Samstag, 5. November 2011
Kilian - Kapitel 5
am Samstag, 5. November 2011, 03:40 im Topic 'Kilian'
Der Abend verlief ereignislos. Alle waren von der Fahrt und den vielen Kämpfen um Sitzplätze und Betten erschöpft, so dass das Abendessen zum reinsten Mittagsschlaf wurde. Ich erfuhr gerade mal, dass sich Kilian und Michael zusammen mit Jack – er hatte die Kinotickets gekauft, dass wusste ich noch – ein Bungalow teilten und Nate und zwei seiner Freunde direkt im Bungalow neben ihnen wohnten.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.
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Kilian - Kapitel 4
am Samstag, 5. November 2011, 03:39 im Topic 'Kilian'
In der Schule unterhielten Kilian und ich uns jetzt hin und wieder in den Pausen. Meisten aber nur irgendein Smalltalk.
Die Mädchen, die auf mich losgegangen waren, verhielten sich - höchstwahrscheinlich wegen Michael und Nikki - trotzdem still. Das gab mir allerdings umso mehr das Gefühl, dass das Ganze nur die Ruhe vor dem Sturm war und ich mich ernsthaft in Gefahr befand. Aber was sollte ich schon tun, außer abzuwarten? Wenn irgendetwas geschah würde ich reagieren oder es einfach über mich ergehen lassen müssen.
Um zu Lea zu kommen… da sie und Nate durch Zufall beide in meiner Klasse waren, hatte sie für gewöhnlich einfach keine Zeit um mich fertig zu machen, da sie zu sehr mit herumknutschen beschäftigt war. Wenn man das Klassenzimmer betrat konnte man sich darauf gefasst machen die beiden eng umschlugen herumstehen zu sehen. Und im Allgemeinen hielten sie meistens Händchen, wenn sie Freizeit hatten. Schließlich hatten sie als beliebtestes Pärchen der Schule so ziemlich denselben Freundeskreis.
Und so verging der Rest der Woche – bis dann schließlich der Tag des Ausflugs kam.
Am morgen musste ich sehr früh aufstehen, um Sarah aus dem Weg zu gehen – wir hatten uns schon am Abend verabschiedet, da ich es mir nicht leisten konnte zu spät zu kommen, nur weil Sarah sich an mir festklammerte und mich nicht gehen lassen wollte. Und das hätte sie bestimmt getan.
Ein anderer Grund, aus dem ich so früh los musste war der, dass wir uns mit unseren Taschen beladen an der Schule trafen um von dort aus mit dem Bus weiter zu fahren, und ich natürlich nicht mein Fahrrad für eine Woche an der Schule stehen lassen konnte, also zu Fuß laufen musste.
Als ich ankam hatte ich da Gefühl, dass meine Taschen mich jeden Augenblick erdrücken würden und dass es ein Wunder war, dass meine Füße mir noch nicht abgefallen waren.
„Hoooooope! HOPE! Hier sind wir!“, rief mir Michael zu, als ich zu den beiden Busen kam, die vor dem Schulgebäude auf dem grauen Parkplatz standen um uns mitzunehmen. Es waren etwas ältere, aber dennoch zweistöckige Reisebusse, die unten ein Fach hatten, das nur für Gepäck reserviert war.
Vor eben diesem Fach standen jetzt Michael, Nikki und Kilian. Kilian und Michael hatten sich – was mich ehrlich verwundert hatte – in der letzten Woche angefreundet, wobei ich anscheinend die Überbrückung geboten hatte.
„Gib her“, sagte Michael als ich bei ihnen ankam und nahm mir eine meiner beiden Taschen ab um sie hineinzuschmeißen, während Kilian sich um die andere kümmerte.
„Danke“, sagte ich.
„Keine Ursache“, meinte Michael und begann – aus dem nichts heraus – mit Nikki über irgendetwas, das ich nicht wirklich verstand zu reden: „Hast du’s gehört?“
Nikki, die da mehr als normal zu finden schien antwortete: „Klar, wie könnte ich mich sonst einen Fan nennen!“
„Musik?“, fragte ich Kilian, da ich wusste, dass Michael und Nikki längst in ihrer eigenen kleinen Welt und nicht mehr wirklich ansprechbar waren.
„Hört sich so an“, stimmte er mir zu.
„Was hörst du denn so für Musik?“, fragte ich, nur so nebenbei, da ich keine erdrückende zwischen uns haben wollte.
„Metal“, antwortete er und sah mich an, als würde er eine ihm bereits bekannte Reaktion erwarten.
„Aha? Ich hab nicht wirklich was gegen Metal, aber es ist einfach nicht meine Musik. Ich mag eher Alternativ Rock wie „Nickelback“ oder „My Chemical Romance“, gab ich meine Meinung zum Besten.
„Jemals von der „Neuen deutschen Härte“ gehört?“, fragte er mich.
„Deutsch? Ich hab nicht viel mit Deutschland am Hut“, antwortete ich, „Und was ist das?“
„Schwer zu sagen. Eine Art Mischung aus Rock und Metal, immer auf Deutsch gesungen.“
Ich lehnte mich jetzt an den Bus, während Kilian mir gegenüber stand.
„Sie ist aber trotzdem eher in anderen Ländern als in Deutschland verbreitet. Es scheint so, als wollten die Deutschen ihre eigenen Bands einfach nicht anerkennen“, fuhr er fort.
„Wie heißt es so schön „Der Philosoph wird überall anerkannt, nur im eigenen Land nicht““, antwortete ich nachdenklich.
Kilian lächelte mich wieder mit diesem unglaublichen Lächeln an: „So kann man es natürlich auch sehen.“
„HEY! Alle herkommen!“, hörte ich Frau Mitchell schreien.
Sie stand in der Nähe des ersten Busses zusammen mit einem bulligen Mann mit schwarzen Haaren und Wikingerbart. Der Klassenlehrer unserer Parallelklasse – Herr Peterson, wenn ich mich nicht irrte.
Wir setzten uns alle in Bewegung und versammelten uns im Halbkreis um sie herum.
„48…49…50. Gut, es sind alle da. Und so wie ich es sehe, habt ihr auch schon alle euer Gepäck eingeräumt. Steigt jetzt bitte in die Busse ein“, erklärte Frau Mitchell.
Auf der Stelle wurde aus der ruhigen Szenerie das reinste Chaos – verständlich.
Alle wollten in denselben Bus wie ihre Freunde, und dann am Besten noch gleich zwei Sitzplätze nebeneinander ergattern.
„Hope, nimm meine Hand!“, rief mir Nikki in dem Getümmel zu. Ich sah in ihre Richtung und ergriff ihre Hand. Und dann begannen wir uns – beide etwas unwillig – durch die Menge auf einen Bus zuzuquetschen.
Auch wenn ich in ihre Richtung sah, konnte ich Nikki nicht, sehen, da überall Köpfe aneinander rammten und alle herumdrängelten.
Schließlich drückten wir uns durch die Tür eines Busses, Nikki hinter mir.
Langsam wurde es ruhiger, aber ich hatte immer noch keine Zeit um mich nach Nikki umzudrehen, da ich dann alle aufgehalten hätte.
Also zerrte ich sie auf zwei freie Sitzplätze. Als wir endlich saßen herrschte der Tumult zwar weiter, aber jetzt ging er uns nichts mehr an, wir hatten unsere Sitzplätze.
Ich drehte mich zu Nikki herum.
Ich wäre vor Schock fast gestorben – neben mir saß nicht Nikki, sondern Kilian. Warum war es mir nicht früher aufgefallen – Nikki, unwillig beim sich durch die Menge drängelnd? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte es von vornherein keinen Sinn ergeben. Außerdem war Nikkis Hand auch etwas schmaler als Kilians und ihr Händedruck wohl schwächer.
„Oh Gott, es tut mir leid! Ich dachte du wärst Nikki! Ehrlich, ich wollte dich nicht irgendwohin mitzerren!“, entschuldigte ich mich hastig und warf Kilian einen Blick zu, der mehr als nur deutlich sagte wie verzweifelte ich darauf hoffte, dass er mir glaubte.
„Ist schon okay“, gab er kurz zur Antwort, „Ist ja auch nicht so wichtig.“
Oh Gott sei Dank!
Wieso war die Vorstellung eines Kilians, der wütend auf mich war und mich für irgendein unverschämtes, billiges Mädchen hielt so unangenehm? Wahrscheinlich nur, weil ich Missverständnisse vermeiden wollte.
Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken. Ich wusste, dass mittlerweile jedes einzelne Mädchen in diesem Bus wusste, dass ich und Kilian nebeneinander saßen und dass das auf meinem Mist gewachsen war. Ach was, die in den anderen Bussen wahrscheinlich auch schon – wofür hatten diese ganzen Tratschtanten denn ihre Handys?
