortete Riven und verbeugte sich, so als wäre Sera wirklich eine Prinzessin, „Wir sehen uns hoffentlich wieder.“
War er nicht selbst ein Lord? Wieso verneigte er sich dann vor ihr? Und hoffte er wirklich auf ein Wiedersehen?
Sera lief erneut rot an, doch es war schon ein hellerer Ton.
Dann drehte, sie sich ohne ein weiteres Wort zu sagen um und schritt schnell aus. Kaum war sie innerhalb der Mauern drehte sie sich herum und lief auf das Wohnhaus der Novizen zu. Sie musste noch trainieren, und wenn sie sich nicht irrte, hatte sie dafür gerade noch Zeit.
Das Wohnhaus der Novizen waren eigentlich eher zwei große, braune Gebäude aus Holz, die durch einen einzigen, schmalen Gang, der nur Glaswände besaß, verbunden waren. Das konnte man Geschlechtertrennung nennen.
Jeder Teil des Gebäudes besaß Baderäume, Schlafzimmer, in den meistens um die 10 Leute unterkamen, ein Schwimmbad, eine Sauna und einen Dojo. Und auf genau diesen Dojo im teil der Mädchen lief Sera zu.
Es gab zu diesem Dojo einen besonderen Eingang, der direkt von außerhalb in die Umkleideräume führte. Allerdings hatten nur wenige Schüler einen Schlüssel zu diesem Raum. Sera zählte zu diesen wenigen Schülern und so eilte sie jetzt durch die Bäume, die neben dem Wohnhaus standen, bis sie schließlich an der Tür ankam.
Vie es an dieser Schule zu erwarten war, war der Schlüssel natürlich kein einfaches Stück Metall und die Tür keine normale Tür. Wenn jemand sie suchen würde, könnte er sie nicht finden, da sie sich perfekt an die Außenwand des Wohnhauses anpasste. Aber Sera wusste ganz genau wo sie lag und so sprach sie, als sie an dieser Stelle angekommen war, schnell eine Zauberformel um sie zu öffnen.
Die Wand klappte einfach auf und erlaubte den Blick auf eine Umkleidekabine. Schnell sprang Sera hinein und die Tür klappte hinter ihr wieder zu.
Sera musste sich beeilen – sie hatte nicht mehr viel Zeit um noch als pünktlich zu gelten. Sie riss sich die Klamotten förmlich vom Leib und sprang gerade zu in ihren Kampfsortaufzug, der simpel und weiß war – er erinnerte stark an einen Karateanzug, war aber keiner.
Als sie fertig war, riss sie eine normale Tür auf und stürmte gerade zu in den Dojo, der eigentlich nur ein großer Raum aus Holz mit Parkettboden war.
Hier warteten schon ein paar Mädchen und trainierten miteinander, während ihr Lehrer, ein großer, muskulöser Mann mit schwarzen, kurzen Haaren um die dreißig daneben stand, ihnen zusah und hin und wieder irgendwelche Anweisungen dazwischen ruf.
„Direktor Ralion“, begrüßte Sera ihn.
Der Direktor mochte als mächtigster Magier gelten, doch er war eigentlich ein recht simpler und freundlich Mann, der zwar auch seine erwachsene Reife Seite hatte, aber auch sehr kindlich und wie ein Trunkenbold erscheinen konnte.
„Sera. Du bist spät.“
Das war seine ernste Seite. Er hatte sich zu ihr umgewendet und betrachtete sie mit verschränkten Armen.
„Es tut mir leid. Ich wurde aufgehalten“, antwortete Sera wahrheitsgetreu.
„Schon gut“, sagte der Direktor und lächelte sie an, „dafür sollten wir dein Training aber sofort beginnen.
„Ja“, antwortete Sera und nahm Kampfstellung ein.
Sie war im Kampsport sehr gut ausgebildet und keine ihrer Mitschülerinnen konnte mit ihr mithalten, weswegen sie immer gegen den Direktor antrat, wenn es zum direkten Training kam. Und das war heute ihre Aufgabe.
Natürlich war der Direktor auch sehr gut, um es genau zu nehmen besser als Sera, aber sie schaffte es jedes Mal aufs Neue ihm einen guten Kampf hinzulegen. Doch nicht heute.
Meister Karm und Meister Kanon, während sie versuchte den Direktor mit einem seitlichen Tritt zu erwischen, unter dem er sich einfach hinweg duckte und ihr Bein ergriff.
Wer sind die beiden?, fragte sie sich innerlich als sie ihr Bein nach unten bewegte um ihm einen direkten Treffer auf den Kopf zu verpassen.
Und Riven ist ein Lord?, fragte sie sich, als der Direktor sich unter ihrem Tritt davon kugelte.
Was für ein toller Lord!, wurde sie wütend, während sie dem Direktor mit einem schlag hinterher hechtete.
Wie kann er ein Lord sein?, zweifelte sie wieder, als der Direktor ihren Arm ergriff und sie auf den Boden warf.
Und wenn er ein Lord ist, wieso ist er ein Bodyguard?, versuchte sie die Situation zu begreifen, während sie dem Direktor einen direkten Tritt von unten ins Gesicht verpasste, der sein Ziel nicht verfehlte.
Hat er mich belogen?!, zürnte sie, während der Direktor, der sich schnell erholt hatte, ihren linken Arm ergriff und auf ihren Rücken drehte.
Dieser…!!!!, tobte Sera schließlich und warf den Direktor mit exakt dem gleichen Überwurf auf den Rücken, wie sie es zuvor mit Riven gemacht hatte. Und genau wie Riven landete er auf den Füßen.
Seras Kopf war wieder hochrot und sie schien vor Wut nur so zu kochen.
„Sera, du bist nicht bei der Sache“, unterbrach der Direktor ihre Gedanken, die verrückt zu werden schienen.
„Entschuldigung!“, rief Sera als sie begriff, dass sie sich überhaupt nicht konzentriert hatte, „ich habe an etwas völlig anderes gedacht.“
Die Direktor sah sie besorgt an: „Ich glaube, haute hat es keinen Sinn, wenn du trainierst. Wir setzen das Ganze morgen fort.“
„Ah, tut mir leid, aber morgen kann ich nicht. Meister Conites hat mir die Erlaubnis erteilt, meine Mutter zu besuchen“, fiel es Sera wieder ein und sie war im Begriff sich erneut zu entschuldigen.
„Ach, deine Mutter!“, sagte der Direktor mit einem mitleidigen Lächeln auf den Lippen, „Wieso hast du nicht einfach mich um Erlaubnis gebeten?“
„Ich könnte die Tatsache, dass ich sie kenne nicht so einfach ausnutzen. Anderen Schülern ist das schließlich auch nicht möglich“, antwortete Sera ehrlich. Sie war immer darauf bedacht, fair mit allen umzugehen und niemanden zurückstecken zu lassen.
Der Direktor und sie standen sich jetzt gegenüber.
„Haha1“, lachte der Direktor, „das passt zu dir! Aber geh jetzt besser. Heute kann man mit dir nichts anfangen!“
„Gut, Direktor Ralion“, antwortete Sera und wandte sich ab.
Wer hätte gedacht, dass sie den Umkleideraum schon so bald wieder betreten würde?
Es war ihr sehr peinlich, dass ausgerechnet Riven sie so hatte ablenken können! Aber das ließ sich jetzt auch nicht mehr ändern.
Seufzend zog sich Sera erneut um und ging – dieses Mal durch das Gebäude, das überall so ziemlich gleich aussah – zu den Baderäumen.
Hier waren magische Duschen aufgestellt, die Sera einfach liebte. Nichts war schöner als das Gefühl von warmen Wasser, das über ihre Haut lief.
Als sie fertig war, warf sie sich in ihr Nachthemd und ging in ihren Schlafsaal. Die meisten Mädchen rannten noch im Gebäude herum, doch Sera hielt sich an die Regel und lag pünktlich im Bett.
Schließlich war sie im Gegensatz zu den anderen Schülern nicht aus einem reichen Haus, sondern nur ein Gossen-Kind, dass all diesen Luxus mehr als nur zu schätzen wusste. Sie war wohl die einzige, die das alles nicht als selbstverständlich ansah.
Dieser Riven war bestimmt auch nur einer dieser verwöhnten Bengel, die ihre Kindheit noch nicht hinter sich gelassen hatten, da war sich Sera sicher. Aber war da nicht etwas in seinen Augen gewesen, das eher nach einem anderen Charakter aussah? Sera wusste es nicht. Aber wenn sie ehrlich war, interessierte es sie sehr.
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Name?!
am Samstag, 5. November 2011, 03:50 im Topic 'Fernweh'
Hier eine Geschichte, die ich noch nicht so lange schreibe. Ehrlich gesagt bin ich mit ihr noch nicht sehr weit, aber sie ist mir jetzt schon peinlich - und ich liebe sie auch schon. Allerdings hat sie dasselbe Problem wie viele meiner anderen Geschichten auch - mir fällt kein Name für sie ein. Für's erste ist er "Fernweh", womit ich wirklich nicht zufrieden bin. Also bin ich für Vorschläge natürlich immer offen :)
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Kilian - Kapitel 5
am Samstag, 5. November 2011, 03:40 im Topic 'Kilian'
Der Abend verlief ereignislos. Alle waren von der Fahrt und den vielen Kämpfen um Sitzplätze und Betten erschöpft, so dass das Abendessen zum reinsten Mittagsschlaf wurde. Ich erfuhr gerade mal, dass sich Kilian und Michael zusammen mit Jack – er hatte die Kinotickets gekauft, dass wusste ich noch – ein Bungalow teilten und Nate und zwei seiner Freunde direkt im Bungalow neben ihnen wohnten.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.
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Kilian - Kapitel 4
am Samstag, 5. November 2011, 03:39 im Topic 'Kilian'
In der Schule unterhielten Kilian und ich uns jetzt hin und wieder in den Pausen. Meisten aber nur irgendein Smalltalk.
Die Mädchen, die auf mich losgegangen waren, verhielten sich - höchstwahrscheinlich wegen Michael und Nikki - trotzdem still. Das gab mir allerdings umso mehr das Gefühl, dass das Ganze nur die Ruhe vor dem Sturm war und ich mich ernsthaft in Gefahr befand. Aber was sollte ich schon tun, außer abzuwarten? Wenn irgendetwas geschah würde ich reagieren oder es einfach über mich ergehen lassen müssen.
Um zu Lea zu kommen… da sie und Nate durch Zufall beide in meiner Klasse waren, hatte sie für gewöhnlich einfach keine Zeit um mich fertig zu machen, da sie zu sehr mit herumknutschen beschäftigt war. Wenn man das Klassenzimmer betrat konnte man sich darauf gefasst machen die beiden eng umschlugen herumstehen zu sehen. Und im Allgemeinen hielten sie meistens Händchen, wenn sie Freizeit hatten. Schließlich hatten sie als beliebtestes Pärchen der Schule so ziemlich denselben Freundeskreis.
Und so verging der Rest der Woche – bis dann schließlich der Tag des Ausflugs kam.
Am morgen musste ich sehr früh aufstehen, um Sarah aus dem Weg zu gehen – wir hatten uns schon am Abend verabschiedet, da ich es mir nicht leisten konnte zu spät zu kommen, nur weil Sarah sich an mir festklammerte und mich nicht gehen lassen wollte. Und das hätte sie bestimmt getan.
Ein anderer Grund, aus dem ich so früh los musste war der, dass wir uns mit unseren Taschen beladen an der Schule trafen um von dort aus mit dem Bus weiter zu fahren, und ich natürlich nicht mein Fahrrad für eine Woche an der Schule stehen lassen konnte, also zu Fuß laufen musste.
Als ich ankam hatte ich da Gefühl, dass meine Taschen mich jeden Augenblick erdrücken würden und dass es ein Wunder war, dass meine Füße mir noch nicht abgefallen waren.
„Hoooooope! HOPE! Hier sind wir!“, rief mir Michael zu, als ich zu den beiden Busen kam, die vor dem Schulgebäude auf dem grauen Parkplatz standen um uns mitzunehmen. Es waren etwas ältere, aber dennoch zweistöckige Reisebusse, die unten ein Fach hatten, das nur für Gepäck reserviert war.
Vor eben diesem Fach standen jetzt Michael, Nikki und Kilian. Kilian und Michael hatten sich – was mich ehrlich verwundert hatte – in der letzten Woche angefreundet, wobei ich anscheinend die Überbrückung geboten hatte.
„Gib her“, sagte Michael als ich bei ihnen ankam und nahm mir eine meiner beiden Taschen ab um sie hineinzuschmeißen, während Kilian sich um die andere kümmerte.
„Danke“, sagte ich.
„Keine Ursache“, meinte Michael und begann – aus dem nichts heraus – mit Nikki über irgendetwas, das ich nicht wirklich verstand zu reden: „Hast du’s gehört?“
Nikki, die da mehr als normal zu finden schien antwortete: „Klar, wie könnte ich mich sonst einen Fan nennen!“
„Musik?“, fragte ich Kilian, da ich wusste, dass Michael und Nikki längst in ihrer eigenen kleinen Welt und nicht mehr wirklich ansprechbar waren.
„Hört sich so an“, stimmte er mir zu.
„Was hörst du denn so für Musik?“, fragte ich, nur so nebenbei, da ich keine erdrückende zwischen uns haben wollte.
„Metal“, antwortete er und sah mich an, als würde er eine ihm bereits bekannte Reaktion erwarten.
„Aha? Ich hab nicht wirklich was gegen Metal, aber es ist einfach nicht meine Musik. Ich mag eher Alternativ Rock wie „Nickelback“ oder „My Chemical Romance“, gab ich meine Meinung zum Besten.
„Jemals von der „Neuen deutschen Härte“ gehört?“, fragte er mich.
„Deutsch? Ich hab nicht viel mit Deutschland am Hut“, antwortete ich, „Und was ist das?“
„Schwer zu sagen. Eine Art Mischung aus Rock und Metal, immer auf Deutsch gesungen.“
Ich lehnte mich jetzt an den Bus, während Kilian mir gegenüber stand.
„Sie ist aber trotzdem eher in anderen Ländern als in Deutschland verbreitet. Es scheint so, als wollten die Deutschen ihre eigenen Bands einfach nicht anerkennen“, fuhr er fort.
„Wie heißt es so schön „Der Philosoph wird überall anerkannt, nur im eigenen Land nicht““, antwortete ich nachdenklich.
Kilian lächelte mich wieder mit diesem unglaublichen Lächeln an: „So kann man es natürlich auch sehen.“
„HEY! Alle herkommen!“, hörte ich Frau Mitchell schreien.
Sie stand in der Nähe des ersten Busses zusammen mit einem bulligen Mann mit schwarzen Haaren und Wikingerbart. Der Klassenlehrer unserer Parallelklasse – Herr Peterson, wenn ich mich nicht irrte.
Wir setzten uns alle in Bewegung und versammelten uns im Halbkreis um sie herum.
„48…49…50. Gut, es sind alle da. Und so wie ich es sehe, habt ihr auch schon alle euer Gepäck eingeräumt. Steigt jetzt bitte in die Busse ein“, erklärte Frau Mitchell.
Auf der Stelle wurde aus der ruhigen Szenerie das reinste Chaos – verständlich.
Alle wollten in denselben Bus wie ihre Freunde, und dann am Besten noch gleich zwei Sitzplätze nebeneinander ergattern.
„Hope, nimm meine Hand!“, rief mir Nikki in dem Getümmel zu. Ich sah in ihre Richtung und ergriff ihre Hand. Und dann begannen wir uns – beide etwas unwillig – durch die Menge auf einen Bus zuzuquetschen.
Auch wenn ich in ihre Richtung sah, konnte ich Nikki nicht, sehen, da überall Köpfe aneinander rammten und alle herumdrängelten.
Schließlich drückten wir uns durch die Tür eines Busses, Nikki hinter mir.
Langsam wurde es ruhiger, aber ich hatte immer noch keine Zeit um mich nach Nikki umzudrehen, da ich dann alle aufgehalten hätte.
Also zerrte ich sie auf zwei freie Sitzplätze. Als wir endlich saßen herrschte der Tumult zwar weiter, aber jetzt ging er uns nichts mehr an, wir hatten unsere Sitzplätze.
Ich drehte mich zu Nikki herum.
Ich wäre vor Schock fast gestorben – neben mir saß nicht Nikki, sondern Kilian. Warum war es mir nicht früher aufgefallen – Nikki, unwillig beim sich durch die Menge drängelnd? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte es von vornherein keinen Sinn ergeben. Außerdem war Nikkis Hand auch etwas schmaler als Kilians und ihr Händedruck wohl schwächer.
„Oh Gott, es tut mir leid! Ich dachte du wärst Nikki! Ehrlich, ich wollte dich nicht irgendwohin mitzerren!“, entschuldigte ich mich hastig und warf Kilian einen Blick zu, der mehr als nur deutlich sagte wie verzweifelte ich darauf hoffte, dass er mir glaubte.
„Ist schon okay“, gab er kurz zur Antwort, „Ist ja auch nicht so wichtig.“
Oh Gott sei Dank!
Wieso war die Vorstellung eines Kilians, der wütend auf mich war und mich für irgendein unverschämtes, billiges Mädchen hielt so unangenehm? Wahrscheinlich nur, weil ich Missverständnisse vermeiden wollte.
Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken. Ich wusste, dass mittlerweile jedes einzelne Mädchen in diesem Bus wusste, dass ich und Kilian nebeneinander saßen und dass das auf meinem Mist gewachsen war. Ach was, die in den anderen Bussen wahrscheinlich auch schon – wofür hatten diese ganzen Tratschtanten denn ihre Handys?
Also schaute ich ruhig aus dem Fenster – jetzt konnte ich auch nichts mehr ändern, also wäre es das schlauste, das Ganze einfach zu akzeptieren. Wenn man machtlos ist, kann man ja nicht viel anderes machen als abzuwarten und Tee zu trinken. Wir würden noch einige Stunden Bus fahren und meine Bestrafung erwartete mich frühsten am Ende dieser Fahrt – da konnte ich genauso gut versuchen meine Erschöpfung während meiner Gnadenfrist zu kurieren.
Und ehe ich mich versah war ich tief und fest eingeschlafen. Während ich schlief stieß allerdings mein Kopf immer wieder gegen die Fensterscheibe, so dass ich ein stetes, nerviges „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Während ich also vor mich hin tockte, versuchten noch einige andere Personen in dem Bus zu schlafen, während die anderen laut lachten und schrien.
Einer von denen, die schlafen wollten, war Kilian. Weil ich aber direkt neben ihm tockte, konnte er das natürlich nicht und deswegen tat er etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte.
Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf die andere Seite, so dass er nicht mehr andauernd gegen die Fensterscheibe schlug, sondern stattdessen an Kilians Schulter ruhte.
Und so schlief dann auch Kilian ein – wobei sein Kopf wiederum auf meinem lag.
Und in genau dieser Position wachte ich nichts Böses ahnend auf.
Verwundert blinzelte ich ein paar Mal, bis mir auffiel, dass ich nicht am Fenster, sondern in der entgegengesetzten Richtung lag. Und dass etwas Schweres auf meinem Schädel ruhte. Ich warf einen Blick nach oben.
Oh Gott!
Entsetzt zog ich meinen Kopf ruckartig weg, wodurch Kilians Kopf wie wild herumwackelte. Glücklicher Weise wachte er aber nicht auf.
Wie konnte er mich jetzt nicht für eines von diesen nuttigen Mädchen halten? Er würde bestimmt denken, dass es mein Ziel gewesen fahr ihn zu verführen oder so etwas… welches normale Mädchen schlief auch mit dem Kopf an einen Kerl gelehnt? Aber Kilian schlief ruhig weiter.
Vielleicht wusste er ja überhaupt nichts? Nein, wenn man logisch darüber nachdachte, hatte ja sein Kopf auf meinem gelegen, also musste ich mich zuerst zu ihm herübergelehnt haben. Aber wieso hatte er mich nicht einfach geweckt, sondern sich stattdessen auf mich gelegt? Vielleicht hatte er zu dem Zeitpunkt ja auch schon geschlafen? Und sein Kopf hatte in der anderen Richtung gelegen, bis er irgendwie auf mich gefallen war?
Ich betrachtete Kilians schlafendes Gesicht. Die glatten, reinen Züge, das leuchtend rote Haar und die vollkommene Formung seiner Lippen.. Ja, so musste es gewesen sein – dieser Junge hatte es ernsthaft nicht nötig irgendwelche Mädchen, die dann auch noch so durchschnittlich waren wie ich zu belästigen, während sie schliefen.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen und es ihm nie verraten? Nein, dass konnte ich unmöglich machen.
„Kilian?“, fragte ich etwas verschüchtert und dachte darüber nach, wie ich mich am besten entschuldigen konnte.
„Hhm?“, machte Kilian und sah mich aus seinen, wie üblich etwas distanzierten, Augen an. Hätte er denn nicht wenigstens ein bisschen verschlafen aussehen können? Nein, seine Augen waren so klar und wachsam wie eh und je und sein Blick genauso aufmerksam.
„Ich.. es tut mir leid! Als du geschlafen hast, habe ich meinen Kopf auf dich gelegt! Ich wusste es nicht, es war… ich habe auch geschlafen! Tut mir leid!“, stieß ich plötzlich hervor und starrte auf den Boden.
„Na und?“, fragte Kilian seelenruhig und blickte mich aus Augen an, die… warte kurz, hatte ich da eben ein kleines Aufflackern in seinen Augen gesehen?
„Es ist nicht so als hättest du irgendetwas falsch gemacht“, sagte Kilian.
Er… hatte recht. Ich hatte geschlafen. Normalerweise hätte jeder das hier ignoriert – wieso hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsse mich um jeden Preis entschuldigen?
„Ahaha… du hast recht. Sorry, dass ich dich wegen so einer Kleinigkeit aufgeweckt habe“, entschuldigte ich mich erneut.
„Macht nichts. Jetzt bin ich sowieso wach, daran kann man so oder so nichts mehr ändern“, sagte Kilian, lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah auf der Stelle so aus, als hätte er wichtigeres an das er denken musste, als die Welt um ihn herum.
Als der Bus anhielt und Kilian und ich hintereinander ausstiegen, kam Nikki, so wunderschön wie schon immer, wütend auf mich zu gerannt:
„Hope, wo warst du? Wir saßen ja nicht mal im selben Bus!“, warf sie mir erbost vor.
„Sorry, aber als ich nach deiner Hand greifen wollte, da hab ich aus Versehen die von Kilian erwischt“, antwortete ich etwas verschämt, aber ehrlich und rieb mir am Hinterkopf.
Überrascht verstummte Nikki, als sie Kilian tatsächlich hinter mir aussteigen sah.
Michael – der wie üblich zusammen mit Nikki erschienen war – fing an zu kichern, da er das Ganze anscheinend verdammt lustig fand.