Also schaute ich ruhig aus dem Fenster – jetzt konnte ich auch nichts mehr ändern, also wäre es das schlauste, das Ganze einfach zu akzeptieren. Wenn man machtlos ist, kann man ja nicht viel anderes machen als abzuwarten und Tee zu trinken. Wir würden noch einige Stunden Bus fahren und meine Bestrafung erwartete mich frühsten am Ende dieser Fahrt – da konnte ich genauso gut versuchen meine Erschöpfung während meiner Gnadenfrist zu kurieren.
Und ehe ich mich versah war ich tief und fest eingeschlafen. Während ich schlief stieß allerdings mein Kopf immer wieder gegen die Fensterscheibe, so dass ich ein stetes, nerviges „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Während ich also vor mich hin tockte, versuchten noch einige andere Personen in dem Bus zu schlafen, während die anderen laut lachten und schrien.
Einer von denen, die schlafen wollten, war Kilian. Weil ich aber direkt neben ihm tockte, konnte er das natürlich nicht und deswegen tat er etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte.
Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf die andere Seite, so dass er nicht mehr andauernd gegen die Fensterscheibe schlug, sondern stattdessen an Kilians Schulter ruhte.
Und so schlief dann auch Kilian ein – wobei sein Kopf wiederum auf meinem lag.
Und in genau dieser Position wachte ich nichts Böses ahnend auf.
Verwundert blinzelte ich ein paar Mal, bis mir auffiel, dass ich nicht am Fenster, sondern in der entgegengesetzten Richtung lag. Und dass etwas Schweres auf meinem Schädel ruhte. Ich warf einen Blick nach oben.
Oh Gott!
Entsetzt zog ich meinen Kopf ruckartig weg, wodurch Kilians Kopf wie wild herumwackelte. Glücklicher Weise wachte er aber nicht auf.
Wie konnte er mich jetzt nicht für eines von diesen nuttigen Mädchen halten? Er würde bestimmt denken, dass es mein Ziel gewesen fahr ihn zu verführen oder so etwas… welches normale Mädchen schlief auch mit dem Kopf an einen Kerl gelehnt? Aber Kilian schlief ruhig weiter.
Vielleicht wusste er ja überhaupt nichts? Nein, wenn man logisch darüber nachdachte, hatte ja sein Kopf auf meinem gelegen, also musste ich mich zuerst zu ihm herübergelehnt haben. Aber wieso hatte er mich nicht einfach geweckt, sondern sich stattdessen auf mich gelegt? Vielleicht hatte er zu dem Zeitpunkt ja auch schon geschlafen? Und sein Kopf hatte in der anderen Richtung gelegen, bis er irgendwie auf mich gefallen war?
Ich betrachtete Kilians schlafendes Gesicht. Die glatten, reinen Züge, das leuchtend rote Haar und die vollkommene Formung seiner Lippen.. Ja, so musste es gewesen sein – dieser Junge hatte es ernsthaft nicht nötig irgendwelche Mädchen, die dann auch noch so durchschnittlich waren wie ich zu belästigen, während sie schliefen.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen und es ihm nie verraten? Nein, dass konnte ich unmöglich machen.
„Kilian?“, fragte ich etwas verschüchtert und dachte darüber nach, wie ich mich am besten entschuldigen konnte.
„Hhm?“, machte Kilian und sah mich aus seinen, wie üblich etwas distanzierten, Augen an. Hätte er denn nicht wenigstens ein bisschen verschlafen aussehen können? Nein, seine Augen waren so klar und wachsam wie eh und je und sein Blick genauso aufmerksam.
„Ich.. es tut mir leid! Als du geschlafen hast, habe ich meinen Kopf auf dich gelegt! Ich wusste es nicht, es war… ich habe auch geschlafen! Tut mir leid!“, stieß ich plötzlich hervor und starrte auf den Boden.
„Na und?“, fragte Kilian seelenruhig und blickte mich aus Augen an, die… warte kurz, hatte ich da eben ein kleines Aufflackern in seinen Augen gesehen?
„Es ist nicht so als hättest du irgendetwas falsch gemacht“, sagte Kilian.
Er… hatte recht. Ich hatte geschlafen. Normalerweise hätte jeder das hier ignoriert – wieso hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsse mich um jeden Preis entschuldigen?
„Ahaha… du hast recht. Sorry, dass ich dich wegen so einer Kleinigkeit aufgeweckt habe“, entschuldigte ich mich erneut.
„Macht nichts. Jetzt bin ich sowieso wach, daran kann man so oder so nichts mehr ändern“, sagte Kilian, lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah auf der Stelle so aus, als hätte er wichtigeres an das er denken musste, als die Welt um ihn herum.
Als der Bus anhielt und Kilian und ich hintereinander ausstiegen, kam Nikki, so wunderschön wie schon immer, wütend auf mich zu gerannt:
„Hope, wo warst du? Wir saßen ja nicht mal im selben Bus!“, warf sie mir erbost vor.
„Sorry, aber als ich nach deiner Hand greifen wollte, da hab ich aus Versehen die von Kilian erwischt“, antwortete ich etwas verschämt, aber ehrlich und rieb mir am Hinterkopf.
Überrascht verstummte Nikki, als sie Kilian tatsächlich hinter mir aussteigen sah.
Michael – der wie üblich zusammen mit Nikki erschienen war – fing an zu kichern, da er das Ganze anscheinend verdammt lustig fand.
„Was hast du mit meiner armen kleinen Hope gemacht?“, schrie Nikki und griff Kilian, der es mittlerweile auch aus dem Bus geschafft hatte am Handgelenk.
„….“, war seine Antwort.
Was hätte er auch sagen sollen? Das alles meine Schuld war und wenn schon jemand dann ich ihn belästigt hatte?
„Nikki, er hat überhaupt nichts gemacht“, sagte ich stattdessen.
Nikki drehte sich zu mir um: „Weiß ich doch – war nur Spaß.“
Das sagte sie, als sei es selbstverständlich. Scheiße. Da hatte ich wohl mal wieder etwas falsch verstanden.
„Hierher!“, rief hinter mir Frau Mitchell, „Kommt schon, nicht so lahm, wir müssen zur Herberge noch ein Stückchen laufen!“
Jetzt erst sah ich mich um. Die Busse hatten an einem Parkplatz vor einem Bahnhof gehalten – einem sehr alten, schäbigen Bahnhof. Es gab hier nicht einmal eine Bahnhofshalle, nur zwei Gleise und der Busbahnhof, mit genau einer Haltestelle.
Außerdem schien dieser Bahnhof die reinste Zementinsel in einem mehr aus grünem Wald und brauner Erde zu sein.
Ich liebte diese Gegend schon jetzt.
„NA LOS!“
Frau Mitchell drehte sich von uns Weg und lief auf einen schmalen Weg – Pfad? – zu, der größtenteils bergauf führte. Überhaupt waren hier überall grüne Hügel und Berge verteilt. Ein schönes Gebiet zum Wandern. Das würde ich ausnutzen.
„Und hier fahren wir hin?“
„Ich dachte wir fahren in ne Stadt!“
„Wa sollen wir denn am Arsch der Welt?!“
„Gibt’s hier überhaupt Läden?!“
In etwa so maulten alle anderen um mich herum vor sich hin – ich, Nikki, Michael und Kilian ausgenommen schien niemand allzu begeistert von diesem Ort zu sein – obwohl ich ja nicht wirklich wusste was Kilian, Nikki und Michael hiervon hielten.
Dennoch marschierten alle hinter Frau Mitchell hinterher, während der Klassenlehrer der Parallelklasse sich zurückfallen ließ und den Schluss bildete.
Schnell hatten sich alle auf dem Pfad eingefunden und kämpften sich nörgelnd und maulend den Berg hinauf.
Da der Weg nicht sehr breit war hatten wir uns automatisch alle in zweier Reihen eingeordnet. Kilian und Michael liefen vor mir und Nikki, die, wie üblich durch nichts zu entmutigen, neben mir herstapfte, plapperte ununterbrochen über ihr Pläne. Offensichtlich war ich ungefragt in viele davon eingesponnen.
„… und am Donnerstag suchen wir nach ’ner Stadt, und wenn wir keine finden, machen wir im Wald ein Picknick! Ab wahrscheinlich wissen wir bis dahin von den anderen schon, ob es hier irgendwo eine Stadt gibt. Das finden die ja bis spätestens morgen heraus. Und am Freitag wollen wir mit dem Rest in die Stadt gehen. Wenn’s keine in der Nähe gibt, machen wir was anderes, da lassen wir uns überraschen!“, erklärte sie und gestikulierte wie wild in der Luft herum
„Ähm… Nikki?“, tippte ich sie auf die Schulter.
„Huh? Sind wir da, oder was?“, fragte sie verwundert und ihre Hände hielten mitten in der Luft an.
„Nein, es ist wohl noch ein Stück“; sagte ich und blickte den Weg an. Für mich war das kein Problem – ich liebte es zu wandern. Aber der Rest meiner Stufe beschwerte sich umso mehr.
„Hope, du hörst dich genauso an wie Frau Mitchell mit ihrem „Stückchen““, kicherte Nikki, „Aber was wolltest du jetzt?“
„Ich kann morgen nicht. Ich hab schon was vor“, sagte ich.
„Was?! Wir wollten doch aber die ganze Herberge erkunden!“, rief Nikki überrascht und entsetzt.
„Nein, Nikki, ihr wolltet das. Mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt. Ich kann morgen nicht“, erklärte ich bestimmt, zuckte jedoch auf der Stelle zusammen als das letzte Wort mir aus dem Mund gekommen war, als erwarte ich eine heftige Reaktion.
„Mhm“, machte Nikki nachdenklich, „Stimmt. Tut mir leid, Hope, ich hab’ einfach nicht daran gedacht, dich zu fragen.“
„Ist schon ok“, meinte ich, „aber morgen geht es eben einfach nicht.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Nikki mich neugierig.
„Ach, ich wollte nur ein bisschen im Wald herumlaufen“, gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort.
„Pass bloß auf, dass du dich mit deinem Orientierungssinn nicht verirrst!“, kicherte Nikki und ich lief puderrot an.
Ja, mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden. Aber ich konnte mir Wege gut einprägen, weswegen ich niemals Rundwege nahm sondern immer auf derselben Strecke zurücklief auf der ich auch gekommen war.
„Passt schon“, murmelte ich und drehte mich verschämt weg.
Nikki lachte nur wieder ihr fröhliches und offenes Lachen und – ob ich nun wollte oder nicht – ich stimmte einfach ein.
Dann fing sie wieder an mit Worten und viel zu vielen Gesten zu plappern.
Wir kamen in etwa eine halbe Stunde später bei der Herberge an – maulend, nörgelnd, quengelnd, meckernd, entnervt und – in meinem Fall zumindest – glücklich und zufrieden.
Die Herberge bestand aus einem großen, weißen Hauptgebäude mit rotem Dach, einem Spielplatz, mehreren herumstehenden weißen Bungalows, die allerdings blaue Dächer hatten, einem Pool – gut, dass ich Schwimmzeug dabei hatte! – und einem Volleyballplatz.
„Hallo!“, rief uns ein etwas beleibter Mann mit einer Vollglatze und einem netten, warmen Lächeln, der vor den Gebäuden stand zu.
Der Besitzer der Herberge, wie ich vermutete.
Während die Lehrer ihn begrüßten und Frau Mitchell nachzählte, ob wir auch alle vollständig waren, ließen wir alle unsere Taschen, die wir natürlich hatten tragen müssen, mit einem erschöpften „Klatsch!“ auf den Boden fallen und setzten und stattdessen auf sie.
Doch ehe wir eine Chance erhielten, mit dem erschöpften Gekeuche aufzuhören und mit lautem Geschnatter zu beginnen unterbrach uns der, kein bisschen erschöpfte Lehrer der Parallelklasse:
„Hört jetzt bitte alle zu!“
Er hatte eine schwächere Stimme, als sein Aussehen vermuten ließ.
Wir alle wandten unsere Köpfe dem untersetzten Mann zu, der ganz offensichtlich im Begriff war, die Regeln der Herberge zu erklären.
„Ich hab’ ne tolle Idee“, flüsterte mir Michael, der zusammen mit Nikki neben mir thronte, zu, „wir nennen ihn Kasernenleiter! Schau mal, wie er dasteht, ganz steif. Und gleich fängt er bestimmt an uns die Regeln zu sagen. Und dann könnten wir da alles hier Kaserne nennen – machen wir ein Spielchen draus!“
Wir kam Michael nur auf solche Ideen? Aber ich musste zugeben, ich hatte auch an das Wort „Kaserne“ gedacht, obwohl mir der Mann alles andere als streng erschien. Und tatsächlich hörte sich das Ganze nach einer ganz lustigen Sache an.
Also nickte ich zustimmen, während der Kasernenleiter sich mit seinem echten Namen vorstellte. Peterson. Nein, Kasernenleiter gefiel mir besser.
Und so begann der Kasernenleiter seine Regeln zu erklären, während sich die Nachricht über das Spiel tuschelnd und murmelnd unter den Schülern verbreitete und immer mehr Leute einstiegen.
„Also, zu erstmal wohnen die Mädchen im Hauptgebäude und die Jungen in den Bungalows. In jedem Bungalow ist Platz für drei und die Mädchen werden sich auf zwei große Schlafsääle einteilen. Duschen und Badezimmer sind im Hauptgebäude mehr als genug und jedes Bungalow besitzt ebenfalls eines. Es ist den Mädchen nicht erlaubt, die Bungalows zu betreten und den Jungen ist es nicht erlaubt im Hauptgebäude das erste und zweite Stockwerk zu betreten, da sich dort die Schlafsääle und Baderäume der Mädchen befinden. Im Erd- und Untergeschoss dürft ihr euch dagegen aufhalten, da sich dort der Speisesaal und mehrere Freizeiträume befinden. Zu den Mahlzeiten: Frühstück könnt ihr im Speisesaal von 7 bis 9, Mittagessen von 12 bis 14 und Abendbrot von 18 bis 20 Uhr essen. Außerdem besitzt das Hauptgebäude einige Snack- und Getränkeautomaten, die ihr für den kleinen Hunger zwischendurch nutzen könnt. Ihr dürft euch, ausgenommen die speziellen Regeln für Junge und Mädchen, die ich eben erklärt habe, auf dem Gelände und im Wald frei bewegen. Noch Fragen?“
Kasernenleiter. Perfekt.
Als keine Antwort, sondern nur belustigtes Schweigen ihm entgegen schlug, beendete der Kasernenleiter seine Ansprache mit den Worten: „Gut. Dann dürft ihr jetzt euer Gepäck wegräumen.
Krieg. Schon wieder. Ohne weitere Worte ergriff Nikki mein Handgelenk – diesmal war es ganz bestimmt Nikki, denn wir näherten uns dem Hauptgebäude – und zerrte mich auf die Glastür des Hauptgebäudes zu. Um uns herum war ein Sturm losgebrochen. Dasselbe wie bei den Bussen – alle wollten mit jemand bestimmten in einem Raum seien.
Und so riss Nikki mich durch diesen Orkan aus kreischenden Mädchen hindurch und rannte mit mir in das mit kalten Fliesen ausgelegte Gebäude, die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk – wir hielten nicht mal im ersten Stock, denn Nikki ahnte, dass sich hier alles stauen würde.
Der erste und zweite Stock waren genau gleich aufgebaut – die Treppe endete in einem langen, hölzernen Flur, der mit mehreren Türen bestückt war, die allesamt in Badezimmer mit zwei Toiletten und zwei Duschen führten, bis auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs – die führte zum Schlafsaal dieses Stockwerkes.
Als Nikki und ich als Erste in den oberen Schlafsaal rauschten, in dem mehrere Hochbetten und zu jedem Bett zwei zugehörige Schränke standen packte Nikki meine beiden Taschen und warf sie einfach auf das obere Bett des Stockbettes, das in aller Ruhe am Fenster stand und warf sich selbst mit ihren auf das untere.
Kaum war das geschehen, waren sie auch schon da. Kreischende, streitende Mädchen, die krampfhaft versuchen ein gemeinsames Hochbett zu ergattern – dabei war Nikki ein nicht unbeliebtes Ziel. Aber dadurch, dass sie meine Taschen auf das Bett über ihr geworfen hatte, hatte sie es für mich reserviert und niemand rührte es an.
Um mich herum rissen und zerrten Mädchen an ihren Taschen, um schneller voran zu kommen und schmissen sie dabei rücksichtslos um sich. Überraschend viele von diesen herumfliegenden Taschen erwischten mich. Deswegen kletterte ich schnell die Leiter zu meinem Bett hoch und versteckte mich so, vor der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit dieser Taschen.
„Danke, Nikki“, sagte ich nach unten, da ich wusste, dass Nikki dort saß.
„Kein Problem“, sagte sie und stellte sch auf ihr Bett um ihren Kopf hervorzurecken und mich anzusehen.
Ich lächelte sie an und sie schwang sich – frage mich niemand wie sie sich in der Luft umdrehte, sie war schließlich verdammt sportlich – ohne ein weiteres Wort einfach mit einer einzigen Hand nach oben zu mir auf meine Matratze.