„Was hast du mit meiner armen kleinen Hope gemacht?“, schrie Nikki und griff Kilian, der es mittlerweile auch aus dem Bus geschafft hatte am Handgelenk.
„….“, war seine Antwort.
Was hätte er auch sagen sollen? Das alles meine Schuld war und wenn schon jemand dann ich ihn belästigt hatte?
„Nikki, er hat überhaupt nichts gemacht“, sagte ich stattdessen.
Nikki drehte sich zu mir um: „Weiß ich doch – war nur Spaß.“
Das sagte sie, als sei es selbstverständlich. Scheiße. Da hatte ich wohl mal wieder etwas falsch verstanden.
„Hierher!“, rief hinter mir Frau Mitchell, „Kommt schon, nicht so lahm, wir müssen zur Herberge noch ein Stückchen laufen!“
Jetzt erst sah ich mich um. Die Busse hatten an einem Parkplatz vor einem Bahnhof gehalten – einem sehr alten, schäbigen Bahnhof. Es gab hier nicht einmal eine Bahnhofshalle, nur zwei Gleise und der Busbahnhof, mit genau einer Haltestelle.
Außerdem schien dieser Bahnhof die reinste Zementinsel in einem mehr aus grünem Wald und brauner Erde zu sein.
Ich liebte diese Gegend schon jetzt.
„NA LOS!“
Frau Mitchell drehte sich von uns Weg und lief auf einen schmalen Weg – Pfad? – zu, der größtenteils bergauf führte. Überhaupt waren hier überall grüne Hügel und Berge verteilt. Ein schönes Gebiet zum Wandern. Das würde ich ausnutzen.
„Und hier fahren wir hin?“
„Ich dachte wir fahren in ne Stadt!“
„Wa sollen wir denn am Arsch der Welt?!“
„Gibt’s hier überhaupt Läden?!“
In etwa so maulten alle anderen um mich herum vor sich hin – ich, Nikki, Michael und Kilian ausgenommen schien niemand allzu begeistert von diesem Ort zu sein – obwohl ich ja nicht wirklich wusste was Kilian, Nikki und Michael hiervon hielten.
Dennoch marschierten alle hinter Frau Mitchell hinterher, während der Klassenlehrer der Parallelklasse sich zurückfallen ließ und den Schluss bildete.
Schnell hatten sich alle auf dem Pfad eingefunden und kämpften sich nörgelnd und maulend den Berg hinauf.
Da der Weg nicht sehr breit war hatten wir uns automatisch alle in zweier Reihen eingeordnet. Kilian und Michael liefen vor mir und Nikki, die, wie üblich durch nichts zu entmutigen, neben mir herstapfte, plapperte ununterbrochen über ihr Pläne. Offensichtlich war ich ungefragt in viele davon eingesponnen.
„… und am Donnerstag suchen wir nach ’ner Stadt, und wenn wir keine finden, machen wir im Wald ein Picknick! Ab wahrscheinlich wissen wir bis dahin von den anderen schon, ob es hier irgendwo eine Stadt gibt. Das finden die ja bis spätestens morgen heraus. Und am Freitag wollen wir mit dem Rest in die Stadt gehen. Wenn’s keine in der Nähe gibt, machen wir was anderes, da lassen wir uns überraschen!“, erklärte sie und gestikulierte wie wild in der Luft herum
„Ähm… Nikki?“, tippte ich sie auf die Schulter.
„Huh? Sind wir da, oder was?“, fragte sie verwundert und ihre Hände hielten mitten in der Luft an.
„Nein, es ist wohl noch ein Stück“; sagte ich und blickte den Weg an. Für mich war das kein Problem – ich liebte es zu wandern. Aber der Rest meiner Stufe beschwerte sich umso mehr.
„Hope, du hörst dich genauso an wie Frau Mitchell mit ihrem „Stückchen““, kicherte Nikki, „Aber was wolltest du jetzt?“
„Ich kann morgen nicht. Ich hab schon was vor“, sagte ich.
„Was?! Wir wollten doch aber die ganze Herberge erkunden!“, rief Nikki überrascht und entsetzt.
„Nein, Nikki, ihr wolltet das. Mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt. Ich kann morgen nicht“, erklärte ich bestimmt, zuckte jedoch auf der Stelle zusammen als das letzte Wort mir aus dem Mund gekommen war, als erwarte ich eine heftige Reaktion.
„Mhm“, machte Nikki nachdenklich, „Stimmt. Tut mir leid, Hope, ich hab’ einfach nicht daran gedacht, dich zu fragen.“
„Ist schon ok“, meinte ich, „aber morgen geht es eben einfach nicht.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Nikki mich neugierig.
„Ach, ich wollte nur ein bisschen im Wald herumlaufen“, gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort.
„Pass bloß auf, dass du dich mit deinem Orientierungssinn nicht verirrst!“, kicherte Nikki und ich lief puderrot an.
Ja, mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden. Aber ich konnte mir Wege gut einprägen, weswegen ich niemals Rundwege nahm sondern immer auf derselben Strecke zurücklief auf der ich auch gekommen war.
„Passt schon“, murmelte ich und drehte mich verschämt weg.
Nikki lachte nur wieder ihr fröhliches und offenes Lachen und – ob ich nun wollte oder nicht – ich stimmte einfach ein.
Dann fing sie wieder an mit Worten und viel zu vielen Gesten zu plappern.
Wir kamen in etwa eine halbe Stunde später bei der Herberge an – maulend, nörgelnd, quengelnd, meckernd, entnervt und – in meinem Fall zumindest – glücklich und zufrieden.
Die Herberge bestand aus einem großen, weißen Hauptgebäude mit rotem Dach, einem Spielplatz, mehreren herumstehenden weißen Bungalows, die allerdings blaue Dächer hatten, einem Pool – gut, dass ich Schwimmzeug dabei hatte! – und einem Volleyballplatz.
„Hallo!“, rief uns ein etwas beleibter Mann mit einer Vollglatze und einem netten, warmen Lächeln, der vor den Gebäuden stand zu.
Der Besitzer der Herberge, wie ich vermutete.
Während die Lehrer ihn begrüßten und Frau Mitchell nachzählte, ob wir auch alle vollständig waren, ließen wir alle unsere Taschen, die wir natürlich hatten tragen müssen, mit einem erschöpften „Klatsch!“ auf den Boden fallen und setzten und stattdessen auf sie.
Doch ehe wir eine Chance erhielten, mit dem erschöpften Gekeuche aufzuhören und mit lautem Geschnatter zu beginnen unterbrach uns der, kein bisschen erschöpfte Lehrer der Parallelklasse:
„Hört jetzt bitte alle zu!“
Er hatte eine schwächere Stimme, als sein Aussehen vermuten ließ.
Wir alle wandten unsere Köpfe dem untersetzten Mann zu, der ganz offensichtlich im Begriff war, die Regeln der Herberge zu erklären.
„Ich hab’ ne tolle Idee“, flüsterte mir Michael, der zusammen mit Nikki neben mir thronte, zu, „wir nennen ihn Kasernenleiter! Schau mal, wie er dasteht, ganz steif. Und gleich fängt er bestimmt an uns die Regeln zu sagen. Und dann könnten wir da alles hier Kaserne nennen – machen wir ein Spielchen draus!“
Wir kam Michael nur auf solche Ideen? Aber ich musste zugeben, ich hatte auch an das Wort „Kaserne“ gedacht, obwohl mir der Mann alles andere als streng erschien. Und tatsächlich hörte sich das Ganze nach einer ganz lustigen Sache an.
Also nickte ich zustimmen, während der Kasernenleiter sich mit seinem echten Namen vorstellte. Peterson. Nein, Kasernenleiter gefiel mir besser.
Und so begann der Kasernenleiter seine Regeln zu erklären, während sich die Nachricht über das Spiel tuschelnd und murmelnd unter den Schülern verbreitete und immer mehr Leute einstiegen.
„Also, zu erstmal wohnen die Mädchen im Hauptgebäude und die Jungen in den Bungalows. In jedem Bungalow ist Platz für drei und die Mädchen werden sich auf zwei große Schlafsääle einteilen. Duschen und Badezimmer sind im Hauptgebäude mehr als genug und jedes Bungalow besitzt ebenfalls eines. Es ist den Mädchen nicht erlaubt, die Bungalows zu betreten und den Jungen ist es nicht erlaubt im Hauptgebäude das erste und zweite Stockwerk zu betreten, da sich dort die Schlafsääle und Baderäume der Mädchen befinden. Im Erd- und Untergeschoss dürft ihr euch dagegen aufhalten, da sich dort der Speisesaal und mehrere Freizeiträume befinden. Zu den Mahlzeiten: Frühstück könnt ihr im Speisesaal von 7 bis 9, Mittagessen von 12 bis 14 und Abendbrot von 18 bis 20 Uhr essen. Außerdem besitzt das Hauptgebäude einige Snack- und Getränkeautomaten, die ihr für den kleinen Hunger zwischendurch nutzen könnt. Ihr dürft euch, ausgenommen die speziellen Regeln für Junge und Mädchen, die ich eben erklärt habe, auf dem Gelände und im Wald frei bewegen. Noch Fragen?“
Kasernenleiter. Perfekt.
Als keine Antwort, sondern nur belustigtes Schweigen ihm entgegen schlug, beendete der Kasernenleiter seine Ansprache mit den Worten: „Gut. Dann dürft ihr jetzt euer Gepäck wegräumen.
Krieg. Schon wieder. Ohne weitere Worte ergriff Nikki mein Handgelenk – diesmal war es ganz bestimmt Nikki, denn wir näherten uns dem Hauptgebäude – und zerrte mich auf die Glastür des Hauptgebäudes zu. Um uns herum war ein Sturm losgebrochen. Dasselbe wie bei den Bussen – alle wollten mit jemand bestimmten in einem Raum seien.
Und so riss Nikki mich durch diesen Orkan aus kreischenden Mädchen hindurch und rannte mit mir in das mit kalten Fliesen ausgelegte Gebäude, die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk – wir hielten nicht mal im ersten Stock, denn Nikki ahnte, dass sich hier alles stauen würde.
Der erste und zweite Stock waren genau gleich aufgebaut – die Treppe endete in einem langen, hölzernen Flur, der mit mehreren Türen bestückt war, die allesamt in Badezimmer mit zwei Toiletten und zwei Duschen führten, bis auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs – die führte zum Schlafsaal dieses Stockwerkes.
Als Nikki und ich als Erste in den oberen Schlafsaal rauschten, in dem mehrere Hochbetten und zu jedem Bett zwei zugehörige Schränke standen packte Nikki meine beiden Taschen und warf sie einfach auf das obere Bett des Stockbettes, das in aller Ruhe am Fenster stand und warf sich selbst mit ihren auf das untere.
Kaum war das geschehen, waren sie auch schon da. Kreischende, streitende Mädchen, die krampfhaft versuchen ein gemeinsames Hochbett zu ergattern – dabei war Nikki ein nicht unbeliebtes Ziel. Aber dadurch, dass sie meine Taschen auf das Bett über ihr geworfen hatte, hatte sie es für mich reserviert und niemand rührte es an.
Um mich herum rissen und zerrten Mädchen an ihren Taschen, um schneller voran zu kommen und schmissen sie dabei rücksichtslos um sich. Überraschend viele von diesen herumfliegenden Taschen erwischten mich. Deswegen kletterte ich schnell die Leiter zu meinem Bett hoch und versteckte mich so, vor der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit dieser Taschen.
„Danke, Nikki“, sagte ich nach unten, da ich wusste, dass Nikki dort saß.
„Kein Problem“, sagte sie und stellte sch auf ihr Bett um ihren Kopf hervorzurecken und mich anzusehen.
Ich lächelte sie an und sie schwang sich – frage mich niemand wie sie sich in der Luft umdrehte, sie war schließlich verdammt sportlich – ohne ein weiteres Wort einfach mit einer einzigen Hand nach oben zu mir auf meine Matratze.
Und so saßen wir nebeneinander bis der Sturm genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Es hatte etwas Komisches, war aber logisch – nachdem jedes Bett vergeben war, wurde höchstens noch diskutiert und gebettelt, aber zu rennen und zu erkämpfen gab es jetzt nichts mehr.
„Lass uns auspacken“, unterbrach Nikki meine Gedanken und sprang vom Bett herunter.
Wir begannen damit, die Betten zu beziehen, dann räumten wir die Schränke ein und schließlich stellten wir unsere Kulturbeutel bereibt, um sie wenn wir ins Bad gingen einfach mitnehmen zu können.
Dann war es auch schon 19:45 Uhr.
„Lass uns besser schnell essen gehen – die meisten sind schon da und ab 8 gibt’s nichts mehr!“, sagte ich zu Nikki, während sie ihre Handtücher in den Schrank einräumte.
„Stimmt – beeilen wir uns!“, sagte sie und wir verließen den Schlafsaal als Letzte, um in den Speisesaal zu gehen.
Die Mädchen, die auf mich losgegangen waren, verhielten sich - höchstwahrscheinlich wegen Michael und Nikki - trotzdem still. Das gab mir allerdings umso mehr das Gefühl, dass das Ganze nur die Ruhe vor dem Sturm war und ich mich ernsthaft in Gefahr befand. Aber was sollte ich schon tun, außer abzuwarten? Wenn irgendetwas geschah würde ich reagieren oder es einfach über mich ergehen lassen müssen.
Um zu Lea zu kommen… da sie und Nate durch Zufall beide in meiner Klasse waren, hatte sie für gewöhnlich einfach keine Zeit um mich fertig zu machen, da sie zu sehr mit herumknutschen beschäftigt war. Wenn man das Klassenzimmer betrat konnte man sich darauf gefasst machen die beiden eng umschlugen herumstehen zu sehen. Und im Allgemeinen hielten sie meistens Händchen, wenn sie Freizeit hatten. Schließlich hatten sie als beliebtestes Pärchen der Schule so ziemlich denselben Freundeskreis.
Und so verging der Rest der Woche – bis dann schließlich der Tag des Ausflugs kam.
Am morgen musste ich sehr früh aufstehen, um Sarah aus dem Weg zu gehen – wir hatten uns schon am Abend verabschiedet, da ich es mir nicht leisten konnte zu spät zu kommen, nur weil Sarah sich an mir festklammerte und mich nicht gehen lassen wollte. Und das hätte sie bestimmt getan.
Ein anderer Grund, aus dem ich so früh los musste war der, dass wir uns mit unseren Taschen beladen an der Schule trafen um von dort aus mit dem Bus weiter zu fahren, und ich natürlich nicht mein Fahrrad für eine Woche an der Schule stehen lassen konnte, also zu Fuß laufen musste.
Als ich ankam hatte ich da Gefühl, dass meine Taschen mich jeden Augenblick erdrücken würden und dass es ein Wunder war, dass meine Füße mir noch nicht abgefallen waren.
„Hoooooope! HOPE! Hier sind wir!“, rief mir Michael zu, als ich zu den beiden Busen kam, die vor dem Schulgebäude auf dem grauen Parkplatz standen um uns mitzunehmen. Es waren etwas ältere, aber dennoch zweistöckige Reisebusse, die unten ein Fach hatten, das nur für Gepäck reserviert war.
Vor eben diesem Fach standen jetzt Michael, Nikki und Kilian. Kilian und Michael hatten sich – was mich ehrlich verwundert hatte – in der letzten Woche angefreundet, wobei ich anscheinend die Überbrückung geboten hatte.
„Gib her“, sagte Michael als ich bei ihnen ankam und nahm mir eine meiner beiden Taschen ab um sie hineinzuschmeißen, während Kilian sich um die andere kümmerte.
„Danke“, sagte ich.
„Keine Ursache“, meinte Michael und begann – aus dem nichts heraus – mit Nikki über irgendetwas, das ich nicht wirklich verstand zu reden: „Hast du’s gehört?“
Nikki, die da mehr als normal zu finden schien antwortete: „Klar, wie könnte ich mich sonst einen Fan nennen!“
„Musik?“, fragte ich Kilian, da ich wusste, dass Michael und Nikki längst in ihrer eigenen kleinen Welt und nicht mehr wirklich ansprechbar waren.
„Hört sich so an“, stimmte er mir zu.
„Was hörst du denn so für Musik?“, fragte ich, nur so nebenbei, da ich keine erdrückende zwischen uns haben wollte.
„Metal“, antwortete er und sah mich an, als würde er eine ihm bereits bekannte Reaktion erwarten.
„Aha? Ich hab nicht wirklich was gegen Metal, aber es ist einfach nicht meine Musik. Ich mag eher Alternativ Rock wie „Nickelback“ oder „My Chemical Romance“, gab ich meine Meinung zum Besten.
„Jemals von der „Neuen deutschen Härte“ gehört?“, fragte er mich.
„Deutsch? Ich hab nicht viel mit Deutschland am Hut“, antwortete ich, „Und was ist das?“
„Schwer zu sagen. Eine Art Mischung aus Rock und Metal, immer auf Deutsch gesungen.“
Ich lehnte mich jetzt an den Bus, während Kilian mir gegenüber stand.
„Sie ist aber trotzdem eher in anderen Ländern als in Deutschland verbreitet. Es scheint so, als wollten die Deutschen ihre eigenen Bands einfach nicht anerkennen“, fuhr er fort.
„Wie heißt es so schön „Der Philosoph wird überall anerkannt, nur im eigenen Land nicht““, antwortete ich nachdenklich.
Kilian lächelte mich wieder mit diesem unglaublichen Lächeln an: „So kann man es natürlich auch sehen.“
„HEY! Alle herkommen!“, hörte ich Frau Mitchell schreien.
Sie stand in der Nähe des ersten Busses zusammen mit einem bulligen Mann mit schwarzen Haaren und Wikingerbart. Der Klassenlehrer unserer Parallelklasse – Herr Peterson, wenn ich mich nicht irrte.
Wir setzten uns alle in Bewegung und versammelten uns im Halbkreis um sie herum.
„48…49…50. Gut, es sind alle da. Und so wie ich es sehe, habt ihr auch schon alle euer Gepäck eingeräumt. Steigt jetzt bitte in die Busse ein“, erklärte Frau Mitchell.
Auf der Stelle wurde aus der ruhigen Szenerie das reinste Chaos – verständlich.
Alle wollten in denselben Bus wie ihre Freunde, und dann am Besten noch gleich zwei Sitzplätze nebeneinander ergattern.
„Hope, nimm meine Hand!“, rief mir Nikki in dem Getümmel zu. Ich sah in ihre Richtung und ergriff ihre Hand. Und dann begannen wir uns – beide etwas unwillig – durch die Menge auf einen Bus zuzuquetschen.
Auch wenn ich in ihre Richtung sah, konnte ich Nikki nicht, sehen, da überall Köpfe aneinander rammten und alle herumdrängelten.
Schließlich drückten wir uns durch die Tür eines Busses, Nikki hinter mir.
Langsam wurde es ruhiger, aber ich hatte immer noch keine Zeit um mich nach Nikki umzudrehen, da ich dann alle aufgehalten hätte.
Also zerrte ich sie auf zwei freie Sitzplätze. Als wir endlich saßen herrschte der Tumult zwar weiter, aber jetzt ging er uns nichts mehr an, wir hatten unsere Sitzplätze.
Ich drehte mich zu Nikki herum.
Ich wäre vor Schock fast gestorben – neben mir saß nicht Nikki, sondern Kilian. Warum war es mir nicht früher aufgefallen – Nikki, unwillig beim sich durch die Menge drängelnd? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte es von vornherein keinen Sinn ergeben. Außerdem war Nikkis Hand auch etwas schmaler als Kilians und ihr Händedruck wohl schwächer.
„Oh Gott, es tut mir leid! Ich dachte du wärst Nikki! Ehrlich, ich wollte dich nicht irgendwohin mitzerren!“, entschuldigte ich mich hastig und warf Kilian einen Blick zu, der mehr als nur deutlich sagte wie verzweifelte ich darauf hoffte, dass er mir glaubte.
„Ist schon okay“, gab er kurz zur Antwort, „Ist ja auch nicht so wichtig.“
Oh Gott sei Dank!
Wieso war die Vorstellung eines Kilians, der wütend auf mich war und mich für irgendein unverschämtes, billiges Mädchen hielt so unangenehm? Wahrscheinlich nur, weil ich Missverständnisse vermeiden wollte.
Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken. Ich wusste, dass mittlerweile jedes einzelne Mädchen in diesem Bus wusste, dass ich und Kilian nebeneinander saßen und dass das auf meinem Mist gewachsen war. Ach was, die in den anderen Bussen wahrscheinlich auch schon – wofür hatten diese ganzen Tratschtanten denn ihre Handys?
Also schaute ich ruhig aus dem Fenster – jetzt konnte ich auch nichts mehr ändern, also wäre es das schlauste, das Ganze einfach zu akzeptieren. Wenn man machtlos ist, kann man ja nicht viel anderes machen als abzuwarten und Tee zu trinken. Wir würden noch einige Stunden Bus fahren und meine Bestrafung erwartete mich frühsten am Ende dieser Fahrt – da konnte ich genauso gut versuchen meine Erschöpfung während meiner Gnadenfrist zu kurieren.
Und ehe ich mich versah war ich tief und fest eingeschlafen. Während ich schlief stieß allerdings mein Kopf immer wieder gegen die Fensterscheibe, so dass ich ein stetes, nerviges „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Während ich also vor mich hin tockte, versuchten noch einige andere Personen in dem Bus zu schlafen, während die anderen laut lachten und schrien.
Einer von denen, die schlafen wollten, war Kilian. Weil ich aber direkt neben ihm tockte, konnte er das natürlich nicht und deswegen tat er etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte.
Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf die andere Seite, so dass er nicht mehr andauernd gegen die Fensterscheibe schlug, sondern stattdessen an Kilians Schulter ruhte.
Und so schlief dann auch Kilian ein – wobei sein Kopf wiederum auf meinem lag.
Und in genau dieser Position wachte ich nichts Böses ahnend auf.
Verwundert blinzelte ich ein paar Mal, bis mir auffiel, dass ich nicht am Fenster, sondern in der entgegengesetzten Richtung lag. Und dass etwas Schweres auf meinem Schädel ruhte. Ich warf einen Blick nach oben.
Oh Gott!
Entsetzt zog ich meinen Kopf ruckartig weg, wodurch Kilians Kopf wie wild herumwackelte. Glücklicher Weise wachte er aber nicht auf.
Wie konnte er mich jetzt nicht für eines von diesen nuttigen Mädchen halten? Er würde bestimmt denken, dass es mein Ziel gewesen fahr ihn zu verführen oder so etwas… welches normale Mädchen schlief auch mit dem Kopf an einen Kerl gelehnt? Aber Kilian schlief ruhig weiter.
Vielleicht wusste er ja überhaupt nichts? Nein, wenn man logisch darüber nachdachte, hatte ja sein Kopf auf meinem gelegen, also musste ich mich zuerst zu ihm herübergelehnt haben. Aber wieso hatte er mich nicht einfach geweckt, sondern sich stattdessen auf mich gelegt? Vielleicht hatte er zu dem Zeitpunkt ja auch schon geschlafen? Und sein Kopf hatte in der anderen Richtung gelegen, bis er irgendwie auf mich gefallen war?
Ich betrachtete Kilians schlafendes Gesicht. Die glatten, reinen Züge, das leuchtend rote Haar und die vollkommene Formung seiner Lippen.. Ja, so musste es gewesen sein – dieser Junge hatte es ernsthaft nicht nötig irgendwelche Mädchen, die dann auch noch so durchschnittlich waren wie ich zu belästigen, während sie schliefen.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen und es ihm nie verraten? Nein, dass konnte ich unmöglich machen.
„Kilian?“, fragte ich etwas verschüchtert und dachte darüber nach, wie ich mich am besten entschuldigen konnte.
„Hhm?“, machte Kilian und sah mich aus seinen, wie üblich etwas distanzierten, Augen an. Hätte er denn nicht wenigstens ein bisschen verschlafen aussehen können? Nein, seine Augen waren so klar und wachsam wie eh und je und sein Blick genauso aufmerksam.
„Ich.. es tut mir leid! Als du geschlafen hast, habe ich meinen Kopf auf dich gelegt! Ich wusste es nicht, es war… ich habe auch geschlafen! Tut mir leid!“, stieß ich plötzlich hervor und starrte auf den Boden.
„Na und?“, fragte Kilian seelenruhig und blickte mich aus Augen an, die… warte kurz, hatte ich da eben ein kleines Aufflackern in seinen Augen gesehen?
„Es ist nicht so als hättest du irgendetwas falsch gemacht“, sagte Kilian.
Er… hatte recht. Ich hatte geschlafen. Normalerweise hätte jeder das hier ignoriert – wieso hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsse mich um jeden Preis entschuldigen?
„Ahaha… du hast recht. Sorry, dass ich dich wegen so einer Kleinigkeit aufgeweckt habe“, entschuldigte ich mich erneut.
„Macht nichts. Jetzt bin ich sowieso wach, daran kann man so oder so nichts mehr ändern“, sagte Kilian, lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah auf der Stelle so aus, als hätte er wichtigeres an das er denken musste, als die Welt um ihn herum.
Als der Bus anhielt und Kilian und ich hintereinander ausstiegen, kam Nikki, so wunderschön wie schon immer, wütend auf mich zu gerannt:
„Hope, wo warst du? Wir saßen ja nicht mal im selben Bus!“, warf sie mir erbost vor.
„Sorry, aber als ich nach deiner Hand greifen wollte, da hab ich aus Versehen die von Kilian erwischt“, antwortete ich etwas verschämt, aber ehrlich und rieb mir am Hinterkopf.
Überrascht verstummte Nikki, als sie Kilian tatsächlich hinter mir aussteigen sah.
Michael – der wie üblich zusammen mit Nikki erschienen war – fing an zu kichern, da er das Ganze anscheinend verdammt lustig fand.
„Was hast du mit meiner armen kleinen Hope gemacht?“, schrie Nikki und griff Kilian, der es mittlerweile auch aus dem Bus geschafft hatte am Handgelenk.
„….“, war seine Antwort.
Was hätte er auch sagen sollen? Das alles meine Schuld war und wenn schon jemand dann ich ihn belästigt hatte?
„Nikki, er hat überhaupt nichts gemacht“, sagte ich stattdessen.
Nikki drehte sich zu mir um: „Weiß ich doch – war nur Spaß.“
Das sagte sie, als sei es selbstverständlich. Scheiße. Da hatte ich wohl mal wieder etwas falsch verstanden.
„Hierher!“, rief hinter mir Frau Mitchell, „Kommt schon, nicht so lahm, wir müssen zur Herberge noch ein Stückchen laufen!“
Jetzt erst sah ich mich um. Die Busse hatten an einem Parkplatz vor einem Bahnhof gehalten – einem sehr alten, schäbigen Bahnhof. Es gab hier nicht einmal eine Bahnhofshalle, nur zwei Gleise und der Busbahnhof, mit genau einer Haltestelle.
Außerdem schien dieser Bahnhof die reinste Zementinsel in einem mehr aus grünem Wald und brauner Erde zu sein.
Ich liebte diese Gegend schon jetzt.
„NA LOS!“
Frau Mitchell drehte sich von uns Weg und lief auf einen schmalen Weg – Pfad? – zu, der größtenteils bergauf führte. Überhaupt waren hier überall grüne Hügel und Berge verteilt. Ein schönes Gebiet zum Wandern. Das würde ich ausnutzen.
„Und hier fahren wir hin?“
„Ich dachte wir fahren in ne Stadt!“
„Wa sollen wir denn am Arsch der Welt?!“
„Gibt’s hier überhaupt Läden?!“
In etwa so maulten alle anderen um mich herum vor sich hin – ich, Nikki, Michael und Kilian ausgenommen schien niemand allzu begeistert von diesem Ort zu sein – obwohl ich ja nicht wirklich wusste was Kilian, Nikki und Michael hiervon hielten.
Dennoch marschierten alle hinter Frau Mitchell hinterher, während der Klassenlehrer der Parallelklasse sich zurückfallen ließ und den Schluss bildete.
Schnell hatten sich alle auf dem Pfad eingefunden und kämpften sich nörgelnd und maulend den Berg hinauf.
Da der Weg nicht sehr breit war hatten wir uns automatisch alle in zweier Reihen eingeordnet. Kilian und Michael liefen vor mir und Nikki, die, wie üblich durch nichts zu entmutigen, neben mir herstapfte, plapperte ununterbrochen über ihr Pläne. Offensichtlich war ich ungefragt in viele davon eingesponnen.
„… und am Donnerstag suchen wir nach ’ner Stadt, und wenn wir keine finden, machen wir im Wald ein Picknick! Ab wahrscheinlich wissen wir bis dahin von den anderen schon, ob es hier irgendwo eine Stadt gibt. Das finden die ja bis spätestens morgen heraus. Und am Freitag wollen wir mit dem Rest in die Stadt gehen. Wenn’s keine in der Nähe gibt, machen wir was anderes, da lassen wir uns überraschen!“, erklärte sie und gestikulierte wie wild in der Luft herum
„Ähm… Nikki?“, tippte ich sie auf die Schulter.
„Huh? Sind wir da, oder was?“, fragte sie verwundert und ihre Hände hielten mitten in der Luft an.
„Nein, es ist wohl noch ein Stück“; sagte ich und blickte den Weg an. Für mich war das kein Problem – ich liebte es zu wandern. Aber der Rest meiner Stufe beschwerte sich umso mehr.
„Hope, du hörst dich genauso an wie Frau Mitchell mit ihrem „Stückchen““, kicherte Nikki, „Aber was wolltest du jetzt?“
„Ich kann morgen nicht. Ich hab schon was vor“, sagte ich.
„Was?! Wir wollten doch aber die ganze Herberge erkunden!“, rief Nikki überrascht und entsetzt.
„Nein, Nikki, ihr wolltet das. Mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt. Ich kann morgen nicht“, erklärte ich bestimmt, zuckte jedoch auf der Stelle zusammen als das letzte Wort mir aus dem Mund gekommen war, als erwarte ich eine heftige Reaktion.
„Mhm“, machte Nikki nachdenklich, „Stimmt. Tut mir leid, Hope, ich hab’ einfach nicht daran gedacht, dich zu fragen.“
„Ist schon ok“, meinte ich, „aber morgen geht es eben einfach nicht.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Nikki mich neugierig.
„Ach, ich wollte nur ein bisschen im Wald herumlaufen“, gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort.
„Pass bloß auf, dass du dich mit deinem Orientierungssinn nicht verirrst!“, kicherte Nikki und ich lief puderrot an.
Ja, mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden. Aber ich konnte mir Wege gut einprägen, weswegen ich niemals Rundwege nahm sondern immer auf derselben Strecke zurücklief auf der ich auch gekommen war.
„Passt schon“, murmelte ich und drehte mich verschämt weg.
Nikki lachte nur wieder ihr fröhliches und offenes Lachen und – ob ich nun wollte oder nicht – ich stimmte einfach ein.
Dann fing sie wieder an mit Worten und viel zu vielen Gesten zu plappern.
Wir kamen in etwa eine halbe Stunde später bei der Herberge an – maulend, nörgelnd, quengelnd, meckernd, entnervt und – in meinem Fall zumindest – glücklich und zufrieden.
Die Herberge bestand aus einem großen, weißen Hauptgebäude mit rotem Dach, einem Spielplatz, mehreren herumstehenden weißen Bungalows, die allerdings blaue Dächer hatten, einem Pool – gut, dass ich Schwimmzeug dabei hatte! – und einem Volleyballplatz.
„Hallo!“, rief uns ein etwas beleibter Mann mit einer Vollglatze und einem netten, warmen Lächeln, der vor den Gebäuden stand zu.
Der Besitzer der Herberge, wie ich vermutete.
Während die Lehrer ihn begrüßten und Frau Mitchell nachzählte, ob wir auch alle vollständig waren, ließen wir alle unsere Taschen, die wir natürlich hatten tragen müssen, mit einem erschöpften „Klatsch!“ auf den Boden fallen und setzten und stattdessen auf sie.
Doch ehe wir eine Chance erhielten, mit dem erschöpften Gekeuche aufzuhören und mit lautem Geschnatter zu beginnen unterbrach uns der, kein bisschen erschöpfte Lehrer der Parallelklasse:
„Hört jetzt bitte alle zu!“
Er hatte eine schwächere Stimme, als sein Aussehen vermuten ließ.
Wir alle wandten unsere Köpfe dem untersetzten Mann zu, der ganz offensichtlich im Begriff war, die Regeln der Herberge zu erklären.
„Ich hab’ ne tolle Idee“, flüsterte mir Michael, der zusammen mit Nikki neben mir thronte, zu, „wir nennen ihn Kasernenleiter! Schau mal, wie er dasteht, ganz steif. Und gleich fängt er bestimmt an uns die Regeln zu sagen. Und dann könnten wir da alles hier Kaserne nennen – machen wir ein Spielchen draus!“
Wir kam Michael nur auf solche Ideen? Aber ich musste zugeben, ich hatte auch an das Wort „Kaserne“ gedacht, obwohl mir der Mann alles andere als streng erschien. Und tatsächlich hörte sich das Ganze nach einer ganz lustigen Sache an.
Also nickte ich zustimmen, während der Kasernenleiter sich mit seinem echten Namen vorstellte. Peterson. Nein, Kasernenleiter gefiel mir besser.
Und so begann der Kasernenleiter seine Regeln zu erklären, während sich die Nachricht über das Spiel tuschelnd und murmelnd unter den Schülern verbreitete und immer mehr Leute einstiegen.
„Also, zu erstmal wohnen die Mädchen im Hauptgebäude und die Jungen in den Bungalows. In jedem Bungalow ist Platz für drei und die Mädchen werden sich auf zwei große Schlafsääle einteilen. Duschen und Badezimmer sind im Hauptgebäude mehr als genug und jedes Bungalow besitzt ebenfalls eines. Es ist den Mädchen nicht erlaubt, die Bungalows zu betreten und den Jungen ist es nicht erlaubt im Hauptgebäude das erste und zweite Stockwerk zu betreten, da sich dort die Schlafsääle und Baderäume der Mädchen befinden. Im Erd- und Untergeschoss dürft ihr euch dagegen aufhalten, da sich dort der Speisesaal und mehrere Freizeiträume befinden. Zu den Mahlzeiten: Frühstück könnt ihr im Speisesaal von 7 bis 9, Mittagessen von 12 bis 14 und Abendbrot von 18 bis 20 Uhr essen. Außerdem besitzt das Hauptgebäude einige Snack- und Getränkeautomaten, die ihr für den kleinen Hunger zwischendurch nutzen könnt. Ihr dürft euch, ausgenommen die speziellen Regeln für Junge und Mädchen, die ich eben erklärt habe, auf dem Gelände und im Wald frei bewegen. Noch Fragen?“
Kasernenleiter. Perfekt.
Als keine Antwort, sondern nur belustigtes Schweigen ihm entgegen schlug, beendete der Kasernenleiter seine Ansprache mit den Worten: „Gut. Dann dürft ihr jetzt euer Gepäck wegräumen.
Krieg. Schon wieder. Ohne weitere Worte ergriff Nikki mein Handgelenk – diesmal war es ganz bestimmt Nikki, denn wir näherten uns dem Hauptgebäude – und zerrte mich auf die Glastür des Hauptgebäudes zu. Um uns herum war ein Sturm losgebrochen. Dasselbe wie bei den Bussen – alle wollten mit jemand bestimmten in einem Raum seien.
Und so riss Nikki mich durch diesen Orkan aus kreischenden Mädchen hindurch und rannte mit mir in das mit kalten Fliesen ausgelegte Gebäude, die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk – wir hielten nicht mal im ersten Stock, denn Nikki ahnte, dass sich hier alles stauen würde.
Der erste und zweite Stock waren genau gleich aufgebaut – die Treppe endete in einem langen, hölzernen Flur, der mit mehreren Türen bestückt war, die allesamt in Badezimmer mit zwei Toiletten und zwei Duschen führten, bis auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs – die führte zum Schlafsaal dieses Stockwerkes.
Als Nikki und ich als Erste in den oberen Schlafsaal rauschten, in dem mehrere Hochbetten und zu jedem Bett zwei zugehörige Schränke standen packte Nikki meine beiden Taschen und warf sie einfach auf das obere Bett des Stockbettes, das in aller Ruhe am Fenster stand und warf sich selbst mit ihren auf das untere.
Kaum war das geschehen, waren sie auch schon da. Kreischende, streitende Mädchen, die krampfhaft versuchen ein gemeinsames Hochbett zu ergattern – dabei war Nikki ein nicht unbeliebtes Ziel. Aber dadurch, dass sie meine Taschen auf das Bett über ihr geworfen hatte, hatte sie es für mich reserviert und niemand rührte es an.
Um mich herum rissen und zerrten Mädchen an ihren Taschen, um schneller voran zu kommen und schmissen sie dabei rücksichtslos um sich. Überraschend viele von diesen herumfliegenden Taschen erwischten mich. Deswegen kletterte ich schnell die Leiter zu meinem Bett hoch und versteckte mich so, vor der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit dieser Taschen.
„Danke, Nikki“, sagte ich nach unten, da ich wusste, dass Nikki dort saß.
„Kein Problem“, sagte sie und stellte sch auf ihr Bett um ihren Kopf hervorzurecken und mich anzusehen.
Ich lächelte sie an und sie schwang sich – frage mich niemand wie sie sich in der Luft umdrehte, sie war schließlich verdammt sportlich – ohne ein weiteres Wort einfach mit einer einzigen Hand nach oben zu mir auf meine Matratze.
Und so saßen wir nebeneinander bis der Sturm genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Es hatte etwas Komisches, war aber logisch – nachdem jedes Bett vergeben war, wurde höchstens noch diskutiert und gebettelt, aber zu rennen und zu erkämpfen gab es jetzt nichts mehr.
„Lass uns auspacken“, unterbrach Nikki meine Gedanken und sprang vom Bett herunter.
Wir begannen damit, die Betten zu beziehen, dann räumten wir die Schränke ein und schließlich stellten wir unsere Kulturbeutel bereibt, um sie wenn wir ins Bad gingen einfach mitnehmen zu können.
Dann war es auch schon 19:45 Uhr.
„Lass uns besser schnell essen gehen – die meisten sind schon da und ab 8 gibt’s nichts mehr!“, sagte ich zu Nikki, während sie ihre Handtücher in den Schrank einräumte.
„Stimmt – beeilen wir uns!“, sagte sie und wir verließen den Schlafsaal als Letzte, um in den Speisesaal zu gehen.
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Kilian - Kapitel 3
am Samstag, 5. November 2011, 03:37 im Topic 'Kilian'
Leise öffnete ich die Haustür. Mom und Sarah schliefen noch, aber ich hatte noch einiges zu tun.
Zuerst musste ich einkaufen gehen – wir hatten so gut wie nichts mehr zu Essen zu Hause. Außerdem war auch das Katzenfutter für fast ausgegangen. Danach musste ich Lea meine Hausaufgaben vorbeibringen – zum Abschreiben, wie mir klar war. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich (wenn ich schon einmal da war) auch noch von mir verlangen irgendwelche Besorgungen zu machen. Solche Dinge wie Anti-Pickelcreme oder Binden konnte sie ja nicht selber kaufen. Das würde ihr „Image“ zerstören. Und dann wäre es wahrscheinlich auch schon an der Zeit, dass ich mich mit Michael, Nikki und diesen anderen Leuten am Kino traf.
Also schloss ich die Tür hinter mir ab und schwang mich im Morgengrauen aufs Fahrrad. Der Weg bis zum nächsten Supermarkt war relativ lang.
Das Einkaufen verlief relativ problemlos. War ja alles keine große Sache.
Aber schon als ich die Nähe von Leas Haus kam konnte ich hören wie jemand angewidert die Nase rümpfte. Überrascht blickte ich mich um – eigentlich hatte mich jeder der in diesem Gebiet der Reichen lebte schon mindestens einmal gesehen.
Oh, Neuankömmlinge.
An der Straßenseite standen dutzende von Möbelpackerwägen und überall schienen irgendwelche Arbeiter herumzufusseln, die alle schwer beschäftigt waren.
Und am Rand von alldem stand -sehr klischeehaft, aber wahr- eine junge Frau und schrie Dinge wie „Passen Sie bloß auf, dass Sie nichts kaputt machen!“
Und anscheinend war es auch diese Frau gewesen, die mich mit so verächtlichen Blicken bedacht hatte.
Und sie sah mich immer noch an, wie ich da auf meinem Fahrrad kurz gestoppt hatte, um dieses Haus zu bestaunen.
Wen Leas Haus groß war, dann war dieses hier riesig, nein monströs, nein gigantisch!
Es war mindestens fünfmal so groß, wenn nicht sogar noch mehr – es war wohl die größte Villa in der ganzen Gegend. Und hier waren alle Häuser in etwa zehnmal so groß wie normale Häuser.
Ganz egal, aber auf jeden Fall mussten diese Neuhinzugezogen verdammt reich sein um sich so etwas leisten zu können.
„Willst du was?“, schnauzte mich die Frau herablassend an. Auf keinen Fall war sie die „Frau des Hauses“. Sie war höchsten zwei Jahre älter als ich – noch nicht mal aus der Schule gekommen – obwohl... man hört ja immer wieder solche Geschichten… Aber nein. Das traute ich dieser Frau nicht zu.
„Äh nein, Entschuldigung!“, antwortete ich und machte mich schnell wieder auf den weg ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hatte ja eigentlich sowieso keine Zeit. Es war mittlerweile schon Mittag und nur noch 10 Minuten von der mit Lea verabredeten Zeit.
Als ich vor ihrem Haus vorfuhr und aus dem Sattel sprang schmiss ich mein Fahrrad schnell gegen die Mauer und rannte auf das große, schwere Eisentor zu.
Der Wachmann dort, der mich ja bereits kannte, nickte mir nur zu und öffnete das Tor für mich.
Ich warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu und rannte schnell auf die Tür zu.
Als ich den Klingelknopf drückte öffnete mir fast auf der Stelle eine Dienerin (was für ein dummer Beruf) die Tür und begrüßte mich. Sie erklärte mir auch, dass Lea in ihrem Zimmer auf mich warte.
Oh shit. Sie wartete. Das war alles andere als gut.
Schnell bedankte ich mich bei der Dienerin und rannte durch die Korridore in Richtung Leas Zimmer.
Als ich endlich vor der Tür angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf meine Uhr- es war knapp, aber ich war noch pünktlich.
Seufzend klopfte ich an – das ich eigentlich im Recht war würde mich vor Leas Zorn nicht schützen.
„HEREIN!“, kam die prompte und laute Antwort auf mein Klopfen.
„Hey, Lea, ich bin’s, Hope“, sagte ich, während ich vorsichtig die Tür öffnete, immer sorgfältig darauf bedacht sie als Schutzschild benutzen zu können, sollte mir etwas entgegenfliegen.
KRACH! Eine Blumenvase. Ich hatte glücklicherweise noch rechtzeitig reagiert, deswegen erwischten mich nur einige Scherben an meinem nicht bedeckten Arm, doch als ich ihn erschrocken und besorgt betrachtete konnte ich nur einen einzigen, kleinen Kratzer entdecken.
„WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH ERST SO SPÄT ZU KOMMEN?“, wurde ich auf der Stelle angeschrien, als ich mich endlich traute hinter der schützenden Tür hervorzutreten.
„Es tut mir leid.“
Ich versuchte gar nicht erst zu erklären, dass ich pünktlich war. Logik war Lea egal.
„Hast du die Hausaufgaben dabei?!“, schnauzte sie mich an.
„Ja, hier“, antwortete ich und zog aus der großen Einkaufstasche, die an meinem unverletzten Arm hing einige Hefte heraus.
„Gut – ich hab heute keine Zeit für dich, also schreib sie einfach in meine Hefte. Aber vergiss bloß nicht, deine Schrift zu verstellen!“
Ich nickte, aber ich konnte mir eine Frage einfach nicht verkneifen: „Wo gehst du denn hin?“
„Mph“, machte Lea verächtlich, „meine Eltern wollen, dass ich die neuen Nachbarn mit ihnen begrüße.“
„Oh, viel Spaß!“, meinte ich, während ich mich langsam in Leas Zimmer vortraute um mich and den Schreibtisch zu setzen und ihr die Hausaufgaben abzuschreiben.
„Viel Spaß? HA! Aber den werde ich schon noch haben. Ich gehe danach noch mit ein paar Freundinnen shoppen, also verziehst du dich einfach, wenn du fertig bist, verstanden?“
„Ja“, sagte ich, setzte mich an ihren Schreibtisch und begann zu arbeiten.
„Gut, dann bis Montag“, verabschiedete Lea sich, während sie sich von ihrem Bett erhob und das Zimmer verlies.
Nachdem sie gegangen war arbeitete ich seufzend weiter – dass war Leas Bestrafung dafür, dass ich „zu spät“ gekommen war.
Das Abschreiben alleine hätte ja wahrscheinlich schon mehr als lange genug gedauert, aber dann auch noch die ganze Zeit über die eigene Schrift zu verstellen war wirklich anstrengend.
Dennoch war ich nach nur drei Stunden fertig – gerade noch genug Zeit, um pünktlich zum Kino zu kommen.
Also schmiss ich schnell alle meine Hefte in meine Tüte und rannte wieder aus dem Haus, am Wachmann vorbei zu meinem Fahrrad.
Als ich schließlich (mit gerade mal fünf Minuten Verspätung) am Kino ankam, waren alle anderen schon da.