Und so saßen wir nebeneinander bis der Sturm genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Es hatte etwas Komisches, war aber logisch – nachdem jedes Bett vergeben war, wurde höchstens noch diskutiert und gebettelt, aber zu rennen und zu erkämpfen gab es jetzt nichts mehr.
„Lass uns auspacken“, unterbrach Nikki meine Gedanken und sprang vom Bett herunter.
Wir begannen damit, die Betten zu beziehen, dann räumten wir die Schränke ein und schließlich stellten wir unsere Kulturbeutel bereibt, um sie wenn wir ins Bad gingen einfach mitnehmen zu können.
Dann war es auch schon 19:45 Uhr.
„Lass uns besser schnell essen gehen – die meisten sind schon da und ab 8 gibt’s nichts mehr!“, sagte ich zu Nikki, während sie ihre Handtücher in den Schrank einräumte.
„Stimmt – beeilen wir uns!“, sagte sie und wir verließen den Schlafsaal als Letzte, um in den Speisesaal zu gehen.
Die Mädchen, die auf mich losgegangen waren, verhielten sich - höchstwahrscheinlich wegen Michael und Nikki - trotzdem still. Das gab mir allerdings umso mehr das Gefühl, dass das Ganze nur die Ruhe vor dem Sturm war und ich mich ernsthaft in Gefahr befand. Aber was sollte ich schon tun, außer abzuwarten? Wenn irgendetwas geschah würde ich reagieren oder es einfach über mich ergehen lassen müssen.
Um zu Lea zu kommen… da sie und Nate durch Zufall beide in meiner Klasse waren, hatte sie für gewöhnlich einfach keine Zeit um mich fertig zu machen, da sie zu sehr mit herumknutschen beschäftigt war. Wenn man das Klassenzimmer betrat konnte man sich darauf gefasst machen die beiden eng umschlugen herumstehen zu sehen. Und im Allgemeinen hielten sie meistens Händchen, wenn sie Freizeit hatten. Schließlich hatten sie als beliebtestes Pärchen der Schule so ziemlich denselben Freundeskreis.
Und so verging der Rest der Woche – bis dann schließlich der Tag des Ausflugs kam.
Am morgen musste ich sehr früh aufstehen, um Sarah aus dem Weg zu gehen – wir hatten uns schon am Abend verabschiedet, da ich es mir nicht leisten konnte zu spät zu kommen, nur weil Sarah sich an mir festklammerte und mich nicht gehen lassen wollte. Und das hätte sie bestimmt getan.
Ein anderer Grund, aus dem ich so früh los musste war der, dass wir uns mit unseren Taschen beladen an der Schule trafen um von dort aus mit dem Bus weiter zu fahren, und ich natürlich nicht mein Fahrrad für eine Woche an der Schule stehen lassen konnte, also zu Fuß laufen musste.
Als ich ankam hatte ich da Gefühl, dass meine Taschen mich jeden Augenblick erdrücken würden und dass es ein Wunder war, dass meine Füße mir noch nicht abgefallen waren.
„Hoooooope! HOPE! Hier sind wir!“, rief mir Michael zu, als ich zu den beiden Busen kam, die vor dem Schulgebäude auf dem grauen Parkplatz standen um uns mitzunehmen. Es waren etwas ältere, aber dennoch zweistöckige Reisebusse, die unten ein Fach hatten, das nur für Gepäck reserviert war.
Vor eben diesem Fach standen jetzt Michael, Nikki und Kilian. Kilian und Michael hatten sich – was mich ehrlich verwundert hatte – in der letzten Woche angefreundet, wobei ich anscheinend die Überbrückung geboten hatte.
„Gib her“, sagte Michael als ich bei ihnen ankam und nahm mir eine meiner beiden Taschen ab um sie hineinzuschmeißen, während Kilian sich um die andere kümmerte.
„Danke“, sagte ich.
„Keine Ursache“, meinte Michael und begann – aus dem nichts heraus – mit Nikki über irgendetwas, das ich nicht wirklich verstand zu reden: „Hast du’s gehört?“
Nikki, die da mehr als normal zu finden schien antwortete: „Klar, wie könnte ich mich sonst einen Fan nennen!“
„Musik?“, fragte ich Kilian, da ich wusste, dass Michael und Nikki längst in ihrer eigenen kleinen Welt und nicht mehr wirklich ansprechbar waren.
„Hört sich so an“, stimmte er mir zu.
„Was hörst du denn so für Musik?“, fragte ich, nur so nebenbei, da ich keine erdrückende zwischen uns haben wollte.
„Metal“, antwortete er und sah mich an, als würde er eine ihm bereits bekannte Reaktion erwarten.
„Aha? Ich hab nicht wirklich was gegen Metal, aber es ist einfach nicht meine Musik. Ich mag eher Alternativ Rock wie „Nickelback“ oder „My Chemical Romance“, gab ich meine Meinung zum Besten.
„Jemals von der „Neuen deutschen Härte“ gehört?“, fragte er mich.
„Deutsch? Ich hab nicht viel mit Deutschland am Hut“, antwortete ich, „Und was ist das?“
„Schwer zu sagen. Eine Art Mischung aus Rock und Metal, immer auf Deutsch gesungen.“
Ich lehnte mich jetzt an den Bus, während Kilian mir gegenüber stand.
„Sie ist aber trotzdem eher in anderen Ländern als in Deutschland verbreitet. Es scheint so, als wollten die Deutschen ihre eigenen Bands einfach nicht anerkennen“, fuhr er fort.
„Wie heißt es so schön „Der Philosoph wird überall anerkannt, nur im eigenen Land nicht““, antwortete ich nachdenklich.
Kilian lächelte mich wieder mit diesem unglaublichen Lächeln an: „So kann man es natürlich auch sehen.“
„HEY! Alle herkommen!“, hörte ich Frau Mitchell schreien.
Sie stand in der Nähe des ersten Busses zusammen mit einem bulligen Mann mit schwarzen Haaren und Wikingerbart. Der Klassenlehrer unserer Parallelklasse – Herr Peterson, wenn ich mich nicht irrte.
Wir setzten uns alle in Bewegung und versammelten uns im Halbkreis um sie herum.
„48…49…50. Gut, es sind alle da. Und so wie ich es sehe, habt ihr auch schon alle euer Gepäck eingeräumt. Steigt jetzt bitte in die Busse ein“, erklärte Frau Mitchell.
Auf der Stelle wurde aus der ruhigen Szenerie das reinste Chaos – verständlich.
Alle wollten in denselben Bus wie ihre Freunde, und dann am Besten noch gleich zwei Sitzplätze nebeneinander ergattern.
„Hope, nimm meine Hand!“, rief mir Nikki in dem Getümmel zu. Ich sah in ihre Richtung und ergriff ihre Hand. Und dann begannen wir uns – beide etwas unwillig – durch die Menge auf einen Bus zuzuquetschen.
Auch wenn ich in ihre Richtung sah, konnte ich Nikki nicht, sehen, da überall Köpfe aneinander rammten und alle herumdrängelten.
Schließlich drückten wir uns durch die Tür eines Busses, Nikki hinter mir.
Langsam wurde es ruhiger, aber ich hatte immer noch keine Zeit um mich nach Nikki umzudrehen, da ich dann alle aufgehalten hätte.
Also zerrte ich sie auf zwei freie Sitzplätze. Als wir endlich saßen herrschte der Tumult zwar weiter, aber jetzt ging er uns nichts mehr an, wir hatten unsere Sitzplätze.
Ich drehte mich zu Nikki herum.
Ich wäre vor Schock fast gestorben – neben mir saß nicht Nikki, sondern Kilian. Warum war es mir nicht früher aufgefallen – Nikki, unwillig beim sich durch die Menge drängelnd? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte es von vornherein keinen Sinn ergeben. Außerdem war Nikkis Hand auch etwas schmaler als Kilians und ihr Händedruck wohl schwächer.
„Oh Gott, es tut mir leid! Ich dachte du wärst Nikki! Ehrlich, ich wollte dich nicht irgendwohin mitzerren!“, entschuldigte ich mich hastig und warf Kilian einen Blick zu, der mehr als nur deutlich sagte wie verzweifelte ich darauf hoffte, dass er mir glaubte.
„Ist schon okay“, gab er kurz zur Antwort, „Ist ja auch nicht so wichtig.“
Oh Gott sei Dank!
Wieso war die Vorstellung eines Kilians, der wütend auf mich war und mich für irgendein unverschämtes, billiges Mädchen hielt so unangenehm? Wahrscheinlich nur, weil ich Missverständnisse vermeiden wollte.
Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken. Ich wusste, dass mittlerweile jedes einzelne Mädchen in diesem Bus wusste, dass ich und Kilian nebeneinander saßen und dass das auf meinem Mist gewachsen war. Ach was, die in den anderen Bussen wahrscheinlich auch schon – wofür hatten diese ganzen Tratschtanten denn ihre Handys?
Also schaute ich ruhig aus dem Fenster – jetzt konnte ich auch nichts mehr ändern, also wäre es das schlauste, das Ganze einfach zu akzeptieren. Wenn man machtlos ist, kann man ja nicht viel anderes machen als abzuwarten und Tee zu trinken. Wir würden noch einige Stunden Bus fahren und meine Bestrafung erwartete mich frühsten am Ende dieser Fahrt – da konnte ich genauso gut versuchen meine Erschöpfung während meiner Gnadenfrist zu kurieren.
Und ehe ich mich versah war ich tief und fest eingeschlafen. Während ich schlief stieß allerdings mein Kopf immer wieder gegen die Fensterscheibe, so dass ich ein stetes, nerviges „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Während ich also vor mich hin tockte, versuchten noch einige andere Personen in dem Bus zu schlafen, während die anderen laut lachten und schrien.
Einer von denen, die schlafen wollten, war Kilian. Weil ich aber direkt neben ihm tockte, konnte er das natürlich nicht und deswegen tat er etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte.
Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf die andere Seite, so dass er nicht mehr andauernd gegen die Fensterscheibe schlug, sondern stattdessen an Kilians Schulter ruhte.
Und so schlief dann auch Kilian ein – wobei sein Kopf wiederum auf meinem lag.
Und in genau dieser Position wachte ich nichts Böses ahnend auf.
Verwundert blinzelte ich ein paar Mal, bis mir auffiel, dass ich nicht am Fenster, sondern in der entgegengesetzten Richtung lag. Und dass etwas Schweres auf meinem Schädel ruhte. Ich warf einen Blick nach oben.
Oh Gott!
Entsetzt zog ich meinen Kopf ruckartig weg, wodurch Kilians Kopf wie wild herumwackelte. Glücklicher Weise wachte er aber nicht auf.
Wie konnte er mich jetzt nicht für eines von diesen nuttigen Mädchen halten? Er würde bestimmt denken, dass es mein Ziel gewesen fahr ihn zu verführen oder so etwas… welches normale Mädchen schlief auch mit dem Kopf an einen Kerl gelehnt? Aber Kilian schlief ruhig weiter.
Vielleicht wusste er ja überhaupt nichts? Nein, wenn man logisch darüber nachdachte, hatte ja sein Kopf auf meinem gelegen, also musste ich mich zuerst zu ihm herübergelehnt haben. Aber wieso hatte er mich nicht einfach geweckt, sondern sich stattdessen auf mich gelegt? Vielleicht hatte er zu dem Zeitpunkt ja auch schon geschlafen? Und sein Kopf hatte in der anderen Richtung gelegen, bis er irgendwie auf mich gefallen war?
Ich betrachtete Kilians schlafendes Gesicht. Die glatten, reinen Züge, das leuchtend rote Haar und die vollkommene Formung seiner Lippen.. Ja, so musste es gewesen sein – dieser Junge hatte es ernsthaft nicht nötig irgendwelche Mädchen, die dann auch noch so durchschnittlich waren wie ich zu belästigen, während sie schliefen.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen und es ihm nie verraten? Nein, dass konnte ich unmöglich machen.
„Kilian?“, fragte ich etwas verschüchtert und dachte darüber nach, wie ich mich am besten entschuldigen konnte.
„Hhm?“, machte Kilian und sah mich aus seinen, wie üblich etwas distanzierten, Augen an. Hätte er denn nicht wenigstens ein bisschen verschlafen aussehen können? Nein, seine Augen waren so klar und wachsam wie eh und je und sein Blick genauso aufmerksam.
„Ich.. es tut mir leid! Als du geschlafen hast, habe ich meinen Kopf auf dich gelegt! Ich wusste es nicht, es war… ich habe auch geschlafen! Tut mir leid!“, stieß ich plötzlich hervor und starrte auf den Boden.
„Na und?“, fragte Kilian seelenruhig und blickte mich aus Augen an, die… warte kurz, hatte ich da eben ein kleines Aufflackern in seinen Augen gesehen?
„Es ist nicht so als hättest du irgendetwas falsch gemacht“, sagte Kilian.
Er… hatte recht. Ich hatte geschlafen. Normalerweise hätte jeder das hier ignoriert – wieso hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsse mich um jeden Preis entschuldigen?
„Ahaha… du hast recht. Sorry, dass ich dich wegen so einer Kleinigkeit aufgeweckt habe“, entschuldigte ich mich erneut.
„Macht nichts. Jetzt bin ich sowieso wach, daran kann man so oder so nichts mehr ändern“, sagte Kilian, lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah auf der Stelle so aus, als hätte er wichtigeres an das er denken musste, als die Welt um ihn herum.
Als der Bus anhielt und Kilian und ich hintereinander ausstiegen, kam Nikki, so wunderschön wie schon immer, wütend auf mich zu gerannt:
„Hope, wo warst du? Wir saßen ja nicht mal im selben Bus!“, warf sie mir erbost vor.
„Sorry, aber als ich nach deiner Hand greifen wollte, da hab ich aus Versehen die von Kilian erwischt“, antwortete ich etwas verschämt, aber ehrlich und rieb mir am Hinterkopf.
Überrascht verstummte Nikki, als sie Kilian tatsächlich hinter mir aussteigen sah.
Michael – der wie üblich zusammen mit Nikki erschienen war – fing an zu kichern, da er das Ganze anscheinend verdammt lustig fand.
„Was hast du mit meiner armen kleinen Hope gemacht?“, schrie Nikki und griff Kilian, der es mittlerweile auch aus dem Bus geschafft hatte am Handgelenk.
„….“, war seine Antwort.
Was hätte er auch sagen sollen? Das alles meine Schuld war und wenn schon jemand dann ich ihn belästigt hatte?
„Nikki, er hat überhaupt nichts gemacht“, sagte ich stattdessen.
Nikki drehte sich zu mir um: „Weiß ich doch – war nur Spaß.“
Das sagte sie, als sei es selbstverständlich. Scheiße. Da hatte ich wohl mal wieder etwas falsch verstanden.
„Hierher!“, rief hinter mir Frau Mitchell, „Kommt schon, nicht so lahm, wir müssen zur Herberge noch ein Stückchen laufen!“
Jetzt erst sah ich mich um. Die Busse hatten an einem Parkplatz vor einem Bahnhof gehalten – einem sehr alten, schäbigen Bahnhof. Es gab hier nicht einmal eine Bahnhofshalle, nur zwei Gleise und der Busbahnhof, mit genau einer Haltestelle.
Außerdem schien dieser Bahnhof die reinste Zementinsel in einem mehr aus grünem Wald und brauner Erde zu sein.
Ich liebte diese Gegend schon jetzt.
„NA LOS!“
Frau Mitchell drehte sich von uns Weg und lief auf einen schmalen Weg – Pfad? – zu, der größtenteils bergauf führte. Überhaupt waren hier überall grüne Hügel und Berge verteilt. Ein schönes Gebiet zum Wandern. Das würde ich ausnutzen.
„Und hier fahren wir hin?“
„Ich dachte wir fahren in ne Stadt!“
„Wa sollen wir denn am Arsch der Welt?!“
„Gibt’s hier überhaupt Läden?!“
In etwa so maulten alle anderen um mich herum vor sich hin – ich, Nikki, Michael und Kilian ausgenommen schien niemand allzu begeistert von diesem Ort zu sein – obwohl ich ja nicht wirklich wusste was Kilian, Nikki und Michael hiervon hielten.
Dennoch marschierten alle hinter Frau Mitchell hinterher, während der Klassenlehrer der Parallelklasse sich zurückfallen ließ und den Schluss bildete.
Schnell hatten sich alle auf dem Pfad eingefunden und kämpften sich nörgelnd und maulend den Berg hinauf.
Da der Weg nicht sehr breit war hatten wir uns automatisch alle in zweier Reihen eingeordnet. Kilian und Michael liefen vor mir und Nikki, die, wie üblich durch nichts zu entmutigen, neben mir herstapfte, plapperte ununterbrochen über ihr Pläne. Offensichtlich war ich ungefragt in viele davon eingesponnen.
„… und am Donnerstag suchen wir nach ’ner Stadt, und wenn wir keine finden, machen wir im Wald ein Picknick! Ab wahrscheinlich wissen wir bis dahin von den anderen schon, ob es hier irgendwo eine Stadt gibt. Das finden die ja bis spätestens morgen heraus. Und am Freitag wollen wir mit dem Rest in die Stadt gehen. Wenn’s keine in der Nähe gibt, machen wir was anderes, da lassen wir uns überraschen!“, erklärte sie und gestikulierte wie wild in der Luft herum
„Ähm… Nikki?“, tippte ich sie auf die Schulter.