Da waren natürlich Nikki und Michael, aber auch zahllose Leute aus meiner alten Mittelschule. Außerdem auch einige aus meiner Klasse. Jungen wie Mädchen – sie alle hatten ihre Gründe. Für die Meisten waren diese allerdings höchstwahrscheinlich Nikki oder Michael selbst, denn beide waren verdammt gut aussehend.
Ich passte eigentlich überhaupt nicht zu ihnen.
Was mich aber an der Gruppe am meisten erstaunte war eine einzige Person, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Kilian.
Er stand ganz am Rand der Gruppe, und gleichzeitig schienen doch alle Blicke auf ihn gerichtet.
Als ich endlich bei ihnen ankam (mein Fahrrad hatte ich schon abgestellt) sprang mir Nikki wie üblich um den Hals.
„Hope, du bist zu spät!“, beschwerte sie sich in ihrem kindischen Schmollton, den sie nur zum Spaß anlegte.
„Tut mir leid, ich…war beschäftigt“, murmelte ich zur Entschuldigung.
„Was, Hope, was ist dir wichtiger als ich?“, machte Nikki grinsend weiter.
„Alles“, antwortete ich eiskalt, „welchen Film sehen wir uns überhaupt an?“
„NICHT KOMISCH, HOPE!!“, schrie Nikki mir ins Ohr.
„Schon gut, schon gut, du bist das Wichtigste überhaupt“, gab ich nach.
„Na geht doch“, murmelte Nikki zufrieden und lies mich los.
„Und wir schauen uns eine Komödie an“, gab mir Michael auf meine Frage zur Antwort.
„Ein Liebesfilm würde nur uns Mädchen gefallen, und auf Horror haben wir nicht wirklich Lust“, erklärte mir ein Mädchen aus meiner Mittelschule – Melinda, wenn ich mich nicht irrte.
„Jack ist schon Tickets kaufen gegangen“, meinte ein Junge aus meiner Klasse, denn ich nun überhaupt nicht kannte – und wer war Jack?
Wir betraten das Kino, das so ziemlich aussah wie jedes andere Kino auch – ein große Vorhalle, der Ticketschalter, dahinter ein Kiosk und große, breite Treppen die Nach oben führten. Natürlich hingen auch überall Plakate für irgendwelche Filme. An einer Seite schien die Wand nur aus Glas zu sein – dort befand sich bestimmt kein einziger Kinosaal. Unter mir erstreckte sich ein blauer Teppichboden, der sauber und ordentlich erschien.
„Hier bin ich!“, hörte ich jemanden rufen und drehte mich, beinahe automatisch in die Richtung, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkam.
Dort hinten stand ein blonder Junge, in einem einfach Kapuzenshirt und Jeans, und winkte uns zu.
Jack, kombinierte ich.
Michael und Nikki, die wie üblich die Anführer unserer kleinen Gruppe geworden waren, winkten zurück und wir setzten uns alle in Bewegung um ihn zu erreichen.
Als wir schließlich bei ihm waren, nahm Michael ihm mit einem kurzen Grinsen die Tickets ab, und begann – zu meiner Verwunderung – sie zu mischen.
„Heute haben wir uns was Besonderes ausgedacht“, erklärte mir Nikki, „da wir ja alle Freunde sind und niemand irgendwen vorzieht, losen wir die Sitzplätze aus. Sie sind doch alle nebeneinander, oder Jack?“
Der blonde Junge nickte: „Und sogar hinten in der Loge!“
Da fiel mir etwas ein, voran ich zuvor noch gar nicht gedacht hatte – wer hatte überhaupt meinen Platz bezahlt?
„Nikki, wer hat für mich bezahlt?“, fragte ich.
„Das war ich, wer denn sonst?“, rief sie, fast schon stolz hervor, „Hat auch nur drei Dollar gekostet, oder so.“
Auf der Stelle begann ich in meiner großen Einkaufstüte zu kramen um an meinen Geldbeutel heranzukommen. Als ich ihn dann schließlich fand und einen Blick hinein warf reckten sich mir fünf mickrige Dollar entgegen – ansonsten war er vollkommen leer. Ich seufzte. Ich hatte heute so ziemlich alles gekauft, was wir für die nächste Woche benötigten und hatte mit dem Rest eigentlich vorgehabt, Sarah irgendein kleines Spielzeug zu kaufen – wie konnte ich es jetzt für mich benutzen? Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ein Kinobesuch Geld kosten würde? Aber ich konnte Nikki unmöglich einfach so stehen lassen – das Geld würde sie nicht mehr zurück bekommen. Dann würde ich Sarah eben ein Eis kaufen und den Rest sparen. Aber genießen würde ich diesen Film bestimmt nicht – nicht wenn ich mir mein Ticket so selbstsüchtig gekauft hatte, und dafür meine kleine Schwester zurückstecken musste.
„Hope, du musst doch nicht dafür bezahlen!“, meinte Nikki überrascht, als sie begriff, was ich mit meinem Geldbeutel vorhatte.
„Doch, muss ich. Ich kann dir unmöglich auf der Tasche liegen, Nikki“, erklärte ich bestimmter, als ich mich fühlte.
Nikki lächelte mich mitfühlend an. Sie wusste eigentlich nichts von den Verhältnissen in meiner Familie, aber sie schien mit der Zeit begriffen zu haben, dass wir nicht gerade reich waren.
„Das ist der Grund, aus dem ich dich so gerne mag“, erklärte Nikki und drückte mich erneut, „sieh es als… eine Entschuldigung dafür, dass ich dir letztes Jahr nichts zum Geburtstag geschenkt habe!“
Ich war leicht perplex. Nikki und Michael waren letztes Jahr – zufälliger Weise gleichzeitig – umgezogen und an meine alte Mittelschule gekommen. Das ganze war mitten im Jahr geschehen und nur wenige Tage vor meinem Geburtstag. Sie hatten damals beide überhaupt nicht wissen können, dass ich Geburtstag hatte, da ich schon seit Jahren keine Geburtstagsfeiern mehr veranstaltete, also auch keine Einladungen verteilte.
„Ni…“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich: „Keine Widerrede, Hope!“ und wandte sich ab, um sich ein Ticket zu ziehen, da Michael schon mit dem Verteilen angefangen hatte.
Verschämt lächelnd steckte ich meinen Geldbeutel wieder weg – wenn Nikki so drauf war, konnte man es einfach nicht ändern. Aber irgendwann würde ich mich schon irgendwie revanchieren.
„Hey, vergiss mich nicht!“, rief ich Michael fröhlich grinsend zu und griff nach einem Ticket, als er sich zu mir umdrehte.
„Hey, du hast den Randplatz, Hope!“, rief ein Junge hinter mir, als er mir über die Schulter spähte und die Zahlen auf meinem Ticket betrachtete.
„Und… wer sitzt neben mir?“, fragte ich, als ich feststellte, dass das bedeutete ich würde nur einen Sitznachbarn haben.
„Aaahh, lass mal sehen… Hey, wer hat den Platz neben dem Randplatz?“, rief der Junge in die Runde.
„Ich“, kam die relativ kurze Antwort hinter mir.
Überrascht drehten der Junge und ich mich gleichzeitig herum.
Kilian.
Das war ja wohl ein Scherz.
„Sieht so aus, als wolle das Schicksal, dass ihr für immer und ewig neben einander sitzt“, lachte ein Junge aus meiner Klasse und die Nachricht, dass Kilian und ich in der Schule nebeneinander saßen verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter denen, die es noch nicht wussten.
Die Jungs – und Nikki – fanden dass anscheinend sehr amüsant, während die meisten Mädchen dass offenbar… weniger lustig sahen.
Ich hab nichts gegen Kilian. Ganz ehrlich, dachte ich, als wir endlich alle im Kinosaal saßen. Die Lichter waren noch an, einige Lieder wurden abgespielt und im Allgemeinen herrschte ein ziemlich hoher Lautstärkepegel.
Aber zwischen Kilian und mir war es totenstill.
An Kilians anderer Seite saß Michael, der mehr als genug damit beschäftigt war sich mit 15 Leuten oder so gleichzeitig zu unterhalten.
„Was für ein Film genau schauen wir uns überhaupt an?“, fragte ich Kilian etwas schüchtern, fest entschlossen eine Unterhaltung einzuleiten – oder es zumindest zu versuchen.
„Ich habe keine Ahnung – meine Meinung war in der Minderheit“, antwortete er und sah mich mit seinen wunderschönen rot-braunen Augen an.
„Was für einen Film wolltest du denn sehen?“, fragte ich, interessiert daran, mehr über ihn zu erfahren.
„Einen Horrorfilm“, gab er als kurze Antwort.
„Wahrscheinlich keinen japanischen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Ich hatte eigentlich nicht so viel für Filme übrig. Sie waren so irreal. Aber Horrorfilme, die liebte ich. Vor allem japanische – sie waren einfach am besten und nicht so ein Hollywood-Schwachsinn.
„Doch“, antwortete er.
Überrascht wandte ich mich ihm zu. Ich kannte nicht viele Menschen, die japanische Horrorfilme mochten. Die meisten hatten gerade mal „The Ring“ und „The Grudge“ gesehen, und dachten sie wüssten schon alles, was es über japanischen Horror zu wissen gab. Aber das stimmte nicht – japanischer Horror hatte soviel mehr zu bieten als kleine seltsame Horrorkinder!
Und genau das sagte ich jetzt.
„Man muss sich mit Dingen schon ein bisschen mehr auskennen, bevor man sich eine Meinung bildet, aber das tun die wenigsten. Bei japanischen Horrorfilmen hat man so große Angst, weil der Film einem das Gefühl gibt, dass einen absolut nichts einen retten kann und man total hilflos ist. Außerdem stecken hinter japanischen Horrorfilmen meistens unglaubliche Geschichten, die man ich niemals selbst ausdenken oder auf sie kommen könnte und die trotzdem Sinn ergeben. Bei Hollywood-Filmen kann man schon bevor der Film anfängt alles erraten“, stimmte er mir zu.
„Was ja der wichtigste Unterschied ist, zumindest meiner Meinung nach sind was für Horrorfilme man meint. Es gibt diese widerlich Splatter-Filme, meistens mit Zombies, bei denen alles gut ist, solange nur ein paar Gedärme durch die Luft fliegen und es gibt…“, fing ich an meine Meinung zu verbreiten.
„… Filme, bei denen man immer nur erschreckt wird. Und dann gibt es eben noch diesen Horror, bei dem man absolut hilflos ist“, beendete Kilian meinen Satz.
Und so begannen wir ohne dass ich es bemerkte uns über Hollywood, Filme und Japan zu unterhalten.
Beinahe enttäuscht schloss ich meinen Mund und kehrte mich der Leinwand zu als die Lichter ausgingen und die Vorschau anfing.
Nach überraschend kurzer Werbung begann dann auch der Film.
Es war eine eher simpel gestrickte Story über einen Jungen, der nicht sonderlich beliebt war und sich – Überraschung! – in das beliebteste Mädchen der Schule verliebte. Dann half ihm seine beste Freundin für sie cooler zu werden. Der Junge wurde selbst zum beliebtesten Jungen der Schule und kam dann mit seiner besten Freundin zusammen.
Vorhersehbar, dachte ich und wandte meinen Kopf Kilian zu.
Überrascht stellte ich fest, dass er kicherte.
„Findest du das komisch?“, flüsterte ich ihm zu, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ihm das gefallen könnte.
„Versuch zu erraten was als nächstes passiert“, riet er mir.
Leicht verwirrt wandte ich mich dem Bildschirm zu. Der Film lief noch nicht lange, doch gerade jetzt lief die Schulschönheit durch die Flure während ihre Haare hinter ihr wehten, so als stände vor ihr ein riesiger Ventilator.
„Als nächstes… hm… knallt ihm die Tür des Schließfachs ins Gesicht und sie läuft direkt an ihm vorbei“, murmelte ich Kilian zu.
„KNALL!“, geschah genau das, was ich vorhergesagt hatte.
„Und jetzt wird seine beste Freundin vorgestellt – sie steht direkt hinter dem Schließfach und hat was von einem Emo, ist aber nicht wirklich einer“, flüsterte Kilian zurück – und hatte Recht.
„Und jetzt gehen sie zusammen ins Klassenzimmer und er wird irgendwie von den Footballspielern fertig gemacht und alle lachen ihn aus, während er auf dem Boden sitzt. Sie rät ihm dann sie zu ignorieren und hilft ihm auf“, fuhr er fort.
„Und dann wird sie irgendwie angemacht, wahrscheinlich als Emo beleidigt, aber verdreht nur die Augen!“, riet ich weiter und begann langsam Spaß an diesem Spiel zu haben.
„Und dann kommen sie ins Klassenzimmer und der Lehrer macht sich lächerlich“, fuhr Kilian fort.
Und so spannen wir die Geschichte immer weiter – und lagen nicht ein einziges Mal falsch.
Als der Film dann zu Ende war und sich unsere kleine Gruppe lachend in Wohlgefallen auflöste, verließen Kilian und ich zusammen das Kino und lachten noch über unser kleines Spiel.
Als wir uns dann schließlich trennten, und ich mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr, war ich mir hundertprozentig sicher – das war ein schöner Tag gewesen.
Als ich – es war schon dunkel – nach Hause kam, lag Sarah natürlich längst im Bett. Morgen würde sie sich beschweren, dass sie mich nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Doch in der Küche brannte noch Licht.
„Mom?“, öffnete ich die nur angelehnte Tür.
Da saß sie am Küchentisch beim flackernden Schein der alten Glühbirne und hatte mir den Rücken zugekehrt. Sie schien mich nicht zu bemerken – sie hatte doch nicht? Erschrocken zog ich die Luft ein und pfefferte die Einkaufstüte in eine Ecke. Dann ging ich mit entschlossenen Schritten auf sie zu, packte sie an der Schulter und drehte sie zu mir herum.
Eine Flasche Sekt in der Hand sah sie mich aus verschwommenen Augen an.
„Oh hick… hey…“, machte sie.
Wortlos packte ich die zu drei vierteln geleerte Flasche und entriss sie meiner Mutter.
„Du hast gesagt du würdest aufhören!“, sagte ich noch, während ich mich auf den Absätzen zum Fenster herumdrehte.
„Nein! Stopp, du widerliche Missge – hick – burt! Du grauenhaftes hick Kind! Gib sie mir wieder!“, schrie mich meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie sondern schritt immer mehr auf das Fenster zu.
KRACK! Machte es, als meine Mutter mich mit all ihrer betrunkenen Kraft auf den Hinterkopf schlug. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus und ich begann zu schwanken. Ganz egal wie viel Promille sie beeinflussten, schwach war meine Mutter nicht. Doch ich ignorierte auch das.
„Wegen hick dir hat er mich verlassen! Teufel! Dämon hick!“, schrie sie verzweifelt, stolperte beim Versuch mir hinterher zu torkeln und schlug der Länge nach hin.
Ich war endlich am Fenster angekommen. Hastig riss ich es auf und entleerte den kümmerlichen Rest des Inhaltes der Flasche in unseren Garten, während ich mich innerlich bei den Blumen entschuldigte.
Wieso hatte meine Mutter nur wieder ihn erwähnen müssen.
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann, aber wegen dir ist er weggerannt. Wer kann’s ihm auch verübeln bei so einem Monster von Tochter!“, schrie meine Mutter am Boden liegend weiter.
Ich blickte zu ihr herab und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt, aber ich fühlte mich jedes Mal aufs Neue hilflos wenn meine Mutter mir diese Dinge an den Kopf warf.
Dann begann sie plötzlich auf mich zu zukrabbeln. Besser gesagt kriechen, denn sie robbte am Boden entlang, ohne sich auch nur ein Stückchen aufzurichten.
„Mom…“, sagte ich und wollte einen Schritt auf sie zu machen, aber da war sie schon bei mir angekommen und klammerte sich überraschenderweise an meinem Bein fest.
Dann fing sie an zu weinen. Ich spürte wie die Tränen durch meine Hose langsam zu meinem Bein durchsickerten. So krallte sie sich an mir fest und schrie immer weiter:
„Mach dass er wieder kommt! Bring ihn zurück! Gib ihn mir wieder!“
Dann ging ihr Gebrüll in ersticktes Schluchzen über und sie schien immer schwerer zu werden. Langsam zog sie mich in Richtung Boden.
Ich war haltlos. Nicht nur, weil sie mich immer mehr hinunter zerrte. Ich fühlte mich allein. Woran sollte ich mich festhalten? An welchem Ort, an welchem Menschen? Dunkle Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus. Ich war allein. Es gab nichts, das mich sicherte. Nichts, das mir Halt gab.
Hilfe.
„Mrau!“, machte Sunny neben uns und betrachtete die eigenartige Szene, wie meine Mutter sich weinend an meinem Bein festhielt und ich mich mit dem Rücken in Richtung des immer noch geöffneten Fensters unbewusst an der Fensterbank abstützte.
Schluss jetzt! Ich war hier, jetzt war heute! Ich spürte die Gefühle, die mich so fertig gemacht hatten immer noch, aber gleichzeitig erkannte ich, dass ich, ganz egal was ich empfand, weiter machen würde müssen. Ich konnte Sarah und Mom nicht im Stich lassen. Meine Gefühle taten hier nichts zur Sache bei. Schlagartig wurden die Verzweiflung und die tiefe Sinnlosigkeit in mir dumpfer. Ich hatte zu tun!
„Mom, es ist okay“; sagte ich mitfühlend und beugte mich besorgt zu ihr herab, „er ist es nicht wert, dass du solche Tränen um ihn weinst.“
Meine Mutter zog die Nase hoch und blickte mich an. Die Tränen hatten gestoppt.
„Du kennst ihn doch kaum, woher willst du wissen was er wert ist und was nicht?“, fragte sie mich vorwurfsvoll.
„Das ist jetzt nicht so wichtig“, sagte ich verständnisvoll. Ich hatte oft genug versucht meiner Mutter zu erklären, dass ihr Mann uns eiskalt verlassen hatte, deswegen wusste ich, wie sinnlos es war.
„Wichtig ist, dass du stark sein musst. Wen schon nicht für dich und nicht für mich, dann sei es für Sarah. Sie ist erst fünf“, murmelte ich und lächelte meine Mutter melancholisch an.
„Geh jetzt ins Bett. Ich räume noch alles auf. Gute Nacht“, sagte ich und schob meine Mutter auf ihre Beine. Dann tätschelte ich ihren Kopf und drehte sie in Richtung ihres Schlafzimmers, ohne ihr Zeit für Widerrede zu lassen.
„Gute Nacht“, hickte sie, dann lief sie in ihren Raum. Ich würde später noch nach ihr sehen müssen. Aber jetzt hatte ich wichtigeres zu tun. Kaum hatte sich die Tür hinter meiner Mutter geschlossen fing ich auch schon an, Sunny etwas Futter in ihren Napf zu tun, ihr Wasser nachzufüllen und sie kurz zu streicheln. Dann räumte ich die Einkäufe aus der Tasche in die Schränke und ging in mein und Sarahs Zimmer.
Wie erwartet, da lag ein kleiner, in eine Decke eingewickelter Ball auf Sarahs Bett und zitterte.
„Sarah?“, fragte ich leicht besorgt. Es wäre auch zu schön gewesen wenn sie bei Moms Geschrei hätte weiterschlafen können.
„Hope, hassen du und Mom einander?“, fragte mich der Deckenknäuel.
„Was redest du für einen Unsinn? Mom und ich haben uns ganz doll lieb. Wir haben uns nur gestritten, weil… ich so lang weg war“, sagte ich zu meiner kleinen Schwester, während ich innerlich zu Gott betete, dass er mir diese Lüge verzeihen möchte und begann an dem Deckenball herumzufummeln um Sarah aus ihm herauszupollen.
„Wirklich?“, hörte ich ein kleines, ängstliches Stimmchen.
„Was denkst du denn? Natürlich – oder glaubst du ich lüge?“
Bitte Gott, vergib mir!
„Nein!“, rief Sarah und streckte den Kopf aus ihrem kleinen Versteck.
„Ich vertraue dir, Hope!“, rief sie und ihre kleinen, goldenen Engelslöckchen schwangen nur so in der Luft herum, als sie versuchte mir mit ihrem Gesicht klar zu machen, dass sie es ernst meinte.
Wie konnte ich diesen kleinen Engel nur belügen? Aber wie hätte ich ihr schon die Wahrheit sagen können?
„Dann geh jetzt schlafen – Mom und ich verstehen uns wieder und alles ist gut“, sagte ich und lächelte Sarah mit dem ehrlichsten Lächeln an, dass ich in dieser Situation zustande bringen konnte.
So strahlend hell wie die Sonne lächelte Sarah zurück und ich schaffte es endlich die Decke von ihr zu entfernen. Dann legte sie sich hin und ich warf die Decke wieder über sie.
„Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“, sagte ich und Sarah drückte ganz fest die Augen zusammen.
Dann verließ ich den Raum wieder – Zeit nach Mom zu sehen.
Als ich die Tür zu ihrem Raum öffnete, war alles dunkel. Ein gutes Zeichen.
Als meine Augen sich dann langsam an die Finsternis gewöhnten konnte ich erkennen, dass sich meine Mutter noch voll angezogen aufs Bett geworfen hatte und tief und fest schlief.
Erleichternd lächelnd zog ich ihr Schuhe und Socken aus – mindestens so viel musste sein – und deckte sie zu.
Danach ging ich aus ihrem Raum und schloss die Tür hinter mir. Und dann stand ich da. Allein, in unserer dunklen Wohnung. Sunny schien auch schlafen gegangen zu sein, denn dieses Mal unterbrach mich ihr „Mrau“ nicht.
Morgen würde Mom sich an nichts, das geschehen war erinnern. Sie würde nichts mehr von dem Alkohol wissen. Sie würde nicht wissen, was sie gesagt hatte. Und Sarah würde das Ganze als normal abstempeln und es aus ihrem Gedächtnis streichen, da sie es für unwichtig halten würde. Und wenn sie älter wurde, würde sie sich sowieso kaum noch an irgendwelche Erlebnisse aus ihrem fünften Lebensjahr erinnern. Im Großen und Ganzen würde ich wahrscheinlich morgen der einzige Mensch sein, der sich an das, was heute Abend geschehen war erinnerte. Ich seufzte.
Leicht deprimiert stieß ich mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und ging auf mein Zimmer zu – jetzt würde ich ins Bett gehen.
Zuerst musste ich einkaufen gehen – wir hatten so gut wie nichts mehr zu Essen zu Hause. Außerdem war auch das Katzenfutter für fast ausgegangen. Danach musste ich Lea meine Hausaufgaben vorbeibringen – zum Abschreiben, wie mir klar war. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich (wenn ich schon einmal da war) auch noch von mir verlangen irgendwelche Besorgungen zu machen. Solche Dinge wie Anti-Pickelcreme oder Binden konnte sie ja nicht selber kaufen. Das würde ihr „Image“ zerstören. Und dann wäre es wahrscheinlich auch schon an der Zeit, dass ich mich mit Michael, Nikki und diesen anderen Leuten am Kino traf.
Also schloss ich die Tür hinter mir ab und schwang mich im Morgengrauen aufs Fahrrad. Der Weg bis zum nächsten Supermarkt war relativ lang.
Das Einkaufen verlief relativ problemlos. War ja alles keine große Sache.
Aber schon als ich die Nähe von Leas Haus kam konnte ich hören wie jemand angewidert die Nase rümpfte. Überrascht blickte ich mich um – eigentlich hatte mich jeder der in diesem Gebiet der Reichen lebte schon mindestens einmal gesehen.
Oh, Neuankömmlinge.
An der Straßenseite standen dutzende von Möbelpackerwägen und überall schienen irgendwelche Arbeiter herumzufusseln, die alle schwer beschäftigt waren.
Und am Rand von alldem stand -sehr klischeehaft, aber wahr- eine junge Frau und schrie Dinge wie „Passen Sie bloß auf, dass Sie nichts kaputt machen!“
Und anscheinend war es auch diese Frau gewesen, die mich mit so verächtlichen Blicken bedacht hatte.
Und sie sah mich immer noch an, wie ich da auf meinem Fahrrad kurz gestoppt hatte, um dieses Haus zu bestaunen.
Wen Leas Haus groß war, dann war dieses hier riesig, nein monströs, nein gigantisch!
Es war mindestens fünfmal so groß, wenn nicht sogar noch mehr – es war wohl die größte Villa in der ganzen Gegend. Und hier waren alle Häuser in etwa zehnmal so groß wie normale Häuser.
Ganz egal, aber auf jeden Fall mussten diese Neuhinzugezogen verdammt reich sein um sich so etwas leisten zu können.
„Willst du was?“, schnauzte mich die Frau herablassend an. Auf keinen Fall war sie die „Frau des Hauses“. Sie war höchsten zwei Jahre älter als ich – noch nicht mal aus der Schule gekommen – obwohl... man hört ja immer wieder solche Geschichten… Aber nein. Das traute ich dieser Frau nicht zu.
„Äh nein, Entschuldigung!“, antwortete ich und machte mich schnell wieder auf den weg ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hatte ja eigentlich sowieso keine Zeit. Es war mittlerweile schon Mittag und nur noch 10 Minuten von der mit Lea verabredeten Zeit.
Als ich vor ihrem Haus vorfuhr und aus dem Sattel sprang schmiss ich mein Fahrrad schnell gegen die Mauer und rannte auf das große, schwere Eisentor zu.
Der Wachmann dort, der mich ja bereits kannte, nickte mir nur zu und öffnete das Tor für mich.
Ich warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu und rannte schnell auf die Tür zu.
Als ich den Klingelknopf drückte öffnete mir fast auf der Stelle eine Dienerin (was für ein dummer Beruf) die Tür und begrüßte mich. Sie erklärte mir auch, dass Lea in ihrem Zimmer auf mich warte.
Oh shit. Sie wartete. Das war alles andere als gut.
Schnell bedankte ich mich bei der Dienerin und rannte durch die Korridore in Richtung Leas Zimmer.
Als ich endlich vor der Tür angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf meine Uhr- es war knapp, aber ich war noch pünktlich.
Seufzend klopfte ich an – das ich eigentlich im Recht war würde mich vor Leas Zorn nicht schützen.
„HEREIN!“, kam die prompte und laute Antwort auf mein Klopfen.
„Hey, Lea, ich bin’s, Hope“, sagte ich, während ich vorsichtig die Tür öffnete, immer sorgfältig darauf bedacht sie als Schutzschild benutzen zu können, sollte mir etwas entgegenfliegen.
KRACH! Eine Blumenvase. Ich hatte glücklicherweise noch rechtzeitig reagiert, deswegen erwischten mich nur einige Scherben an meinem nicht bedeckten Arm, doch als ich ihn erschrocken und besorgt betrachtete konnte ich nur einen einzigen, kleinen Kratzer entdecken.
„WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH ERST SO SPÄT ZU KOMMEN?“, wurde ich auf der Stelle angeschrien, als ich mich endlich traute hinter der schützenden Tür hervorzutreten.
„Es tut mir leid.“
Ich versuchte gar nicht erst zu erklären, dass ich pünktlich war. Logik war Lea egal.
„Hast du die Hausaufgaben dabei?!“, schnauzte sie mich an.
„Ja, hier“, antwortete ich und zog aus der großen Einkaufstasche, die an meinem unverletzten Arm hing einige Hefte heraus.
„Gut – ich hab heute keine Zeit für dich, also schreib sie einfach in meine Hefte. Aber vergiss bloß nicht, deine Schrift zu verstellen!“
Ich nickte, aber ich konnte mir eine Frage einfach nicht verkneifen: „Wo gehst du denn hin?“
„Mph“, machte Lea verächtlich, „meine Eltern wollen, dass ich die neuen Nachbarn mit ihnen begrüße.“
„Oh, viel Spaß!“, meinte ich, während ich mich langsam in Leas Zimmer vortraute um mich and den Schreibtisch zu setzen und ihr die Hausaufgaben abzuschreiben.
„Viel Spaß? HA! Aber den werde ich schon noch haben. Ich gehe danach noch mit ein paar Freundinnen shoppen, also verziehst du dich einfach, wenn du fertig bist, verstanden?“
„Ja“, sagte ich, setzte mich an ihren Schreibtisch und begann zu arbeiten.
„Gut, dann bis Montag“, verabschiedete Lea sich, während sie sich von ihrem Bett erhob und das Zimmer verlies.
Nachdem sie gegangen war arbeitete ich seufzend weiter – dass war Leas Bestrafung dafür, dass ich „zu spät“ gekommen war.
Das Abschreiben alleine hätte ja wahrscheinlich schon mehr als lange genug gedauert, aber dann auch noch die ganze Zeit über die eigene Schrift zu verstellen war wirklich anstrengend.
Dennoch war ich nach nur drei Stunden fertig – gerade noch genug Zeit, um pünktlich zum Kino zu kommen.
Also schmiss ich schnell alle meine Hefte in meine Tüte und rannte wieder aus dem Haus, am Wachmann vorbei zu meinem Fahrrad.
Als ich schließlich (mit gerade mal fünf Minuten Verspätung) am Kino ankam, waren alle anderen schon da.
Da waren natürlich Nikki und Michael, aber auch zahllose Leute aus meiner alten Mittelschule. Außerdem auch einige aus meiner Klasse. Jungen wie Mädchen – sie alle hatten ihre Gründe. Für die Meisten waren diese allerdings höchstwahrscheinlich Nikki oder Michael selbst, denn beide waren verdammt gut aussehend.
Ich passte eigentlich überhaupt nicht zu ihnen.
Was mich aber an der Gruppe am meisten erstaunte war eine einzige Person, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Kilian.
Er stand ganz am Rand der Gruppe, und gleichzeitig schienen doch alle Blicke auf ihn gerichtet.
Als ich endlich bei ihnen ankam (mein Fahrrad hatte ich schon abgestellt) sprang mir Nikki wie üblich um den Hals.
„Hope, du bist zu spät!“, beschwerte sie sich in ihrem kindischen Schmollton, den sie nur zum Spaß anlegte.
„Tut mir leid, ich…war beschäftigt“, murmelte ich zur Entschuldigung.
„Was, Hope, was ist dir wichtiger als ich?“, machte Nikki grinsend weiter.
„Alles“, antwortete ich eiskalt, „welchen Film sehen wir uns überhaupt an?“
„NICHT KOMISCH, HOPE!!“, schrie Nikki mir ins Ohr.
„Schon gut, schon gut, du bist das Wichtigste überhaupt“, gab ich nach.
„Na geht doch“, murmelte Nikki zufrieden und lies mich los.
„Und wir schauen uns eine Komödie an“, gab mir Michael auf meine Frage zur Antwort.
„Ein Liebesfilm würde nur uns Mädchen gefallen, und auf Horror haben wir nicht wirklich Lust“, erklärte mir ein Mädchen aus meiner Mittelschule – Melinda, wenn ich mich nicht irrte.
„Jack ist schon Tickets kaufen gegangen“, meinte ein Junge aus meiner Klasse, denn ich nun überhaupt nicht kannte – und wer war Jack?
Wir betraten das Kino, das so ziemlich aussah wie jedes andere Kino auch – ein große Vorhalle, der Ticketschalter, dahinter ein Kiosk und große, breite Treppen die Nach oben führten. Natürlich hingen auch überall Plakate für irgendwelche Filme. An einer Seite schien die Wand nur aus Glas zu sein – dort befand sich bestimmt kein einziger Kinosaal. Unter mir erstreckte sich ein blauer Teppichboden, der sauber und ordentlich erschien.
„Hier bin ich!“, hörte ich jemanden rufen und drehte mich, beinahe automatisch in die Richtung, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkam.
Dort hinten stand ein blonder Junge, in einem einfach Kapuzenshirt und Jeans, und winkte uns zu.
Jack, kombinierte ich.
Michael und Nikki, die wie üblich die Anführer unserer kleinen Gruppe geworden waren, winkten zurück und wir setzten uns alle in Bewegung um ihn zu erreichen.
Als wir schließlich bei ihm waren, nahm Michael ihm mit einem kurzen Grinsen die Tickets ab, und begann – zu meiner Verwunderung – sie zu mischen.
„Heute haben wir uns was Besonderes ausgedacht“, erklärte mir Nikki, „da wir ja alle Freunde sind und niemand irgendwen vorzieht, losen wir die Sitzplätze aus. Sie sind doch alle nebeneinander, oder Jack?“
Der blonde Junge nickte: „Und sogar hinten in der Loge!“
Da fiel mir etwas ein, voran ich zuvor noch gar nicht gedacht hatte – wer hatte überhaupt meinen Platz bezahlt?
„Nikki, wer hat für mich bezahlt?“, fragte ich.
„Das war ich, wer denn sonst?“, rief sie, fast schon stolz hervor, „Hat auch nur drei Dollar gekostet, oder so.“
Auf der Stelle begann ich in meiner großen Einkaufstüte zu kramen um an meinen Geldbeutel heranzukommen. Als ich ihn dann schließlich fand und einen Blick hinein warf reckten sich mir fünf mickrige Dollar entgegen – ansonsten war er vollkommen leer. Ich seufzte. Ich hatte heute so ziemlich alles gekauft, was wir für die nächste Woche benötigten und hatte mit dem Rest eigentlich vorgehabt, Sarah irgendein kleines Spielzeug zu kaufen – wie konnte ich es jetzt für mich benutzen? Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ein Kinobesuch Geld kosten würde? Aber ich konnte Nikki unmöglich einfach so stehen lassen – das Geld würde sie nicht mehr zurück bekommen. Dann würde ich Sarah eben ein Eis kaufen und den Rest sparen. Aber genießen würde ich diesen Film bestimmt nicht – nicht wenn ich mir mein Ticket so selbstsüchtig gekauft hatte, und dafür meine kleine Schwester zurückstecken musste.
„Hope, du musst doch nicht dafür bezahlen!“, meinte Nikki überrascht, als sie begriff, was ich mit meinem Geldbeutel vorhatte.
„Doch, muss ich. Ich kann dir unmöglich auf der Tasche liegen, Nikki“, erklärte ich bestimmter, als ich mich fühlte.
Nikki lächelte mich mitfühlend an. Sie wusste eigentlich nichts von den Verhältnissen in meiner Familie, aber sie schien mit der Zeit begriffen zu haben, dass wir nicht gerade reich waren.
„Das ist der Grund, aus dem ich dich so gerne mag“, erklärte Nikki und drückte mich erneut, „sieh es als… eine Entschuldigung dafür, dass ich dir letztes Jahr nichts zum Geburtstag geschenkt habe!“
Ich war leicht perplex. Nikki und Michael waren letztes Jahr – zufälliger Weise gleichzeitig – umgezogen und an meine alte Mittelschule gekommen. Das ganze war mitten im Jahr geschehen und nur wenige Tage vor meinem Geburtstag. Sie hatten damals beide überhaupt nicht wissen können, dass ich Geburtstag hatte, da ich schon seit Jahren keine Geburtstagsfeiern mehr veranstaltete, also auch keine Einladungen verteilte.
„Ni…“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich: „Keine Widerrede, Hope!“ und wandte sich ab, um sich ein Ticket zu ziehen, da Michael schon mit dem Verteilen angefangen hatte.
Verschämt lächelnd steckte ich meinen Geldbeutel wieder weg – wenn Nikki so drauf war, konnte man es einfach nicht ändern. Aber irgendwann würde ich mich schon irgendwie revanchieren.
„Hey, vergiss mich nicht!“, rief ich Michael fröhlich grinsend zu und griff nach einem Ticket, als er sich zu mir umdrehte.
„Hey, du hast den Randplatz, Hope!“, rief ein Junge hinter mir, als er mir über die Schulter spähte und die Zahlen auf meinem Ticket betrachtete.
„Und… wer sitzt neben mir?“, fragte ich, als ich feststellte, dass das bedeutete ich würde nur einen Sitznachbarn haben.
„Aaahh, lass mal sehen… Hey, wer hat den Platz neben dem Randplatz?“, rief der Junge in die Runde.
„Ich“, kam die relativ kurze Antwort hinter mir.
Überrascht drehten der Junge und ich mich gleichzeitig herum.
Kilian.
Das war ja wohl ein Scherz.
„Sieht so aus, als wolle das Schicksal, dass ihr für immer und ewig neben einander sitzt“, lachte ein Junge aus meiner Klasse und die Nachricht, dass Kilian und ich in der Schule nebeneinander saßen verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter denen, die es noch nicht wussten.
Die Jungs – und Nikki – fanden dass anscheinend sehr amüsant, während die meisten Mädchen dass offenbar… weniger lustig sahen.
Ich hab nichts gegen Kilian. Ganz ehrlich, dachte ich, als wir endlich alle im Kinosaal saßen. Die Lichter waren noch an, einige Lieder wurden abgespielt und im Allgemeinen herrschte ein ziemlich hoher Lautstärkepegel.
Aber zwischen Kilian und mir war es totenstill.
An Kilians anderer Seite saß Michael, der mehr als genug damit beschäftigt war sich mit 15 Leuten oder so gleichzeitig zu unterhalten.
„Was für ein Film genau schauen wir uns überhaupt an?“, fragte ich Kilian etwas schüchtern, fest entschlossen eine Unterhaltung einzuleiten – oder es zumindest zu versuchen.
„Ich habe keine Ahnung – meine Meinung war in der Minderheit“, antwortete er und sah mich mit seinen wunderschönen rot-braunen Augen an.
„Was für einen Film wolltest du denn sehen?“, fragte ich, interessiert daran, mehr über ihn zu erfahren.
„Einen Horrorfilm“, gab er als kurze Antwort.
„Wahrscheinlich keinen japanischen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Ich hatte eigentlich nicht so viel für Filme übrig. Sie waren so irreal. Aber Horrorfilme, die liebte ich. Vor allem japanische – sie waren einfach am besten und nicht so ein Hollywood-Schwachsinn.
„Doch“, antwortete er.
Überrascht wandte ich mich ihm zu. Ich kannte nicht viele Menschen, die japanische Horrorfilme mochten. Die meisten hatten gerade mal „The Ring“ und „The Grudge“ gesehen, und dachten sie wüssten schon alles, was es über japanischen Horror zu wissen gab. Aber das stimmte nicht – japanischer Horror hatte soviel mehr zu bieten als kleine seltsame Horrorkinder!
Und genau das sagte ich jetzt.
„Man muss sich mit Dingen schon ein bisschen mehr auskennen, bevor man sich eine Meinung bildet, aber das tun die wenigsten. Bei japanischen Horrorfilmen hat man so große Angst, weil der Film einem das Gefühl gibt, dass einen absolut nichts einen retten kann und man total hilflos ist. Außerdem stecken hinter japanischen Horrorfilmen meistens unglaubliche Geschichten, die man ich niemals selbst ausdenken oder auf sie kommen könnte und die trotzdem Sinn ergeben. Bei Hollywood-Filmen kann man schon bevor der Film anfängt alles erraten“, stimmte er mir zu.
„Was ja der wichtigste Unterschied ist, zumindest meiner Meinung nach sind was für Horrorfilme man meint. Es gibt diese widerlich Splatter-Filme, meistens mit Zombies, bei denen alles gut ist, solange nur ein paar Gedärme durch die Luft fliegen und es gibt…“, fing ich an meine Meinung zu verbreiten.
„… Filme, bei denen man immer nur erschreckt wird. Und dann gibt es eben noch diesen Horror, bei dem man absolut hilflos ist“, beendete Kilian meinen Satz.
Und so begannen wir ohne dass ich es bemerkte uns über Hollywood, Filme und Japan zu unterhalten.
Beinahe enttäuscht schloss ich meinen Mund und kehrte mich der Leinwand zu als die Lichter ausgingen und die Vorschau anfing.
Nach überraschend kurzer Werbung begann dann auch der Film.
Es war eine eher simpel gestrickte Story über einen Jungen, der nicht sonderlich beliebt war und sich – Überraschung! – in das beliebteste Mädchen der Schule verliebte. Dann half ihm seine beste Freundin für sie cooler zu werden. Der Junge wurde selbst zum beliebtesten Jungen der Schule und kam dann mit seiner besten Freundin zusammen.
Vorhersehbar, dachte ich und wandte meinen Kopf Kilian zu.
Überrascht stellte ich fest, dass er kicherte.
„Findest du das komisch?“, flüsterte ich ihm zu, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ihm das gefallen könnte.
„Versuch zu erraten was als nächstes passiert“, riet er mir.
Leicht verwirrt wandte ich mich dem Bildschirm zu. Der Film lief noch nicht lange, doch gerade jetzt lief die Schulschönheit durch die Flure während ihre Haare hinter ihr wehten, so als stände vor ihr ein riesiger Ventilator.
„Als nächstes… hm… knallt ihm die Tür des Schließfachs ins Gesicht und sie läuft direkt an ihm vorbei“, murmelte ich Kilian zu.
„KNALL!“, geschah genau das, was ich vorhergesagt hatte.
„Und jetzt wird seine beste Freundin vorgestellt – sie steht direkt hinter dem Schließfach und hat was von einem Emo, ist aber nicht wirklich einer“, flüsterte Kilian zurück – und hatte Recht.
„Und jetzt gehen sie zusammen ins Klassenzimmer und er wird irgendwie von den Footballspielern fertig gemacht und alle lachen ihn aus, während er auf dem Boden sitzt. Sie rät ihm dann sie zu ignorieren und hilft ihm auf“, fuhr er fort.
„Und dann wird sie irgendwie angemacht, wahrscheinlich als Emo beleidigt, aber verdreht nur die Augen!“, riet ich weiter und begann langsam Spaß an diesem Spiel zu haben.
„Und dann kommen sie ins Klassenzimmer und der Lehrer macht sich lächerlich“, fuhr Kilian fort.
Und so spannen wir die Geschichte immer weiter – und lagen nicht ein einziges Mal falsch.
Als der Film dann zu Ende war und sich unsere kleine Gruppe lachend in Wohlgefallen auflöste, verließen Kilian und ich zusammen das Kino und lachten noch über unser kleines Spiel.
Als wir uns dann schließlich trennten, und ich mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr, war ich mir hundertprozentig sicher – das war ein schöner Tag gewesen.
Als ich – es war schon dunkel – nach Hause kam, lag Sarah natürlich längst im Bett. Morgen würde sie sich beschweren, dass sie mich nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Doch in der Küche brannte noch Licht.
„Mom?“, öffnete ich die nur angelehnte Tür.
Da saß sie am Küchentisch beim flackernden Schein der alten Glühbirne und hatte mir den Rücken zugekehrt. Sie schien mich nicht zu bemerken – sie hatte doch nicht? Erschrocken zog ich die Luft ein und pfefferte die Einkaufstüte in eine Ecke. Dann ging ich mit entschlossenen Schritten auf sie zu, packte sie an der Schulter und drehte sie zu mir herum.
Eine Flasche Sekt in der Hand sah sie mich aus verschwommenen Augen an.
„Oh hick… hey…“, machte sie.
Wortlos packte ich die zu drei vierteln geleerte Flasche und entriss sie meiner Mutter.
„Du hast gesagt du würdest aufhören!“, sagte ich noch, während ich mich auf den Absätzen zum Fenster herumdrehte.
„Nein! Stopp, du widerliche Missge – hick – burt! Du grauenhaftes hick Kind! Gib sie mir wieder!“, schrie mich meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie sondern schritt immer mehr auf das Fenster zu.
KRACK! Machte es, als meine Mutter mich mit all ihrer betrunkenen Kraft auf den Hinterkopf schlug. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus und ich begann zu schwanken. Ganz egal wie viel Promille sie beeinflussten, schwach war meine Mutter nicht. Doch ich ignorierte auch das.
„Wegen hick dir hat er mich verlassen! Teufel! Dämon hick!“, schrie sie verzweifelt, stolperte beim Versuch mir hinterher zu torkeln und schlug der Länge nach hin.
Ich war endlich am Fenster angekommen. Hastig riss ich es auf und entleerte den kümmerlichen Rest des Inhaltes der Flasche in unseren Garten, während ich mich innerlich bei den Blumen entschuldigte.
Wieso hatte meine Mutter nur wieder ihn erwähnen müssen.
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann, aber wegen dir ist er weggerannt. Wer kann’s ihm auch verübeln bei so einem Monster von Tochter!“, schrie meine Mutter am Boden liegend weiter.
Ich blickte zu ihr herab und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt, aber ich fühlte mich jedes Mal aufs Neue hilflos wenn meine Mutter mir diese Dinge an den Kopf warf.
Dann begann sie plötzlich auf mich zu zukrabbeln. Besser gesagt kriechen, denn sie robbte am Boden entlang, ohne sich auch nur ein Stückchen aufzurichten.
„Mom…“, sagte ich und wollte einen Schritt auf sie zu machen, aber da war sie schon bei mir angekommen und klammerte sich überraschenderweise an meinem Bein fest.
Dann fing sie an zu weinen. Ich spürte wie die Tränen durch meine Hose langsam zu meinem Bein durchsickerten. So krallte sie sich an mir fest und schrie immer weiter:
„Mach dass er wieder kommt! Bring ihn zurück! Gib ihn mir wieder!“
Dann ging ihr Gebrüll in ersticktes Schluchzen über und sie schien immer schwerer zu werden. Langsam zog sie mich in Richtung Boden.
Ich war haltlos. Nicht nur, weil sie mich immer mehr hinunter zerrte. Ich fühlte mich allein. Woran sollte ich mich festhalten? An welchem Ort, an welchem Menschen? Dunkle Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus. Ich war allein. Es gab nichts, das mich sicherte. Nichts, das mir Halt gab.
Hilfe.
„Mrau!“, machte Sunny neben uns und betrachtete die eigenartige Szene, wie meine Mutter sich weinend an meinem Bein festhielt und ich mich mit dem Rücken in Richtung des immer noch geöffneten Fensters unbewusst an der Fensterbank abstützte.