„Huh? Sind wir da, oder was?“, fragte sie verwundert und ihre Hände hielten mitten in der Luft an.
„Nein, es ist wohl noch ein Stück“; sagte ich und blickte den Weg an. Für mich war das kein Problem – ich liebte es zu wandern. Aber der Rest meiner Stufe beschwerte sich umso mehr.
„Hope, du hörst dich genauso an wie Frau Mitchell mit ihrem „Stückchen““, kicherte Nikki, „Aber was wolltest du jetzt?“
„Ich kann morgen nicht. Ich hab schon was vor“, sagte ich.
„Was?! Wir wollten doch aber die ganze Herberge erkunden!“, rief Nikki überrascht und entsetzt.
„Nein, Nikki, ihr wolltet das. Mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt. Ich kann morgen nicht“, erklärte ich bestimmt, zuckte jedoch auf der Stelle zusammen als das letzte Wort mir aus dem Mund gekommen war, als erwarte ich eine heftige Reaktion.
„Mhm“, machte Nikki nachdenklich, „Stimmt. Tut mir leid, Hope, ich hab’ einfach nicht daran gedacht, dich zu fragen.“
„Ist schon ok“, meinte ich, „aber morgen geht es eben einfach nicht.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Nikki mich neugierig.
„Ach, ich wollte nur ein bisschen im Wald herumlaufen“, gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort.
„Pass bloß auf, dass du dich mit deinem Orientierungssinn nicht verirrst!“, kicherte Nikki und ich lief puderrot an.
Ja, mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden. Aber ich konnte mir Wege gut einprägen, weswegen ich niemals Rundwege nahm sondern immer auf derselben Strecke zurücklief auf der ich auch gekommen war.
„Passt schon“, murmelte ich und drehte mich verschämt weg.
Nikki lachte nur wieder ihr fröhliches und offenes Lachen und – ob ich nun wollte oder nicht – ich stimmte einfach ein.
Dann fing sie wieder an mit Worten und viel zu vielen Gesten zu plappern.
Wir kamen in etwa eine halbe Stunde später bei der Herberge an – maulend, nörgelnd, quengelnd, meckernd, entnervt und – in meinem Fall zumindest – glücklich und zufrieden.
Die Herberge bestand aus einem großen, weißen Hauptgebäude mit rotem Dach, einem Spielplatz, mehreren herumstehenden weißen Bungalows, die allerdings blaue Dächer hatten, einem Pool – gut, dass ich Schwimmzeug dabei hatte! – und einem Volleyballplatz.
„Hallo!“, rief uns ein etwas beleibter Mann mit einer Vollglatze und einem netten, warmen Lächeln, der vor den Gebäuden stand zu.
Der Besitzer der Herberge, wie ich vermutete.
Während die Lehrer ihn begrüßten und Frau Mitchell nachzählte, ob wir auch alle vollständig waren, ließen wir alle unsere Taschen, die wir natürlich hatten tragen müssen, mit einem erschöpften „Klatsch!“ auf den Boden fallen und setzten und stattdessen auf sie.
Doch ehe wir eine Chance erhielten, mit dem erschöpften Gekeuche aufzuhören und mit lautem Geschnatter zu beginnen unterbrach uns der, kein bisschen erschöpfte Lehrer der Parallelklasse:
„Hört jetzt bitte alle zu!“
Er hatte eine schwächere Stimme, als sein Aussehen vermuten ließ.
Wir alle wandten unsere Köpfe dem untersetzten Mann zu, der ganz offensichtlich im Begriff war, die Regeln der Herberge zu erklären.
„Ich hab’ ne tolle Idee“, flüsterte mir Michael, der zusammen mit Nikki neben mir thronte, zu, „wir nennen ihn Kasernenleiter! Schau mal, wie er dasteht, ganz steif. Und gleich fängt er bestimmt an uns die Regeln zu sagen. Und dann könnten wir da alles hier Kaserne nennen – machen wir ein Spielchen draus!“
Wir kam Michael nur auf solche Ideen? Aber ich musste zugeben, ich hatte auch an das Wort „Kaserne“ gedacht, obwohl mir der Mann alles andere als streng erschien. Und tatsächlich hörte sich das Ganze nach einer ganz lustigen Sache an.
Also nickte ich zustimmen, während der Kasernenleiter sich mit seinem echten Namen vorstellte. Peterson. Nein, Kasernenleiter gefiel mir besser.
Und so begann der Kasernenleiter seine Regeln zu erklären, während sich die Nachricht über das Spiel tuschelnd und murmelnd unter den Schülern verbreitete und immer mehr Leute einstiegen.
„Also, zu erstmal wohnen die Mädchen im Hauptgebäude und die Jungen in den Bungalows. In jedem Bungalow ist Platz für drei und die Mädchen werden sich auf zwei große Schlafsääle einteilen. Duschen und Badezimmer sind im Hauptgebäude mehr als genug und jedes Bungalow besitzt ebenfalls eines. Es ist den Mädchen nicht erlaubt, die Bungalows zu betreten und den Jungen ist es nicht erlaubt im Hauptgebäude das erste und zweite Stockwerk zu betreten, da sich dort die Schlafsääle und Baderäume der Mädchen befinden. Im Erd- und Untergeschoss dürft ihr euch dagegen aufhalten, da sich dort der Speisesaal und mehrere Freizeiträume befinden. Zu den Mahlzeiten: Frühstück könnt ihr im Speisesaal von 7 bis 9, Mittagessen von 12 bis 14 und Abendbrot von 18 bis 20 Uhr essen. Außerdem besitzt das Hauptgebäude einige Snack- und Getränkeautomaten, die ihr für den kleinen Hunger zwischendurch nutzen könnt. Ihr dürft euch, ausgenommen die speziellen Regeln für Junge und Mädchen, die ich eben erklärt habe, auf dem Gelände und im Wald frei bewegen. Noch Fragen?“
Kasernenleiter. Perfekt.
Als keine Antwort, sondern nur belustigtes Schweigen ihm entgegen schlug, beendete der Kasernenleiter seine Ansprache mit den Worten: „Gut. Dann dürft ihr jetzt euer Gepäck wegräumen.
Krieg. Schon wieder. Ohne weitere Worte ergriff Nikki mein Handgelenk – diesmal war es ganz bestimmt Nikki, denn wir näherten uns dem Hauptgebäude – und zerrte mich auf die Glastür des Hauptgebäudes zu. Um uns herum war ein Sturm losgebrochen. Dasselbe wie bei den Bussen – alle wollten mit jemand bestimmten in einem Raum seien.
Und so riss Nikki mich durch diesen Orkan aus kreischenden Mädchen hindurch und rannte mit mir in das mit kalten Fliesen ausgelegte Gebäude, die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk – wir hielten nicht mal im ersten Stock, denn Nikki ahnte, dass sich hier alles stauen würde.
Der erste und zweite Stock waren genau gleich aufgebaut – die Treppe endete in einem langen, hölzernen Flur, der mit mehreren Türen bestückt war, die allesamt in Badezimmer mit zwei Toiletten und zwei Duschen führten, bis auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs – die führte zum Schlafsaal dieses Stockwerkes.
Als Nikki und ich als Erste in den oberen Schlafsaal rauschten, in dem mehrere Hochbetten und zu jedem Bett zwei zugehörige Schränke standen packte Nikki meine beiden Taschen und warf sie einfach auf das obere Bett des Stockbettes, das in aller Ruhe am Fenster stand und warf sich selbst mit ihren auf das untere.
Kaum war das geschehen, waren sie auch schon da. Kreischende, streitende Mädchen, die krampfhaft versuchen ein gemeinsames Hochbett zu ergattern – dabei war Nikki ein nicht unbeliebtes Ziel. Aber dadurch, dass sie meine Taschen auf das Bett über ihr geworfen hatte, hatte sie es für mich reserviert und niemand rührte es an.
Um mich herum rissen und zerrten Mädchen an ihren Taschen, um schneller voran zu kommen und schmissen sie dabei rücksichtslos um sich. Überraschend viele von diesen herumfliegenden Taschen erwischten mich. Deswegen kletterte ich schnell die Leiter zu meinem Bett hoch und versteckte mich so, vor der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit dieser Taschen.
„Danke, Nikki“, sagte ich nach unten, da ich wusste, dass Nikki dort saß.
„Kein Problem“, sagte sie und stellte sch auf ihr Bett um ihren Kopf hervorzurecken und mich anzusehen.
Ich lächelte sie an und sie schwang sich – frage mich niemand wie sie sich in der Luft umdrehte, sie war schließlich verdammt sportlich – ohne ein weiteres Wort einfach mit einer einzigen Hand nach oben zu mir auf meine Matratze.