Schluss jetzt! Ich war hier, jetzt war heute! Ich spürte die Gefühle, die mich so fertig gemacht hatten immer noch, aber gleichzeitig erkannte ich, dass ich, ganz egal was ich empfand, weiter machen würde müssen. Ich konnte Sarah und Mom nicht im Stich lassen. Meine Gefühle taten hier nichts zur Sache bei. Schlagartig wurden die Verzweiflung und die tiefe Sinnlosigkeit in mir dumpfer. Ich hatte zu tun!
„Mom, es ist okay“; sagte ich mitfühlend und beugte mich besorgt zu ihr herab, „er ist es nicht wert, dass du solche Tränen um ihn weinst.“
Meine Mutter zog die Nase hoch und blickte mich an. Die Tränen hatten gestoppt.
„Du kennst ihn doch kaum, woher willst du wissen was er wert ist und was nicht?“, fragte sie mich vorwurfsvoll.
„Das ist jetzt nicht so wichtig“, sagte ich verständnisvoll. Ich hatte oft genug versucht meiner Mutter zu erklären, dass ihr Mann uns eiskalt verlassen hatte, deswegen wusste ich, wie sinnlos es war.
„Wichtig ist, dass du stark sein musst. Wen schon nicht für dich und nicht für mich, dann sei es für Sarah. Sie ist erst fünf“, murmelte ich und lächelte meine Mutter melancholisch an.
„Geh jetzt ins Bett. Ich räume noch alles auf. Gute Nacht“, sagte ich und schob meine Mutter auf ihre Beine. Dann tätschelte ich ihren Kopf und drehte sie in Richtung ihres Schlafzimmers, ohne ihr Zeit für Widerrede zu lassen.
„Gute Nacht“, hickte sie, dann lief sie in ihren Raum. Ich würde später noch nach ihr sehen müssen. Aber jetzt hatte ich wichtigeres zu tun. Kaum hatte sich die Tür hinter meiner Mutter geschlossen fing ich auch schon an, Sunny etwas Futter in ihren Napf zu tun, ihr Wasser nachzufüllen und sie kurz zu streicheln. Dann räumte ich die Einkäufe aus der Tasche in die Schränke und ging in mein und Sarahs Zimmer.
Wie erwartet, da lag ein kleiner, in eine Decke eingewickelter Ball auf Sarahs Bett und zitterte.
„Sarah?“, fragte ich leicht besorgt. Es wäre auch zu schön gewesen wenn sie bei Moms Geschrei hätte weiterschlafen können.
„Hope, hassen du und Mom einander?“, fragte mich der Deckenknäuel.
„Was redest du für einen Unsinn? Mom und ich haben uns ganz doll lieb. Wir haben uns nur gestritten, weil… ich so lang weg war“, sagte ich zu meiner kleinen Schwester, während ich innerlich zu Gott betete, dass er mir diese Lüge verzeihen möchte und begann an dem Deckenball herumzufummeln um Sarah aus ihm herauszupollen.
„Wirklich?“, hörte ich ein kleines, ängstliches Stimmchen.
„Was denkst du denn? Natürlich – oder glaubst du ich lüge?“
Bitte Gott, vergib mir!
„Nein!“, rief Sarah und streckte den Kopf aus ihrem kleinen Versteck.
„Ich vertraue dir, Hope!“, rief sie und ihre kleinen, goldenen Engelslöckchen schwangen nur so in der Luft herum, als sie versuchte mir mit ihrem Gesicht klar zu machen, dass sie es ernst meinte.
Wie konnte ich diesen kleinen Engel nur belügen? Aber wie hätte ich ihr schon die Wahrheit sagen können?
„Dann geh jetzt schlafen – Mom und ich verstehen uns wieder und alles ist gut“, sagte ich und lächelte Sarah mit dem ehrlichsten Lächeln an, dass ich in dieser Situation zustande bringen konnte.
So strahlend hell wie die Sonne lächelte Sarah zurück und ich schaffte es endlich die Decke von ihr zu entfernen. Dann legte sie sich hin und ich warf die Decke wieder über sie.
„Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“, sagte ich und Sarah drückte ganz fest die Augen zusammen.
Dann verließ ich den Raum wieder – Zeit nach Mom zu sehen.
Als ich die Tür zu ihrem Raum öffnete, war alles dunkel. Ein gutes Zeichen.
Als meine Augen sich dann langsam an die Finsternis gewöhnten konnte ich erkennen, dass sich meine Mutter noch voll angezogen aufs Bett geworfen hatte und tief und fest schlief.
Erleichternd lächelnd zog ich ihr Schuhe und Socken aus – mindestens so viel musste sein – und deckte sie zu.
Danach ging ich aus ihrem Raum und schloss die Tür hinter mir. Und dann stand ich da. Allein, in unserer dunklen Wohnung. Sunny schien auch schlafen gegangen zu sein, denn dieses Mal unterbrach mich ihr „Mrau“ nicht.
Morgen würde Mom sich an nichts, das geschehen war erinnern. Sie würde nichts mehr von dem Alkohol wissen. Sie würde nicht wissen, was sie gesagt hatte. Und Sarah würde das Ganze als normal abstempeln und es aus ihrem Gedächtnis streichen, da sie es für unwichtig halten würde. Und wenn sie älter wurde, würde sie sich sowieso kaum noch an irgendwelche Erlebnisse aus ihrem fünften Lebensjahr erinnern. Im Großen und Ganzen würde ich wahrscheinlich morgen der einzige Mensch sein, der sich an das, was heute Abend geschehen war erinnerte. Ich seufzte.
Leicht deprimiert stieß ich mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und ging auf mein Zimmer zu – jetzt würde ich ins Bett gehen.
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Kilian - Kapitel 2
am Samstag, 5. November 2011, 03:35 im Topic 'Kilian'
Leise, aber schrill, pfiff mir mein Wecker ins Ohr.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.
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Kilian - Kapitel 1
am Samstag, 5. November 2011, 03:32 im Topic 'Kilian'
„Nun hör schon auf“, versuchte ich Lea noch einmal zu trösten.
„I…ich ka…kann nicht…“, schniefte sie erneut und der Sturzbach Tränen, den wir nun schon seit mindestens einer Stunde zu stillen versuchten, strömte ungehindert weiter.
„Ich habe ihn jetzt schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, und ich kann mir einfach nicht erklären, wo er so plötzlich ohne jede Vorwarnung hin verschwunden sein soll!“, schrie sie mich in einem plötzlichen kurzen Anfall von Wut an, der auch die Tränen versiegen lies.
Erschrocken zuckte ich ein Stück nach hinten und fiel in die warmen weichen Bezüge von Leas Bett zurück, das vielleicht sogar etwas überladen war mit all den Kissen und Decken. Aber es passte in ihr ansonsten sehr mädchenhaft eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Boy-Groups und Bands, die mir nichts sagten, zutapeziert und ansonsten mit Regalen, die absolut mit Schmuck, Krimskrams und Bildern von irgendwelchen Jungen, die mir Lea wahrscheinlich irgendwann auch einmal vorgestellt hatte, vollgestopft waren, versperrt.
Natürlich war alles außer dem schneeweißen Bett in Lila- und Schwarztönen gehalten, so wie es heute in Mode war.
„Ich bin mir sicher, dass Nate irgendeinen wirklich verdammt guten Grund hat einfach so zu verschwinden. Vielleicht ist ein Verwandter gestorben, oder seine Familie musste sonst irgendwo hin“, war die beste Erklärung die mir für diese Situation einfiel.
Oder aber er will dich nicht als seine Freundin haben, dachte ich halbherzig, obwohl ich in Wirklichkeit wusste, dass das vollkommen unmöglich war.
Lea und Nate waren nach einer langen, komplizierten Zeit, in der es Phasen gab, in denen sie Freunde waren, Phasen, in denen sie sich hassten, Phasen, in denen sie ihre Gefühle nicht verstanden und Phasen, in denen sie sich liebten, endlich zusammengekommen. Mir war klar, dass sie nur so lange nicht ein Paar geworden waren, weil sich immer wieder Missverständnisse und Probleme, wie ihre Ex-Freunde und ihre etwas schwer zu verstehende Art ihre Sympathie zu zeigen, eingemischt hatten.
„Sogar wenn er seinen besten Freund verloren hätte, könnte er doch immer noch anrufen!“, brüllte mich Lea erneut an. Von wegen kurzer Anfall.
„Du hast ja irgendwie recht, aber vielleicht ist er auch einfach nur zu traurig um sich gerade mit irgendwelchen Menschen abzugeben“
Blitzschnell drehte sich Leas Kopf in meine Richtung und ein scharfer Blick traf mich.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch nicht irgendjemand! Ich bin seine Freundin! Und mit mir abgeben tut er sich auch nicht! Höchstens ich mich mit ihm!“
Oh shit, dachte ich. Da hatte ich doch glatt einen Wunden Punkt getroffen.
Ich wusste genau, dass die beiden nicht aus Liebe miteinander ausgingen, sondern weil es passte. Lea war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte dunkelbraune Haare (natürlich geglättet), haselnussbraune Augen, den perfekten Körper und einen noch perfekteren Modegeschmack. Außerdem schien sie auch einen idealen Charakter zu besitzen. Na ja, zumindest für Menschen, die sie nicht so gut kannten wie ich.
Nate dagegen war der wohl coolste Junge der Schule. Er war sportlich, stark, hatte ganz akzeptable Noten und sah mit seinen hellbraunen Haaren, seinen grünen Augen und seinem dezenten Sixpack einfach abartig gut aus. Noch dazu hatte er eine ähnlich gute Persönlichkeit wie Lea.
Es war klar gewesen, dass die beiden früher oder später zusammenkommen mussten. Und jetzt bewunderte natürlich die ganze Schule dieses „Traumpaar“. Alle außer mir.
Ich kannte Lea schon seit der Grundschule und wusste alles über sie, von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihrem ersten Freund (der Junge hatte den Wettstreit um diesen Titel nur mit zwei Wochen Vorsprung geschafft – dann hatte sie schon ihren Zweiten). Ich war es auch die gesehen hatte, wie sie ihre Eltern wochenlang bearbeitete nur um längere Ausgehzeiten zu bekommen. Ich war es auch, die miterlebt hatte, wie sie in der Mittelschule ein Mädchen, das es gewagt hatte ihren Freund zu stehlen, solange psychisch mobbte, bis es schließlich aufgab und die Schule wechselte. Ich wusste noch genau, wie gern ich dem Mädchen damals geholfen hätte und wie sehr ich es probiert hatte. Doch ich konnte noch nie gut mit Psychospielchen, die die meisten Mädchen beherrschten, umgehen. Ich erinnerte mich an die zahllosen Versuche, dem Mädchen zu zeigen, dass ich ihre Freundin war. Doch sie hatte immer nur gedacht, ich wolle ihr nur näher kommen um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Aber ich wusste auch, voran das lag. Ich galt als gute Freundin von Lea. Dabei verbrachte ich nur so viel Zeit mit ihr, wegen meiner Familie. Mein Vater war abgehauen, als ich kaum einmal zehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt von Sarah, meiner kleinen Schwester. Meine Mutter, die bis dahin zusammen mit ihm eine Filiale von Your Shopping Center führte, hatte damals angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen, während ich begonnen hatte, mich als Babysitter um Sarah zu kümmern und den Haushalt zu schmeißen. Eine Zeit lang war das Ganze auch gut gegangen, bis die Eltern von Lea, die Besitzer der Einkaufskette Your Shopping Center bemerkten, dass die Einnahmen zurückgingen. Sie lebten durch Zufall (was für eine grausame Welt) in der Nähe und hatten bald alles herausgefunden. Aus Gründen, die ich zunächst nicht verstand, halfen sie uns damals aus der Patsche und bezahlten für den Entzug meiner Mutter.
Zuerst war ich unendlich glücklich. Ich dachte, Gott hätte sich uns gegenüber gnädig gezeigt und war unfassbar dankbar gewesen. Bis sie dann, keine zwei Wochen später, anfingen, die Schulden einfordern zu wollen. Meine Mutter fing an, wie eine Verrückte zu schuften. Sie arbeitete mittlerweile sieben tage die Woche, und ich sah sie fast nie mehr schlafen, dafür aber umso öfter Geschäftspapiere mit nach Hause nehmen, um noch länger zu arbeiten.
In diesem Zeitraum, ich war gerade elf geworden, stellten sie mir Lea vor. Zu diesem Zeitpunkt sah ich es auf der Stelle. Ich sah, dass Lea arrogant und selbstsüchtig war. Ein Mensch, der immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte. Damals war sie aber noch blond, mit gelockten Haaren, und sie trug öfter Kleider. Sie sah wirklich niedlich aus.
An diesem Tag hatten ihre Eltern beschlossen, dass ich mich um Lea kümmern sollte, da sie selbst keine Zeit hatten, und man dass mit der Tochter von einem Schuldner schon machen konnte.
Zuerst wollte ich nicht mitgehen, aber meine Mutter befahl es mir, und ich gehorchte.
Wir gingen in den Park, um Ball zu spielen. Zuerst ging alles auch noch ganz gut. Wir warfen den Ball hin und her und ich hatte sogar etwas Spaß. Fast hätte ich gedacht ich hätte mich in Lea getäuscht. Bis sie dann irgendwann rief: „Ich bin müde und das Spiel ist langweilig! Ich will was anderes machen!“
Ich stimmte zu und fragte sie, was sie denn tun wolle.
„Ich will ein Eis!“, verlangte sie.
Als ich zuerst nicht begriff, was sie denn nun wolle und sie nur verständnislos anstarrte, wurde sie wütend.
„Na los, hol mir eines!“
„Kannst du dir denn nicht selbst eines holen?“, fragte ich verdutzt.
„Bist du bekloppt? Wieso sollte ich mir selbst eines holen, wenn du da bist?“, antwortete sie vor Wut kochend.
Schließlich gab ich auf: „Gut gib mir das Geld und ich such einen Eisladen.“
„Wieso sollte ich dir Geld geben? Nimm gefälligst dein eigenes!“
Langsam hatte Lea wirklich genug.
Als ich verwirrt zu einem Widerspruch ansetzen wollte, stoppte sie mich mit einem einzigen Blick und ich lief schnell los um den nächstbesten Eisladen aufzusuchen.
Was mir damals noch nicht aufgefallen war, ich aber heute wusste war, dass sich Lea nur in meiner Gegenwart so benahm. Sobald jemand anderes oder ein Erwachsener dabei waren, wurde sie wieder lieb und nett. Das konnte man nun mal mit der Tochter einer Untergebenen machen. Allerdings erfuhr so auch nie jemand etwas über ihren wahren Charakter.
Vielleicht hatte sich meine Mutter deswegen am nächsten Tag so gefreut:
„Hope, du wirst es nicht glauben, aber dieses hübsche Mädchen von gestern, du weißt sicher wenn ich meine, will heute noch mal mit dir spielen!“, hatte sie freudig gerufen, als ich von der Schule nach Hause kam.
Wie ein Engel strahlend war sie damals schon vor dem Hauseingang gestanden, als sie auf mich wartete um mich mit offenen Armen zu empfangen.
„Mom – ich mag dieses Mädchen nicht. Sie ist wirklich sehr egoistisch und selbstzentriert, dass musst du mir glauben. Gestern hat sie den ganzen Tag nur auf einer Parkbank gesessen und mich rumkommandiert!“, antwortete ich, ohne groß darüber nachzudenken, mit der Wahrheit.
Niemals würde ich mein Entsetzen und meine Ablehnung gegenüber Lea vergessen. Um es genau zu nehmen hatte sich beides seitdem kein bisschen verändert.
„Hope, dieses Mädchen ist die Tochter meines Chefs. Wenn du dich mit ihr anfreundest könnte uns das sehr helfen! Und wenn sie dich mal herumkommandieren will, dann lass sie doch! Oder willst du auf der Straße leben?“
Das hatte meine Mutter mir damals ins Gesicht geschrien, womit sie dann dummerweise Sarah (damals noch ein Baby) geweckt hatte. Sie hatte laut zu kreischen begonnen und meine Mutter lief schnell ins Haus um sich zum ersten Mal seit mehreren Monaten, in denen immer ich dafür zuständig gewesen war, um sie zu kümmern.
Mich ließ sie damals einfach auf der Straße stehen. Vielleicht hatte sie deshalb nie mein ersticktes Schluchzen: „Aber Mom, ich will wirklich nicht…“ gehört. Deshalb nie meine unterdrückten Tränen gesehen.
„Du hast ja recht. Ich glaub ich hab gerade nicht weit genug gedacht“, versuchte ich mich schnell aus meinem Dilemma herauszureden.
„In deinem Kopf geht wirklich nichts vor, Hope! Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen! Schlampe!“, brüllte mich Lea kochend vor Wut an, während ihre Hände, wie ich knapp aus den Augenwinkeln erkennen konnte, begannen, fahrig nach etwas zu suchen, dass sie nach mir schmeißen konnten.
„Schon gut, ich bin ja schon weg. Pass auf dich auf, und hab keine Angst, er ist bestimmt bald wieder da!“, murmelte ich noch schnell bevor ich aus dem Raum spurtete, ehe ihre Hände etwas passendes fanden.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen entwich meinem Mund ein lautes Seufzen und ich sank mit dem Rücken gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen.
Erleichtert hob ich den Kopf und war, wie immer, wenn ich mich in diesem Haus befand, erstaunt von seiner Größe und luxuriösen Einrichtung. Die Wände waren mit einer herrlich Farbe, die ich nicht einmal kannte (türkis? Azur? Violett? Cyan? Ganz egal, jedenfalls ein Blauton) gestrichen und mit Bildern, Gemälden und Porträts der Familienangehörigen behängt. Sie sahen alle wunderschön und edel aus, allesamt in unfassbaren Klamotten und in stolzen Possen verewigt. Nur eines passte nicht ganz dazu, und zwar das direkt gegenüber von mir.
Aus einem goldenen Rahmen starrte mich ein schlankes, vielleicht sogar etwas dürres Mädchen in einfacher Kleidung, einer Jeans und einem ärmellosen T-Shirt, an. Ihr etwa schulterlanges hellbraunes Haar hing ungezügelt und gewellt, ja fast schon wild, an ihrem Kopf herunter, während ihre freundlichen blauen Augen mich mit einem sinnlosen Lächeln in sich beobachteten. Sie hatte eine kleine Stupsnase und etwas zu dicke Augenbrauen, die nicht zu ihrer eher hellen Haut, die einem fast schon entgegenschimmerte, passten. Sie war nicht wirklich hässlich, aber auch keine Schönheit. Im Gegensatz zu den anderen war sie in einer denkbar ungünstigen Pose fotografiert worden, die sie nicht so gut hervorbrachte.
Vor mir hing ein Spiegel.
Plötzlich brach ich in lautes Gelächter aus, gegen das ich nichts anderes unternehmen konnte, als zu hoffen, dass Lea mich nicht hören würde.
Ich war schon immer so gewesen. Etwas schwer von Begriff und meistens vollkommen sinnlos glücklich.
Immer noch lachend setzte ich mich in Bewegung. Es war Montag, und ich war direkt nach der Schule mit zu Lea nach Hause gegangen, damit wir „zusammen“ Hausaufgaben machen konnten, obwohl sie eigentlich immer nur abschrieb.
Jetzt musste ich aber Sarah noch vom Kindergarten abholen.
Summend verließ ich das Haus, das vielmehr eine Villa war und ging durch den überdimensionalen Garten, der von einem ganzen Trupp Gärtnern instand gehalten wurde.
Als ich auf das riesige Eisentor zusteuerte, das den einzigen Ein- und Ausgang zum Grundstück bot, lächelte und nickte ich dem Mann in Uniform, der immer dort Wache schob, zu. Der lächelte zurück und drückte auf einen Knopf auf seiner Fernbedienung, um das Tor für mich zu öffnen.
An der Außenmauer lehnte, vor all dieser Pracht ziemlich schäbig und heruntergekommen aussehend, mein altes Fahrrad. Schnell schmiss ich die Tasche mit meinen Schulsachen, die ich mir bevor ich Leas Zimmer verlassen hatte, noch schnell gekrallt hatte, hinten auf den Gepäckträger und befestigte sie nachlässig.
Dann sprang ich schwungvoll auf und trat mit Wucht in die Pedale.
Während ich durch die Luxuswohngegend radelte, in der das junge Mädchen auf ihrem ärmlichen Fahrrad auch keine Unbekannte mehr war, stellte ich mit einem raschen Blick auf meine Armbanduhr fest, dass ich noch etwas Zeit hatte.
Erfreut gab ich noch etwas mehr Gas und bog an der nächsten Abzweigung anstatt nach rechts nach links ab.
Ich fuhr immer schneller und lies mir den Wind durch die Haare peitschen, während die Straße unter mir immer schlichter wurde, bis sie schließlich einem einfach Feldweg wich. Die luxuriösen Villen um mich herum verwandelten sich Stück für Stück in normale Häuser, dann in einfache Wohnanlagen und zum Schluss verschwanden sie ganz und Bäume traten an ihre Stelle.
Als ich an einer Stelle ankam, von der an es leicht bergab ging, lies ich mein Fahrrad fröhlich im Leerlauf durch den Wald gleiten.
Das Ganze war ein Umweg, der zwar auch zu Sarahs Kindergarten führte, aber viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Dafür war er sehr viel schöner und entspannender. Ich konnte die Vögel zwitschern hören und die Schönheit der Natur bewundern, die, meiner Meinung nach, an keiner Stelle so ausgeprägt war wie in diesem Stückchen Wald.
Langsam lösten sich meine Hände vom Lenker. Der Pfad war hier zwar ziemlich steinig, aber ich war ihn schon mindestens eine Millionen Mal gefahren, und kannte ihn wie meine Westentasche.
Lachend ließ ich mich so vollkommen losgelöst durch den Wald tragen und achtete nicht großartig auf den Weg, bis er schließlich wieder mehr bergauf verlief.
Seufzend nahm ich den Lenker wieder in die Hand und fuhr den Berg hinauf. Noch um zwei Ecken gebogen und schon war der Kindergarten in Sicht.
Es war ein weiß gestrichenes Gebäude mit einem großen Garten und vielen Spielplatzgeräten. Jedes Mal wenn ich ihn sah, freute ich mich für Sarah, dass sie jeden Tag zu einem so schönen Ort gehen konnte.
Langsam trat ich auf die Bremse und fuhr an den Zaun heran, um mein Fahrrad (der Ständer war schon vor Jahren abgefallen) dort anzulehnen.
Kaum war ich abgestiegen, kam auch schon Sarah aus dem Gebäude gerannt. Ein einziger, blonder Schopf sprang mich an und umarmte mich stürmisch.
„Hope, Hope, du glaubst nicht was heute passiert ist!“, rief sie aufgeregt.
Leicht verwirrt hob ich sie hoch und setzte sie neben mir ab, um zu von meinem Bein zu trennen.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich lächelnd und merkte nicht an, dass Sarah die Begrüßung vergessen hatte. Wir grüßten uns so gut wie nie – Sarah fing meistens einfach an zu reden.
„Julian ist von der großen Eiche gesprungen und hat sich gaaaanz doll das Bein wehgetan!“, keuchte Sarah mit weit offenen Augen.
Aaah, die alte Eiche. Die hatte hier schon gestanden, als ich noch in den Kindergarten ging. Es war schon immer eine beliebte Mutprobe unter den Kindern gewesen, von ihr herunterzuspringen. Aber es kam nur alle paar Jahre vor, dass sich auch ein Kind traute. Damals, in meiner Kindheit, hatte es auch ein Mädchen gegeben, das gesprungen war. Sie hatte sich damals den Knöchel verstaucht, aber dafür hatte sie dann der gesamte Kindergarten als Heldin anerkannt, bis sie schließlich eingeschult wurde. Vermutlich würde es diesem Julian genauso gehen.
„Na da siehst du, dass du da besser nicht runter springst, dass ist nämlich sehr gefährlich“, warnte ich sie unwillig. Eigentlich hätte ich viel lieber etwas in die Richtung „Dieser Julian ist aber sehr mutig“ gesagt, aber ich musste meine Pflicht als große Schwester und als Vorbild erfüllen.
Mit großen Augen und ängstlichem Blich sah Sarah zu mir auf, bevor sie schließlich ehrfürchtig nickte.
Sarah war ein sehr schönes kleines Mädchen. Sie hatte große grüne Augen, blonde gelockte Haare und eine niedliche Stimme.
Wenn sie älter wäre, würden die Jungs sie geradezu verfolgen. Ich würde sie dann höchstwahrscheinlich auch noch vor Stalkern und anderem beschützen müssen. Aber im Moment war sie nur meine süße kleine Schwester.
Mit einem Lächeln vertrieb ich Sarahs Angst schnell wieder:
„Aber du bist ja ein schlaues Mädchen, du machst so etwas nicht.“
Jetzt lachte auch Sarah wieder und mit einem breiten Grinsen stimmte sie mir zu.
„Na dann spring auf, wir müssen schließlich noch nach Hause. Ich wette du hast auch schon Hunger“, bemerkte ich und nahm meine Tasche vor und hing sie an den Lenker, um Platz für Sarah zu schaffen.
Doch die zögerte noch. Zaghaft warf sie einen Blick zum Kindergarten zurück, so als wüsste sie nicht ganz, was das Richtige wäre.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie.
„Weißt du, Julian hat vor ein paar Tagen etwas mit hier her gebracht, um sich darum zu kümmern“, erklärte sie unsicher.
Ich sah an ihrem Gesicht, dass es Sarah ernst war. Für eine fünfjährige konnte sie ein verflucht ernstes Gesicht machen.
„Sarah, was willst du sagen?“
„Es… es ist eine Katze!“, platzte sie auf einmal aufgeregt heraus, „bis jetzt hat er sie auch immer gefüttert und alles, und wir haben mit ihr gespielt und sie vor den Kindergärtnern versteckt gehalten, aber jetzt ist Julian zuhause und er kommt die nächsten Wochen nicht und wer soll sich jetzt um das Kätzchen kümmern? Es ist nämlich noch ein Baby und Julian hat immer das Futter gebracht und sich auch ansonsten um sie gekümmert!“
Sarah sah entsetzt aus bei der Vorstellung daran, was dem Tier zustoßen würde.
„Eine Katze, huh?“, murmelte ich in Gedanken versunken, während mein Gehirn zu rechnen begann.
Blitzschnell überschlug ich unser Haushaltsbudget und die kosten für Futter, Halsband und ähnliches. Uns ging es in den letzten Monaten finanziell wieder etwas besser und vielleicht, wenn ich meine Essensration etwas kürzte…
Sarahs besorgter Blick gab den Ausschlag. Kurz entschlossen nahm ich sie an die Hand und lief in Richtung des Gebäudes.
Neben mir fragte Sarah immer wieder aufgeregt:
„Was tun wir Hope? Nehmen wir Sunny mit? Bitte sag, das wir Sunny mitnehmen!“
Verwirrt schaute ich Sarah an. Sunny? War das etwa der Name der Katze?
„Weißt du, sie liebt die Sonne so und spielt am liebsten draußen, darum haben wir sie Sunny genannt!“, erklärte Sarah altklug meine unausgesprochene Frage.
„Ja, wir nehmen Sunny mit. Wir können sie schließlich nicht so einfach hier lassen“, sagte ich ihr und irgendwie war ich stolz auf den Blick, mit dem Sarah zeigte, wie sehr sie sich darüber freute, dass es dem Tier gut gehen würde.
Endlich betraten wir den Kindergarten. Das Haus war mit vielen Fenstern ausgestattet und die Wände waren mit den unschuldigen und lieben Zeichnungen von kleinen Kindern beklebt. Insgesamt wirkte alles offen und freundlich. Eine sehr heimelige Atmosphäre.
Der Kindergarten war in verschiedene Gruppen geteilt. Da war die Igelgruppe, die Pferdegruppe, die Hasengruppe und so weiter. In diesen Gruppen waren jeweils in etwa 15 Kinder, die dann jeden Tag in einem Raum spielten. Sarah war, sehr zu ihrem Bedauern, in der Froschgruppe. Ich hatte ihr das Märchen vom Froschprinzen unzählige Male erzählen müssen, bis sie sich damit zufrieden geben konnte.
Jetzt steuerten wir auf eben diesen Raum zu (an der Tür klebte ein gezeichneter Frosch, er war nicht zu verwechseln).
Kaum hatten wir die Tür geöffnet lief Sarah auf eine der riesigen Spielzeugtruhen zu und krabbelte unter sie.
Wartend stand ich davor und hoffte, dass ich gerade auch das Richtige tat.
Vor mir kroch Sarah wieder unter dem Kasten hervor, in den Händen einen einfachen Karton. In ihm saß eine kleine schwarze Katze und miaute aufgeregt.
Sie war tatsächlich noch ein Baby. Sie war so süß und hilflos, dass ich nicht anders konnte, als sie auf der Stelle lieb zu haben.
Vorsichtig streckte ich beide Hände nach ihr aus, um sie aus ihrem Karton zu nehmen. Zunächst zuckte sie erschrocken zurück, doch schließlich lies sie mich sie auf den Arm nehmen.
Sanft streichelte ich ihr seidenweiches Fell, wobei sie anfing wie ein Traktor zu schnurren.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass Sunny ein Mädchen war, und konnte nur noch hoffen, dass sie niemals Junge werfen würde.
Sachte legte ich die langsam einschlafende Katze wieder in ihren Karton, den Sarah, die jede meiner Bewegungen genau verfolgt hatte, noch immer in Händen hielt.
„Du trägst Sunny“, befahl ich ihr, „wir können mit ihr nicht Fahrradfahren.“
Sarah nickte aufgeregt und wir verließen den Kindergarten wieder.
Seufzend tat ich meine Tasche wieder auf den Gepäckträger und schob mein Fahrrad langsam an, während Sarah neben mir glücklich hin und her hüpfte.
„Hope, Hope, wann kaufen wir Sunny dann was zu essen?“, jubelte sie, während sie im Kreis um mich herum zu springen begann.
„Jetzt gleich. Schau da vorne ist ein Laden“, antwortete ich und deutete auf ein näher kommendes kleines Geschäft, das vermutlich von einer Familie geführt wurde.
Wir befanden uns mittlerweile in dem Stadtteil, in dem wir wohnten.
Um uns herum erhoben sich schlichte Mehrfamilienhäuser aus Beton, während sich unter uns eine einfache Straße dahinschlängelte.
Vor dem Laden lehnte ich mein Fahrrad an und schärfte Sarah ein, mit Sunny genau da stehen zu bleiben und auf mich zu warten.
Dann ging ich in den Laden und kaufte schnell etwas Katzenfutter, bevor ich wieder hinausschlenderte um mit Sarah nach Hause zu gehen.
„Hope, was glaubst du wird Mom zu Sunny sagen?“, fragte mich Sarah, auf einmal etwas bedrückt.
„Sie wird Sunny lieben“, antwortete ich und musste bei der Vorstellung an den Freudentanz, den unsere Mutter sicher aufführen würde, lachen. Unsere Mutter war eine… sehr sorglose Frau. Bis auf unseren Vater hatte sie nie etwas auch nur ansatzweise verletzen können. Dafür heilte diese eine einzige, riesige Wunde umso langsamer.
Beruhigt redete Sarah immer weiter – sie fand immer etwas, über das man sich unterhalten konnte.
Lächelnd gab ich auf ihre schier endlosen Fragen und Bemerkungen Antworten, die auch eine Fünfjährige noch verstand.
Schließlich kamen wir vor unserem Haus an. Es war genauso wie all die Anderen auch. Ein einziger Betonblock.
Erleichtert lehnte ich mein Fahrrad an die Hauswand. Das war wirklich keine kurze Strecke zum laufen.
„Mom, wir sind zu Hause!“, rief ich durch den Flur, als Sarah und ich das Haus betraten und unsere Schuhe auszogen.
„Oh, hallo ihr Süßen! Ihr seid aber spät dran!“, schallte es uns fröhlich entgegen. Das war kein Rufen, das war Gesang.
Ich hatte meine Frohnatur von meiner Mutter geerbt – nur dass meine im Gegensatz zu ihrer auch Grenzen kannte. Als wolle sie eben das beweisen kam meine Mutter tanzend aus der Küche, eine Schürze mit der Aufschrift Beste Mom der Welt umgebunden und umarmte mich und Sarah genauso stürmisch wie meine kleine Schwester mich bei unserer Begrüßung.
„Mrau!“, rief es plötzlich dazwischen.
Verwundert starrte Mom auf den kleinen Karton in Sarahs Händen. Sie kam einen Schritt näher und bevor ich eine Erklärung abgeben konnte, hatte sie Sunny auch schon entdeckt.
Blitzschnell schlossen sich ihre Hände um Sunny und schon wurde das erbärmlich maunzende Tier gnadenlos geknuddelt.
„Oh, wie süß! Wir behalten sie!“, rief sie ohne zu zögern, als sie Sunny dann endlich auf den Boden entließ.
So schnell sie konnte rannte das kleine Kätzchen zu mir und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
„Hey, das tut weh!“, rief ich irritiert, als sich ihre scharfen Krallen in meine Jeans bohrten, doch Sunny wollte nicht aufgeben.
Ironisch lächelnd gab ich nach und hob sie hoch.
Kaum war sie auf meinem Arm beruhigte sie sich wieder und rieb sich entspannt schnurrend an mir.
Tiere hatten mich schon immer geliebt – schon als ich noch ein kleines Kind war, hatten sich Hunde auf der Straße nach mir umgedreht, an ihrer Leine gezerrt und wenn sie dann tatsächlich zu mir kamen so lange gehechelt und mit den Schwanz gewedelt bis ich sie streichelte. Außerdem war ich früher des Öfteren von Katzen auf der Straße verfolgt worden, die mir dann immer um die Beine strichen – was das Laufen ungemein erschwerte – bis auch sie ihre kleine Streicheleinheit bekamen.
Beleidigt blies Mom ihre Backen auf und richtete ihre grünen Augen auf mich. Diese Augen, dieselben wie Sarahs. Nur meine Augen, die kamen von meinem Vater, genauso wie meine Haarfarbe, nicht, wie in unserer Familie üblich blond, sondern so braun wie die meines Vaters waren.
„Mom, Mom!“, machte nun Sarah lauthals auf sich aufmerksam. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Mit ausladenden Gesten erzählte Sarah Mom von den Geschehnissen mit Julian, während ich mit Sunny in die Küche ging, um ihr etwas Katzenfutter auf eine Schale zu tun.
Erst jetzt bemerkte ich den Geruch nach etwas Essbarem und schaute auf, um einen riesigen Topf Suppe zu erblicken. Während ich Sunnys Futter bereit stellte, fing ich an mich zu fragen, wieso meine Mutter schon zu Hause war. Für gewöhnlich wäre sie erst Stunden nach mir und Sarah nach Hause gekommen.
Erst nach einiger Zeit fiel es mir wieder ein und ich musste mir lachend mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen. Stimmte ja. Die Filiale meiner Mutter würde die nächste Zeit restauriert werden, wodurch sie über einen Monat, nein, sogar etwas mehr als zwei, bezahlten Urlaub erhielt.
In den nächsten Tagen würde ich Sarah nicht vom Kindergarten abholen müssen – dass wollte ja Mom ab morgen machen.
Gleichzeitig kam der Urlaub im perfekten Timing zu unserem Klassen-Ausflug. Ich war gerade auf die Highschool gekommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sollte meine Klasse zusammen mit einer Parallelklasse eine Woche lang in die Berge fahren. Das waren in etwa 50 Schüler.
Ich freute mich sehr darauf. Denn auch wenn Lea mitkommen würde, sollten wir in ein recht warmes Gebiet mit vielen Wäldern und tollen Wanderwegen fahren und uns dann selbst unterhalten.
Für mich bedeutete das, denn ganzen Tag im Wald umherzuschlendern und zwar ganz allein.
„Hope, wo ist Sunny?“, sprang Sarah in den Raum.
„Jetzt lasst uns erst einmal essen!“, befahl meine Mutter und ich seufzte lächelnd, um mich zu den Beiden an den Tisch zu setzen.
„I…ich ka…kann nicht…“, schniefte sie erneut und der Sturzbach Tränen, den wir nun schon seit mindestens einer Stunde zu stillen versuchten, strömte ungehindert weiter.
„Ich habe ihn jetzt schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, und ich kann mir einfach nicht erklären, wo er so plötzlich ohne jede Vorwarnung hin verschwunden sein soll!“, schrie sie mich in einem plötzlichen kurzen Anfall von Wut an, der auch die Tränen versiegen lies.
Erschrocken zuckte ich ein Stück nach hinten und fiel in die warmen weichen Bezüge von Leas Bett zurück, das vielleicht sogar etwas überladen war mit all den Kissen und Decken. Aber es passte in ihr ansonsten sehr mädchenhaft eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Boy-Groups und Bands, die mir nichts sagten, zutapeziert und ansonsten mit Regalen, die absolut mit Schmuck, Krimskrams und Bildern von irgendwelchen Jungen, die mir Lea wahrscheinlich irgendwann auch einmal vorgestellt hatte, vollgestopft waren, versperrt.
Natürlich war alles außer dem schneeweißen Bett in Lila- und Schwarztönen gehalten, so wie es heute in Mode war.
„Ich bin mir sicher, dass Nate irgendeinen wirklich verdammt guten Grund hat einfach so zu verschwinden. Vielleicht ist ein Verwandter gestorben, oder seine Familie musste sonst irgendwo hin“, war die beste Erklärung die mir für diese Situation einfiel.
Oder aber er will dich nicht als seine Freundin haben, dachte ich halbherzig, obwohl ich in Wirklichkeit wusste, dass das vollkommen unmöglich war.
Lea und Nate waren nach einer langen, komplizierten Zeit, in der es Phasen gab, in denen sie Freunde waren, Phasen, in denen sie sich hassten, Phasen, in denen sie ihre Gefühle nicht verstanden und Phasen, in denen sie sich liebten, endlich zusammengekommen. Mir war klar, dass sie nur so lange nicht ein Paar geworden waren, weil sich immer wieder Missverständnisse und Probleme, wie ihre Ex-Freunde und ihre etwas schwer zu verstehende Art ihre Sympathie zu zeigen, eingemischt hatten.
„Sogar wenn er seinen besten Freund verloren hätte, könnte er doch immer noch anrufen!“, brüllte mich Lea erneut an. Von wegen kurzer Anfall.
„Du hast ja irgendwie recht, aber vielleicht ist er auch einfach nur zu traurig um sich gerade mit irgendwelchen Menschen abzugeben“
Blitzschnell drehte sich Leas Kopf in meine Richtung und ein scharfer Blick traf mich.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch nicht irgendjemand! Ich bin seine Freundin! Und mit mir abgeben tut er sich auch nicht! Höchstens ich mich mit ihm!“
Oh shit, dachte ich. Da hatte ich doch glatt einen Wunden Punkt getroffen.
Ich wusste genau, dass die beiden nicht aus Liebe miteinander ausgingen, sondern weil es passte. Lea war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte dunkelbraune Haare (natürlich geglättet), haselnussbraune Augen, den perfekten Körper und einen noch perfekteren Modegeschmack. Außerdem schien sie auch einen idealen Charakter zu besitzen. Na ja, zumindest für Menschen, die sie nicht so gut kannten wie ich.
Nate dagegen war der wohl coolste Junge der Schule. Er war sportlich, stark, hatte ganz akzeptable Noten und sah mit seinen hellbraunen Haaren, seinen grünen Augen und seinem dezenten Sixpack einfach abartig gut aus. Noch dazu hatte er eine ähnlich gute Persönlichkeit wie Lea.
Es war klar gewesen, dass die beiden früher oder später zusammenkommen mussten. Und jetzt bewunderte natürlich die ganze Schule dieses „Traumpaar“. Alle außer mir.
Ich kannte Lea schon seit der Grundschule und wusste alles über sie, von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihrem ersten Freund (der Junge hatte den Wettstreit um diesen Titel nur mit zwei Wochen Vorsprung geschafft – dann hatte sie schon ihren Zweiten). Ich war es auch die gesehen hatte, wie sie ihre Eltern wochenlang bearbeitete nur um längere Ausgehzeiten zu bekommen. Ich war es auch, die miterlebt hatte, wie sie in der Mittelschule ein Mädchen, das es gewagt hatte ihren Freund zu stehlen, solange psychisch mobbte, bis es schließlich aufgab und die Schule wechselte. Ich wusste noch genau, wie gern ich dem Mädchen damals geholfen hätte und wie sehr ich es probiert hatte. Doch ich konnte noch nie gut mit Psychospielchen, die die meisten Mädchen beherrschten, umgehen. Ich erinnerte mich an die zahllosen Versuche, dem Mädchen zu zeigen, dass ich ihre Freundin war. Doch sie hatte immer nur gedacht, ich wolle ihr nur näher kommen um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Aber ich wusste auch, voran das lag. Ich galt als gute Freundin von Lea. Dabei verbrachte ich nur so viel Zeit mit ihr, wegen meiner Familie. Mein Vater war abgehauen, als ich kaum einmal zehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt von Sarah, meiner kleinen Schwester. Meine Mutter, die bis dahin zusammen mit ihm eine Filiale von Your Shopping Center führte, hatte damals angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen, während ich begonnen hatte, mich als Babysitter um Sarah zu kümmern und den Haushalt zu schmeißen. Eine Zeit lang war das Ganze auch gut gegangen, bis die Eltern von Lea, die Besitzer der Einkaufskette Your Shopping Center bemerkten, dass die Einnahmen zurückgingen. Sie lebten durch Zufall (was für eine grausame Welt) in der Nähe und hatten bald alles herausgefunden. Aus Gründen, die ich zunächst nicht verstand, halfen sie uns damals aus der Patsche und bezahlten für den Entzug meiner Mutter.
Zuerst war ich unendlich glücklich. Ich dachte, Gott hätte sich uns gegenüber gnädig gezeigt und war unfassbar dankbar gewesen. Bis sie dann, keine zwei Wochen später, anfingen, die Schulden einfordern zu wollen. Meine Mutter fing an, wie eine Verrückte zu schuften. Sie arbeitete mittlerweile sieben tage die Woche, und ich sah sie fast nie mehr schlafen, dafür aber umso öfter Geschäftspapiere mit nach Hause nehmen, um noch länger zu arbeiten.
In diesem Zeitraum, ich war gerade elf geworden, stellten sie mir Lea vor. Zu diesem Zeitpunkt sah ich es auf der Stelle. Ich sah, dass Lea arrogant und selbstsüchtig war. Ein Mensch, der immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte. Damals war sie aber noch blond, mit gelockten Haaren, und sie trug öfter Kleider. Sie sah wirklich niedlich aus.
An diesem Tag hatten ihre Eltern beschlossen, dass ich mich um Lea kümmern sollte, da sie selbst keine Zeit hatten, und man dass mit der Tochter von einem Schuldner schon machen konnte.
Zuerst wollte ich nicht mitgehen, aber meine Mutter befahl es mir, und ich gehorchte.
Wir gingen in den Park, um Ball zu spielen. Zuerst ging alles auch noch ganz gut. Wir warfen den Ball hin und her und ich hatte sogar etwas Spaß. Fast hätte ich gedacht ich hätte mich in Lea getäuscht. Bis sie dann irgendwann rief: „Ich bin müde und das Spiel ist langweilig! Ich will was anderes machen!“
Ich stimmte zu und fragte sie, was sie denn tun wolle.
„Ich will ein Eis!“, verlangte sie.
Als ich zuerst nicht begriff, was sie denn nun wolle und sie nur verständnislos anstarrte, wurde sie wütend.
„Na los, hol mir eines!“
„Kannst du dir denn nicht selbst eines holen?“, fragte ich verdutzt.
„Bist du bekloppt? Wieso sollte ich mir selbst eines holen, wenn du da bist?“, antwortete sie vor Wut kochend.
Schließlich gab ich auf: „Gut gib mir das Geld und ich such einen Eisladen.“
„Wieso sollte ich dir Geld geben? Nimm gefälligst dein eigenes!“
Langsam hatte Lea wirklich genug.
Als ich verwirrt zu einem Widerspruch ansetzen wollte, stoppte sie mich mit einem einzigen Blick und ich lief schnell los um den nächstbesten Eisladen aufzusuchen.
Was mir damals noch nicht aufgefallen war, ich aber heute wusste war, dass sich Lea nur in meiner Gegenwart so benahm. Sobald jemand anderes oder ein Erwachsener dabei waren, wurde sie wieder lieb und nett. Das konnte man nun mal mit der Tochter einer Untergebenen machen. Allerdings erfuhr so auch nie jemand etwas über ihren wahren Charakter.
Vielleicht hatte sich meine Mutter deswegen am nächsten Tag so gefreut:
„Hope, du wirst es nicht glauben, aber dieses hübsche Mädchen von gestern, du weißt sicher wenn ich meine, will heute noch mal mit dir spielen!“, hatte sie freudig gerufen, als ich von der Schule nach Hause kam.
Wie ein Engel strahlend war sie damals schon vor dem Hauseingang gestanden, als sie auf mich wartete um mich mit offenen Armen zu empfangen.
„Mom – ich mag dieses Mädchen nicht. Sie ist wirklich sehr egoistisch und selbstzentriert, dass musst du mir glauben. Gestern hat sie den ganzen Tag nur auf einer Parkbank gesessen und mich rumkommandiert!“, antwortete ich, ohne groß darüber nachzudenken, mit der Wahrheit.