Und so saßen wir nebeneinander bis der Sturm genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Es hatte etwas Komisches, war aber logisch – nachdem jedes Bett vergeben war, wurde höchstens noch diskutiert und gebettelt, aber zu rennen und zu erkämpfen gab es jetzt nichts mehr.
„Lass uns auspacken“, unterbrach Nikki meine Gedanken und sprang vom Bett herunter.
Wir begannen damit, die Betten zu beziehen, dann räumten wir die Schränke ein und schließlich stellten wir unsere Kulturbeutel bereibt, um sie wenn wir ins Bad gingen einfach mitnehmen zu können.
Dann war es auch schon 19:45 Uhr.
„Lass uns besser schnell essen gehen – die meisten sind schon da und ab 8 gibt’s nichts mehr!“, sagte ich zu Nikki, während sie ihre Handtücher in den Schrank einräumte.
„Stimmt – beeilen wir uns!“, sagte sie und wir verließen den Schlafsaal als Letzte, um in den Speisesaal zu gehen.
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Kilian - Kapitel 3
am Samstag, 5. November 2011, 03:37 im Topic 'Kilian'
Leise öffnete ich die Haustür. Mom und Sarah schliefen noch, aber ich hatte noch einiges zu tun.
Zuerst musste ich einkaufen gehen – wir hatten so gut wie nichts mehr zu Essen zu Hause. Außerdem war auch das Katzenfutter für fast ausgegangen. Danach musste ich Lea meine Hausaufgaben vorbeibringen – zum Abschreiben, wie mir klar war. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich (wenn ich schon einmal da war) auch noch von mir verlangen irgendwelche Besorgungen zu machen. Solche Dinge wie Anti-Pickelcreme oder Binden konnte sie ja nicht selber kaufen. Das würde ihr „Image“ zerstören. Und dann wäre es wahrscheinlich auch schon an der Zeit, dass ich mich mit Michael, Nikki und diesen anderen Leuten am Kino traf.
Also schloss ich die Tür hinter mir ab und schwang mich im Morgengrauen aufs Fahrrad. Der Weg bis zum nächsten Supermarkt war relativ lang.
Das Einkaufen verlief relativ problemlos. War ja alles keine große Sache.
Aber schon als ich die Nähe von Leas Haus kam konnte ich hören wie jemand angewidert die Nase rümpfte. Überrascht blickte ich mich um – eigentlich hatte mich jeder der in diesem Gebiet der Reichen lebte schon mindestens einmal gesehen.
Oh, Neuankömmlinge.
An der Straßenseite standen dutzende von Möbelpackerwägen und überall schienen irgendwelche Arbeiter herumzufusseln, die alle schwer beschäftigt waren.
Und am Rand von alldem stand -sehr klischeehaft, aber wahr- eine junge Frau und schrie Dinge wie „Passen Sie bloß auf, dass Sie nichts kaputt machen!“
Und anscheinend war es auch diese Frau gewesen, die mich mit so verächtlichen Blicken bedacht hatte.
Und sie sah mich immer noch an, wie ich da auf meinem Fahrrad kurz gestoppt hatte, um dieses Haus zu bestaunen.
Wen Leas Haus groß war, dann war dieses hier riesig, nein monströs, nein gigantisch!
Es war mindestens fünfmal so groß, wenn nicht sogar noch mehr – es war wohl die größte Villa in der ganzen Gegend. Und hier waren alle Häuser in etwa zehnmal so groß wie normale Häuser.
Ganz egal, aber auf jeden Fall mussten diese Neuhinzugezogen verdammt reich sein um sich so etwas leisten zu können.
„Willst du was?“, schnauzte mich die Frau herablassend an. Auf keinen Fall war sie die „Frau des Hauses“. Sie war höchsten zwei Jahre älter als ich – noch nicht mal aus der Schule gekommen – obwohl... man hört ja immer wieder solche Geschichten… Aber nein. Das traute ich dieser Frau nicht zu.
„Äh nein, Entschuldigung!“, antwortete ich und machte mich schnell wieder auf den weg ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hatte ja eigentlich sowieso keine Zeit. Es war mittlerweile schon Mittag und nur noch 10 Minuten von der mit Lea verabredeten Zeit.
Als ich vor ihrem Haus vorfuhr und aus dem Sattel sprang schmiss ich mein Fahrrad schnell gegen die Mauer und rannte auf das große, schwere Eisentor zu.
Der Wachmann dort, der mich ja bereits kannte, nickte mir nur zu und öffnete das Tor für mich.
Ich warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu und rannte schnell auf die Tür zu.
Als ich den Klingelknopf drückte öffnete mir fast auf der Stelle eine Dienerin (was für ein dummer Beruf) die Tür und begrüßte mich. Sie erklärte mir auch, dass Lea in ihrem Zimmer auf mich warte.
Oh shit. Sie wartete. Das war alles andere als gut.
Schnell bedankte ich mich bei der Dienerin und rannte durch die Korridore in Richtung Leas Zimmer.
Als ich endlich vor der Tür angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf meine Uhr- es war knapp, aber ich war noch pünktlich.
Seufzend klopfte ich an – das ich eigentlich im Recht war würde mich vor Leas Zorn nicht schützen.
„HEREIN!“, kam die prompte und laute Antwort auf mein Klopfen.
„Hey, Lea, ich bin’s, Hope“, sagte ich, während ich vorsichtig die Tür öffnete, immer sorgfältig darauf bedacht sie als Schutzschild benutzen zu können, sollte mir etwas entgegenfliegen.
KRACH! Eine Blumenvase. Ich hatte glücklicherweise noch rechtzeitig reagiert, deswegen erwischten mich nur einige Scherben an meinem nicht bedeckten Arm, doch als ich ihn erschrocken und besorgt betrachtete konnte ich nur einen einzigen, kleinen Kratzer entdecken.
„WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH ERST SO SPÄT ZU KOMMEN?“, wurde ich auf der Stelle angeschrien, als ich mich endlich traute hinter der schützenden Tür hervorzutreten.
„Es tut mir leid.“
Ich versuchte gar nicht erst zu erklären, dass ich pünktlich war. Logik war Lea egal.
„Hast du die Hausaufgaben dabei?!“, schnauzte sie mich an.
„Ja, hier“, antwortete ich und zog aus der großen Einkaufstasche, die an meinem unverletzten Arm hing einige Hefte heraus.
„Gut – ich hab heute keine Zeit für dich, also schreib sie einfach in meine Hefte. Aber vergiss bloß nicht, deine Schrift zu verstellen!“
Ich nickte, aber ich konnte mir eine Frage einfach nicht verkneifen: „Wo gehst du denn hin?“
„Mph“, machte Lea verächtlich, „meine Eltern wollen, dass ich die neuen Nachbarn mit ihnen begrüße.“
„Oh, viel Spaß!“, meinte ich, während ich mich langsam in Leas Zimmer vortraute um mich and den Schreibtisch zu setzen und ihr die Hausaufgaben abzuschreiben.
„Viel Spaß? HA! Aber den werde ich schon noch haben. Ich gehe danach noch mit ein paar Freundinnen shoppen, also verziehst du dich einfach, wenn du fertig bist, verstanden?“
„Ja“, sagte ich, setzte mich an ihren Schreibtisch und begann zu arbeiten.
„Gut, dann bis Montag“, verabschiedete Lea sich, während sie sich von ihrem Bett erhob und das Zimmer verlies.
Nachdem sie gegangen war arbeitete ich seufzend weiter – dass war Leas Bestrafung dafür, dass ich „zu spät“ gekommen war.
Das Abschreiben alleine hätte ja wahrscheinlich schon mehr als lange genug gedauert, aber dann auch noch die ganze Zeit über die eigene Schrift zu verstellen war wirklich anstrengend.
Dennoch war ich nach nur drei Stunden fertig – gerade noch genug Zeit, um pünktlich zum Kino zu kommen.
Also schmiss ich schnell alle meine Hefte in meine Tüte und rannte wieder aus dem Haus, am Wachmann vorbei zu meinem Fahrrad.
Als ich schließlich (mit gerade mal fünf Minuten Verspätung) am Kino ankam, waren alle anderen schon da.
Da waren natürlich Nikki und Michael, aber auch zahllose Leute aus meiner alten Mittelschule. Außerdem auch einige aus meiner Klasse. Jungen wie Mädchen – sie alle hatten ihre Gründe. Für die Meisten waren diese allerdings höchstwahrscheinlich Nikki oder Michael selbst, denn beide waren verdammt gut aussehend.
Ich passte eigentlich überhaupt nicht zu ihnen.
Was mich aber an der Gruppe am meisten erstaunte war eine einzige Person, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Kilian.