Niemals würde ich mein Entsetzen und meine Ablehnung gegenüber Lea vergessen. Um es genau zu nehmen hatte sich beides seitdem kein bisschen verändert.
„Hope, dieses Mädchen ist die Tochter meines Chefs. Wenn du dich mit ihr anfreundest könnte uns das sehr helfen! Und wenn sie dich mal herumkommandieren will, dann lass sie doch! Oder willst du auf der Straße leben?“
Das hatte meine Mutter mir damals ins Gesicht geschrien, womit sie dann dummerweise Sarah (damals noch ein Baby) geweckt hatte. Sie hatte laut zu kreischen begonnen und meine Mutter lief schnell ins Haus um sich zum ersten Mal seit mehreren Monaten, in denen immer ich dafür zuständig gewesen war, um sie zu kümmern.
Mich ließ sie damals einfach auf der Straße stehen. Vielleicht hatte sie deshalb nie mein ersticktes Schluchzen: „Aber Mom, ich will wirklich nicht…“ gehört. Deshalb nie meine unterdrückten Tränen gesehen.
„Du hast ja recht. Ich glaub ich hab gerade nicht weit genug gedacht“, versuchte ich mich schnell aus meinem Dilemma herauszureden.
„In deinem Kopf geht wirklich nichts vor, Hope! Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen! Schlampe!“, brüllte mich Lea kochend vor Wut an, während ihre Hände, wie ich knapp aus den Augenwinkeln erkennen konnte, begannen, fahrig nach etwas zu suchen, dass sie nach mir schmeißen konnten.
„Schon gut, ich bin ja schon weg. Pass auf dich auf, und hab keine Angst, er ist bestimmt bald wieder da!“, murmelte ich noch schnell bevor ich aus dem Raum spurtete, ehe ihre Hände etwas passendes fanden.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen entwich meinem Mund ein lautes Seufzen und ich sank mit dem Rücken gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen.
Erleichtert hob ich den Kopf und war, wie immer, wenn ich mich in diesem Haus befand, erstaunt von seiner Größe und luxuriösen Einrichtung. Die Wände waren mit einer herrlich Farbe, die ich nicht einmal kannte (türkis? Azur? Violett? Cyan? Ganz egal, jedenfalls ein Blauton) gestrichen und mit Bildern, Gemälden und Porträts der Familienangehörigen behängt. Sie sahen alle wunderschön und edel aus, allesamt in unfassbaren Klamotten und in stolzen Possen verewigt. Nur eines passte nicht ganz dazu, und zwar das direkt gegenüber von mir.
Aus einem goldenen Rahmen starrte mich ein schlankes, vielleicht sogar etwas dürres Mädchen in einfacher Kleidung, einer Jeans und einem ärmellosen T-Shirt, an. Ihr etwa schulterlanges hellbraunes Haar hing ungezügelt und gewellt, ja fast schon wild, an ihrem Kopf herunter, während ihre freundlichen blauen Augen mich mit einem sinnlosen Lächeln in sich beobachteten. Sie hatte eine kleine Stupsnase und etwas zu dicke Augenbrauen, die nicht zu ihrer eher hellen Haut, die einem fast schon entgegenschimmerte, passten. Sie war nicht wirklich hässlich, aber auch keine Schönheit. Im Gegensatz zu den anderen war sie in einer denkbar ungünstigen Pose fotografiert worden, die sie nicht so gut hervorbrachte.
Vor mir hing ein Spiegel.
Plötzlich brach ich in lautes Gelächter aus, gegen das ich nichts anderes unternehmen konnte, als zu hoffen, dass Lea mich nicht hören würde.
Ich war schon immer so gewesen. Etwas schwer von Begriff und meistens vollkommen sinnlos glücklich.
Immer noch lachend setzte ich mich in Bewegung. Es war Montag, und ich war direkt nach der Schule mit zu Lea nach Hause gegangen, damit wir „zusammen“ Hausaufgaben machen konnten, obwohl sie eigentlich immer nur abschrieb.
Jetzt musste ich aber Sarah noch vom Kindergarten abholen.
Summend verließ ich das Haus, das vielmehr eine Villa war und ging durch den überdimensionalen Garten, der von einem ganzen Trupp Gärtnern instand gehalten wurde.
Als ich auf das riesige Eisentor zusteuerte, das den einzigen Ein- und Ausgang zum Grundstück bot, lächelte und nickte ich dem Mann in Uniform, der immer dort Wache schob, zu. Der lächelte zurück und drückte auf einen Knopf auf seiner Fernbedienung, um das Tor für mich zu öffnen.
An der Außenmauer lehnte, vor all dieser Pracht ziemlich schäbig und heruntergekommen aussehend, mein altes Fahrrad. Schnell schmiss ich die Tasche mit meinen Schulsachen, die ich mir bevor ich Leas Zimmer verlassen hatte, noch schnell gekrallt hatte, hinten auf den Gepäckträger und befestigte sie nachlässig.
Dann sprang ich schwungvoll auf und trat mit Wucht in die Pedale.
Während ich durch die Luxuswohngegend radelte, in der das junge Mädchen auf ihrem ärmlichen Fahrrad auch keine Unbekannte mehr war, stellte ich mit einem raschen Blick auf meine Armbanduhr fest, dass ich noch etwas Zeit hatte.
Erfreut gab ich noch etwas mehr Gas und bog an der nächsten Abzweigung anstatt nach rechts nach links ab.
Ich fuhr immer schneller und lies mir den Wind durch die Haare peitschen, während die Straße unter mir immer schlichter wurde, bis sie schließlich einem einfach Feldweg wich. Die luxuriösen Villen um mich herum verwandelten sich Stück für Stück in normale Häuser, dann in einfache Wohnanlagen und zum Schluss verschwanden sie ganz und Bäume traten an ihre Stelle.
Als ich an einer Stelle ankam, von der an es leicht bergab ging, lies ich mein Fahrrad fröhlich im Leerlauf durch den Wald gleiten.
Das Ganze war ein Umweg, der zwar auch zu Sarahs Kindergarten führte, aber viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Dafür war er sehr viel schöner und entspannender. Ich konnte die Vögel zwitschern hören und die Schönheit der Natur bewundern, die, meiner Meinung nach, an keiner Stelle so ausgeprägt war wie in diesem Stückchen Wald.
Langsam lösten sich meine Hände vom Lenker. Der Pfad war hier zwar ziemlich steinig, aber ich war ihn schon mindestens eine Millionen Mal gefahren, und kannte ihn wie meine Westentasche.
Lachend ließ ich mich so vollkommen losgelöst durch den Wald tragen und achtete nicht großartig auf den Weg, bis er schließlich wieder mehr bergauf verlief.
Seufzend nahm ich den Lenker wieder in die Hand und fuhr den Berg hinauf. Noch um zwei Ecken gebogen und schon war der Kindergarten in Sicht.
Es war ein weiß gestrichenes Gebäude mit einem großen Garten und vielen Spielplatzgeräten. Jedes Mal wenn ich ihn sah, freute ich mich für Sarah, dass sie jeden Tag zu einem so schönen Ort gehen konnte.
Langsam trat ich auf die Bremse und fuhr an den Zaun heran, um mein Fahrrad (der Ständer war schon vor Jahren abgefallen) dort anzulehnen.
Kaum war ich abgestiegen, kam auch schon Sarah aus dem Gebäude gerannt. Ein einziger, blonder Schopf sprang mich an und umarmte mich stürmisch.
„Hope, Hope, du glaubst nicht was heute passiert ist!“, rief sie aufgeregt.
Leicht verwirrt hob ich sie hoch und setzte sie neben mir ab, um zu von meinem Bein zu trennen.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich lächelnd und merkte nicht an, dass Sarah die Begrüßung vergessen hatte. Wir grüßten uns so gut wie nie – Sarah fing meistens einfach an zu reden.
„Julian ist von der großen Eiche gesprungen und hat sich gaaaanz doll das Bein wehgetan!“, keuchte Sarah mit weit offenen Augen.
Aaah, die alte Eiche. Die hatte hier schon gestanden, als ich noch in den Kindergarten ging. Es war schon immer eine beliebte Mutprobe unter den Kindern gewesen, von ihr herunterzuspringen. Aber es kam nur alle paar Jahre vor, dass sich auch ein Kind traute. Damals, in meiner Kindheit, hatte es auch ein Mädchen gegeben, das gesprungen war. Sie hatte sich damals den Knöchel verstaucht, aber dafür hatte sie dann der gesamte Kindergarten als Heldin anerkannt, bis sie schließlich eingeschult wurde. Vermutlich würde es diesem Julian genauso gehen.
„Na da siehst du, dass du da besser nicht runter springst, dass ist nämlich sehr gefährlich“, warnte ich sie unwillig. Eigentlich hätte ich viel lieber etwas in die Richtung „Dieser Julian ist aber sehr mutig“ gesagt, aber ich musste meine Pflicht als große Schwester und als Vorbild erfüllen.
Mit großen Augen und ängstlichem Blich sah Sarah zu mir auf, bevor sie schließlich ehrfürchtig nickte.
Sarah war ein sehr schönes kleines Mädchen. Sie hatte große grüne Augen, blonde gelockte Haare und eine niedliche Stimme.
Wenn sie älter wäre, würden die Jungs sie geradezu verfolgen. Ich würde sie dann höchstwahrscheinlich auch noch vor Stalkern und anderem beschützen müssen. Aber im Moment war sie nur meine süße kleine Schwester.
Mit einem Lächeln vertrieb ich Sarahs Angst schnell wieder:
„Aber du bist ja ein schlaues Mädchen, du machst so etwas nicht.“
Jetzt lachte auch Sarah wieder und mit einem breiten Grinsen stimmte sie mir zu.
„Na dann spring auf, wir müssen schließlich noch nach Hause. Ich wette du hast auch schon Hunger“, bemerkte ich und nahm meine Tasche vor und hing sie an den Lenker, um Platz für Sarah zu schaffen.
Doch die zögerte noch. Zaghaft warf sie einen Blick zum Kindergarten zurück, so als wüsste sie nicht ganz, was das Richtige wäre.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie.
„Weißt du, Julian hat vor ein paar Tagen etwas mit hier her gebracht, um sich darum zu kümmern“, erklärte sie unsicher.
Ich sah an ihrem Gesicht, dass es Sarah ernst war. Für eine fünfjährige konnte sie ein verflucht ernstes Gesicht machen.
„Sarah, was willst du sagen?“
„Es… es ist eine Katze!“, platzte sie auf einmal aufgeregt heraus, „bis jetzt hat er sie auch immer gefüttert und alles, und wir haben mit ihr gespielt und sie vor den Kindergärtnern versteckt gehalten, aber jetzt ist Julian zuhause und er kommt die nächsten Wochen nicht und wer soll sich jetzt um das Kätzchen kümmern? Es ist nämlich noch ein Baby und Julian hat immer das Futter gebracht und sich auch ansonsten um sie gekümmert!“
Sarah sah entsetzt aus bei der Vorstellung daran, was dem Tier zustoßen würde.
„Eine Katze, huh?“, murmelte ich in Gedanken versunken, während mein Gehirn zu rechnen begann.
Blitzschnell überschlug ich unser Haushaltsbudget und die kosten für Futter, Halsband und ähnliches. Uns ging es in den letzten Monaten finanziell wieder etwas besser und vielleicht, wenn ich meine Essensration etwas kürzte…
Sarahs besorgter Blick gab den Ausschlag. Kurz entschlossen nahm ich sie an die Hand und lief in Richtung des Gebäudes.
Neben mir fragte Sarah immer wieder aufgeregt:
„Was tun wir Hope? Nehmen wir Sunny mit? Bitte sag, das wir Sunny mitnehmen!“
Verwirrt schaute ich Sarah an. Sunny? War das etwa der Name der Katze?
„Weißt du, sie liebt die Sonne so und spielt am liebsten draußen, darum haben wir sie Sunny genannt!“, erklärte Sarah altklug meine unausgesprochene Frage.
„Ja, wir nehmen Sunny mit. Wir können sie schließlich nicht so einfach hier lassen“, sagte ich ihr und irgendwie war ich stolz auf den Blick, mit dem Sarah zeigte, wie sehr sie sich darüber freute, dass es dem Tier gut gehen würde.
Endlich betraten wir den Kindergarten. Das Haus war mit vielen Fenstern ausgestattet und die Wände waren mit den unschuldigen und lieben Zeichnungen von kleinen Kindern beklebt. Insgesamt wirkte alles offen und freundlich. Eine sehr heimelige Atmosphäre.
Der Kindergarten war in verschiedene Gruppen geteilt. Da war die Igelgruppe, die Pferdegruppe, die Hasengruppe und so weiter. In diesen Gruppen waren jeweils in etwa 15 Kinder, die dann jeden Tag in einem Raum spielten. Sarah war, sehr zu ihrem Bedauern, in der Froschgruppe. Ich hatte ihr das Märchen vom Froschprinzen unzählige Male erzählen müssen, bis sie sich damit zufrieden geben konnte.
Jetzt steuerten wir auf eben diesen Raum zu (an der Tür klebte ein gezeichneter Frosch, er war nicht zu verwechseln).
Kaum hatten wir die Tür geöffnet lief Sarah auf eine der riesigen Spielzeugtruhen zu und krabbelte unter sie.
Wartend stand ich davor und hoffte, dass ich gerade auch das Richtige tat.
Vor mir kroch Sarah wieder unter dem Kasten hervor, in den Händen einen einfachen Karton. In ihm saß eine kleine schwarze Katze und miaute aufgeregt.
Sie war tatsächlich noch ein Baby. Sie war so süß und hilflos, dass ich nicht anders konnte, als sie auf der Stelle lieb zu haben.
Vorsichtig streckte ich beide Hände nach ihr aus, um sie aus ihrem Karton zu nehmen. Zunächst zuckte sie erschrocken zurück, doch schließlich lies sie mich sie auf den Arm nehmen.
Sanft streichelte ich ihr seidenweiches Fell, wobei sie anfing wie ein Traktor zu schnurren.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass Sunny ein Mädchen war, und konnte nur noch hoffen, dass sie niemals Junge werfen würde.
Sachte legte ich die langsam einschlafende Katze wieder in ihren Karton, den Sarah, die jede meiner Bewegungen genau verfolgt hatte, noch immer in Händen hielt.
„Du trägst Sunny“, befahl ich ihr, „wir können mit ihr nicht Fahrradfahren.“
Sarah nickte aufgeregt und wir verließen den Kindergarten wieder.
Seufzend tat ich meine Tasche wieder auf den Gepäckträger und schob mein Fahrrad langsam an, während Sarah neben mir glücklich hin und her hüpfte.
„Hope, Hope, wann kaufen wir Sunny dann was zu essen?“, jubelte sie, während sie im Kreis um mich herum zu springen begann.
„Jetzt gleich. Schau da vorne ist ein Laden“, antwortete ich und deutete auf ein näher kommendes kleines Geschäft, das vermutlich von einer Familie geführt wurde.
Wir befanden uns mittlerweile in dem Stadtteil, in dem wir wohnten.
Um uns herum erhoben sich schlichte Mehrfamilienhäuser aus Beton, während sich unter uns eine einfache Straße dahinschlängelte.
Vor dem Laden lehnte ich mein Fahrrad an und schärfte Sarah ein, mit Sunny genau da stehen zu bleiben und auf mich zu warten.
Dann ging ich in den Laden und kaufte schnell etwas Katzenfutter, bevor ich wieder hinausschlenderte um mit Sarah nach Hause zu gehen.
„Hope, was glaubst du wird Mom zu Sunny sagen?“, fragte mich Sarah, auf einmal etwas bedrückt.
„Sie wird Sunny lieben“, antwortete ich und musste bei der Vorstellung an den Freudentanz, den unsere Mutter sicher aufführen würde, lachen. Unsere Mutter war eine… sehr sorglose Frau. Bis auf unseren Vater hatte sie nie etwas auch nur ansatzweise verletzen können. Dafür heilte diese eine einzige, riesige Wunde umso langsamer.
Beruhigt redete Sarah immer weiter – sie fand immer etwas, über das man sich unterhalten konnte.
Lächelnd gab ich auf ihre schier endlosen Fragen und Bemerkungen Antworten, die auch eine Fünfjährige noch verstand.
Schließlich kamen wir vor unserem Haus an. Es war genauso wie all die Anderen auch. Ein einziger Betonblock.
Erleichtert lehnte ich mein Fahrrad an die Hauswand. Das war wirklich keine kurze Strecke zum laufen.
„Mom, wir sind zu Hause!“, rief ich durch den Flur, als Sarah und ich das Haus betraten und unsere Schuhe auszogen.
„Oh, hallo ihr Süßen! Ihr seid aber spät dran!“, schallte es uns fröhlich entgegen. Das war kein Rufen, das war Gesang.
Ich hatte meine Frohnatur von meiner Mutter geerbt – nur dass meine im Gegensatz zu ihrer auch Grenzen kannte. Als wolle sie eben das beweisen kam meine Mutter tanzend aus der Küche, eine Schürze mit der Aufschrift Beste Mom der Welt umgebunden und umarmte mich und Sarah genauso stürmisch wie meine kleine Schwester mich bei unserer Begrüßung.
„Mrau!“, rief es plötzlich dazwischen.
Verwundert starrte Mom auf den kleinen Karton in Sarahs Händen. Sie kam einen Schritt näher und bevor ich eine Erklärung abgeben konnte, hatte sie Sunny auch schon entdeckt.
Blitzschnell schlossen sich ihre Hände um Sunny und schon wurde das erbärmlich maunzende Tier gnadenlos geknuddelt.
„Oh, wie süß! Wir behalten sie!“, rief sie ohne zu zögern, als sie Sunny dann endlich auf den Boden entließ.
So schnell sie konnte rannte das kleine Kätzchen zu mir und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
„Hey, das tut weh!“, rief ich irritiert, als sich ihre scharfen Krallen in meine Jeans bohrten, doch Sunny wollte nicht aufgeben.
Ironisch lächelnd gab ich nach und hob sie hoch.
Kaum war sie auf meinem Arm beruhigte sie sich wieder und rieb sich entspannt schnurrend an mir.
Tiere hatten mich schon immer geliebt – schon als ich noch ein kleines Kind war, hatten sich Hunde auf der Straße nach mir umgedreht, an ihrer Leine gezerrt und wenn sie dann tatsächlich zu mir kamen so lange gehechelt und mit den Schwanz gewedelt bis ich sie streichelte. Außerdem war ich früher des Öfteren von Katzen auf der Straße verfolgt worden, die mir dann immer um die Beine strichen – was das Laufen ungemein erschwerte – bis auch sie ihre kleine Streicheleinheit bekamen.
Beleidigt blies Mom ihre Backen auf und richtete ihre grünen Augen auf mich. Diese Augen, dieselben wie Sarahs. Nur meine Augen, die kamen von meinem Vater, genauso wie meine Haarfarbe, nicht, wie in unserer Familie üblich blond, sondern so braun wie die meines Vaters waren.
„Mom, Mom!“, machte nun Sarah lauthals auf sich aufmerksam. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Mit ausladenden Gesten erzählte Sarah Mom von den Geschehnissen mit Julian, während ich mit Sunny in die Küche ging, um ihr etwas Katzenfutter auf eine Schale zu tun.
Erst jetzt bemerkte ich den Geruch nach etwas Essbarem und schaute auf, um einen riesigen Topf Suppe zu erblicken. Während ich Sunnys Futter bereit stellte, fing ich an mich zu fragen, wieso meine Mutter schon zu Hause war. Für gewöhnlich wäre sie erst Stunden nach mir und Sarah nach Hause gekommen.
Erst nach einiger Zeit fiel es mir wieder ein und ich musste mir lachend mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen. Stimmte ja. Die Filiale meiner Mutter würde die nächste Zeit restauriert werden, wodurch sie über einen Monat, nein, sogar etwas mehr als zwei, bezahlten Urlaub erhielt.
In den nächsten Tagen würde ich Sarah nicht vom Kindergarten abholen müssen – dass wollte ja Mom ab morgen machen.
Gleichzeitig kam der Urlaub im perfekten Timing zu unserem Klassen-Ausflug. Ich war gerade auf die Highschool gekommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sollte meine Klasse zusammen mit einer Parallelklasse eine Woche lang in die Berge fahren. Das waren in etwa 50 Schüler.
Ich freute mich sehr darauf. Denn auch wenn Lea mitkommen würde, sollten wir in ein recht warmes Gebiet mit vielen Wäldern und tollen Wanderwegen fahren und uns dann selbst unterhalten.
Für mich bedeutete das, denn ganzen Tag im Wald umherzuschlendern und zwar ganz allein.
„Hope, wo ist Sunny?“, sprang Sarah in den Raum.
„Jetzt lasst uns erst einmal essen!“, befahl meine Mutter und ich seufzte lächelnd, um mich zu den Beiden an den Tisch zu setzen.
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Name?
am Samstag, 5. November 2011, 03:29 im Topic 'Kilian'
Ich werde gleich ein paar Kapitel einer Geschichte hochladen, die ich schon vor einer Weile begonnen habe. Das einzige Problem dieser Geschichte ist, naja, ihr Name. Ich habe noch nicht wirklich einen. Fürs erste werde ich sie unter "Kilian" abspeichern, aber dass könnte sich später noch ändern.
Dann viel Spaß :)
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Schwarze Rose
am Samstag, 5. November 2011, 03:04 im Topic 'Ich und dieser Blog'
Wow, es hat sich jemand auf meinen Blog verirrt.
Dann sollte ich wohl erklären, was ich vorhabe hier zu veröffentlichen.
Einerseits will ich hier meine Geschichten posten und andererseits werde ich vielleicht auch hin und wieder etwa aus meinem Leben erzählen. Je nachdem, wonach mir grade ist.
Zu meinen Geschichten:
Ich weiß, dass weder mein Schreibstil noch meine Proffesionalität, also meine Differenzierung von den Geschichten, vollständig ausgereift sind. Aber ich schreibe noch nicht zu lange und ich werde irgendwann wahrscheinlich besser werden.
Außerdem sind all meine Geschichten frei erfunden, auch wenn ich sie häufig aus der Ich-Form schreibe.
Also, viel Spaß auf meinem Blog.
Dann sollte ich wohl erklären, was ich vorhabe hier zu veröffentlichen.
Einerseits will ich hier meine Geschichten posten und andererseits werde ich vielleicht auch hin und wieder etwa aus meinem Leben erzählen. Je nachdem, wonach mir grade ist.
Zu meinen Geschichten:
Ich weiß, dass weder mein Schreibstil noch meine Proffesionalität, also meine Differenzierung von den Geschichten, vollständig ausgereift sind. Aber ich schreibe noch nicht zu lange und ich werde irgendwann wahrscheinlich besser werden.
Außerdem sind all meine Geschichten frei erfunden, auch wenn ich sie häufig aus der Ich-Form schreibe.
Also, viel Spaß auf meinem Blog.
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