Er stand ganz am Rand der Gruppe, und gleichzeitig schienen doch alle Blicke auf ihn gerichtet.
Als ich endlich bei ihnen ankam (mein Fahrrad hatte ich schon abgestellt) sprang mir Nikki wie üblich um den Hals.
„Hope, du bist zu spät!“, beschwerte sie sich in ihrem kindischen Schmollton, den sie nur zum Spaß anlegte.
„Tut mir leid, ich…war beschäftigt“, murmelte ich zur Entschuldigung.
„Was, Hope, was ist dir wichtiger als ich?“, machte Nikki grinsend weiter.
„Alles“, antwortete ich eiskalt, „welchen Film sehen wir uns überhaupt an?“
„NICHT KOMISCH, HOPE!!“, schrie Nikki mir ins Ohr.
„Schon gut, schon gut, du bist das Wichtigste überhaupt“, gab ich nach.
„Na geht doch“, murmelte Nikki zufrieden und lies mich los.
„Und wir schauen uns eine Komödie an“, gab mir Michael auf meine Frage zur Antwort.
„Ein Liebesfilm würde nur uns Mädchen gefallen, und auf Horror haben wir nicht wirklich Lust“, erklärte mir ein Mädchen aus meiner Mittelschule – Melinda, wenn ich mich nicht irrte.
„Jack ist schon Tickets kaufen gegangen“, meinte ein Junge aus meiner Klasse, denn ich nun überhaupt nicht kannte – und wer war Jack?
Wir betraten das Kino, das so ziemlich aussah wie jedes andere Kino auch – ein große Vorhalle, der Ticketschalter, dahinter ein Kiosk und große, breite Treppen die Nach oben führten. Natürlich hingen auch überall Plakate für irgendwelche Filme. An einer Seite schien die Wand nur aus Glas zu sein – dort befand sich bestimmt kein einziger Kinosaal. Unter mir erstreckte sich ein blauer Teppichboden, der sauber und ordentlich erschien.
„Hier bin ich!“, hörte ich jemanden rufen und drehte mich, beinahe automatisch in die Richtung, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkam.
Dort hinten stand ein blonder Junge, in einem einfach Kapuzenshirt und Jeans, und winkte uns zu.
Jack, kombinierte ich.
Michael und Nikki, die wie üblich die Anführer unserer kleinen Gruppe geworden waren, winkten zurück und wir setzten uns alle in Bewegung um ihn zu erreichen.
Als wir schließlich bei ihm waren, nahm Michael ihm mit einem kurzen Grinsen die Tickets ab, und begann – zu meiner Verwunderung – sie zu mischen.
„Heute haben wir uns was Besonderes ausgedacht“, erklärte mir Nikki, „da wir ja alle Freunde sind und niemand irgendwen vorzieht, losen wir die Sitzplätze aus. Sie sind doch alle nebeneinander, oder Jack?“
Der blonde Junge nickte: „Und sogar hinten in der Loge!“
Da fiel mir etwas ein, voran ich zuvor noch gar nicht gedacht hatte – wer hatte überhaupt meinen Platz bezahlt?
„Nikki, wer hat für mich bezahlt?“, fragte ich.
„Das war ich, wer denn sonst?“, rief sie, fast schon stolz hervor, „Hat auch nur drei Dollar gekostet, oder so.“
Auf der Stelle begann ich in meiner großen Einkaufstüte zu kramen um an meinen Geldbeutel heranzukommen. Als ich ihn dann schließlich fand und einen Blick hinein warf reckten sich mir fünf mickrige Dollar entgegen – ansonsten war er vollkommen leer. Ich seufzte. Ich hatte heute so ziemlich alles gekauft, was wir für die nächste Woche benötigten und hatte mit dem Rest eigentlich vorgehabt, Sarah irgendein kleines Spielzeug zu kaufen – wie konnte ich es jetzt für mich benutzen? Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ein Kinobesuch Geld kosten würde? Aber ich konnte Nikki unmöglich einfach so stehen lassen – das Geld würde sie nicht mehr zurück bekommen. Dann würde ich Sarah eben ein Eis kaufen und den Rest sparen. Aber genießen würde ich diesen Film bestimmt nicht – nicht wenn ich mir mein Ticket so selbstsüchtig gekauft hatte, und dafür meine kleine Schwester zurückstecken musste.
„Hope, du musst doch nicht dafür bezahlen!“, meinte Nikki überrascht, als sie begriff, was ich mit meinem Geldbeutel vorhatte.
„Doch, muss ich. Ich kann dir unmöglich auf der Tasche liegen, Nikki“, erklärte ich bestimmter, als ich mich fühlte.
Nikki lächelte mich mitfühlend an. Sie wusste eigentlich nichts von den Verhältnissen in meiner Familie, aber sie schien mit der Zeit begriffen zu haben, dass wir nicht gerade reich waren.
„Das ist der Grund, aus dem ich dich so gerne mag“, erklärte Nikki und drückte mich erneut, „sieh es als… eine Entschuldigung dafür, dass ich dir letztes Jahr nichts zum Geburtstag geschenkt habe!“
Ich war leicht perplex. Nikki und Michael waren letztes Jahr – zufälliger Weise gleichzeitig – umgezogen und an meine alte Mittelschule gekommen. Das ganze war mitten im Jahr geschehen und nur wenige Tage vor meinem Geburtstag. Sie hatten damals beide überhaupt nicht wissen können, dass ich Geburtstag hatte, da ich schon seit Jahren keine Geburtstagsfeiern mehr veranstaltete, also auch keine Einladungen verteilte.
„Ni…“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich: „Keine Widerrede, Hope!“ und wandte sich ab, um sich ein Ticket zu ziehen, da Michael schon mit dem Verteilen angefangen hatte.
Verschämt lächelnd steckte ich meinen Geldbeutel wieder weg – wenn Nikki so drauf war, konnte man es einfach nicht ändern. Aber irgendwann würde ich mich schon irgendwie revanchieren.
„Hey, vergiss mich nicht!“, rief ich Michael fröhlich grinsend zu und griff nach einem Ticket, als er sich zu mir umdrehte.
„Hey, du hast den Randplatz, Hope!“, rief ein Junge hinter mir, als er mir über die Schulter spähte und die Zahlen auf meinem Ticket betrachtete.
„Und… wer sitzt neben mir?“, fragte ich, als ich feststellte, dass das bedeutete ich würde nur einen Sitznachbarn haben.
„Aaahh, lass mal sehen… Hey, wer hat den Platz neben dem Randplatz?“, rief der Junge in die Runde.
„Ich“, kam die relativ kurze Antwort hinter mir.
Überrascht drehten der Junge und ich mich gleichzeitig herum.
Kilian.
Das war ja wohl ein Scherz.
„Sieht so aus, als wolle das Schicksal, dass ihr für immer und ewig neben einander sitzt“, lachte ein Junge aus meiner Klasse und die Nachricht, dass Kilian und ich in der Schule nebeneinander saßen verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter denen, die es noch nicht wussten.
Die Jungs – und Nikki – fanden dass anscheinend sehr amüsant, während die meisten Mädchen dass offenbar… weniger lustig sahen.
Ich hab nichts gegen Kilian. Ganz ehrlich, dachte ich, als wir endlich alle im Kinosaal saßen. Die Lichter waren noch an, einige Lieder wurden abgespielt und im Allgemeinen herrschte ein ziemlich hoher Lautstärkepegel.
Aber zwischen Kilian und mir war es totenstill.
An Kilians anderer Seite saß Michael, der mehr als genug damit beschäftigt war sich mit 15 Leuten oder so gleichzeitig zu unterhalten.
„Was für ein Film genau schauen wir uns überhaupt an?“, fragte ich Kilian etwas schüchtern, fest entschlossen eine Unterhaltung einzuleiten – oder es zumindest zu versuchen.
„Ich habe keine Ahnung – meine Meinung war in der Minderheit“, antwortete er und sah mich mit seinen wunderschönen rot-braunen Augen an.
„Was für einen Film wolltest du denn sehen?“, fragte ich, interessiert daran, mehr über ihn zu erfahren.
„Einen Horrorfilm“, gab er als kurze Antwort.
„Wahrscheinlich keinen japanischen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Ich hatte eigentlich nicht so viel für Filme übrig. Sie waren so irreal. Aber Horrorfilme, die liebte ich. Vor allem japanische – sie waren einfach am besten und nicht so ein Hollywood-Schwachsinn.
„Doch“, antwortete er.
Überrascht wandte ich mich ihm zu. Ich kannte nicht viele Menschen, die japanische Horrorfilme mochten. Die meisten hatten gerade mal „The Ring“ und „The Grudge“ gesehen, und dachten sie wüssten schon alles, was es über japanischen Horror zu wissen gab. Aber das stimmte nicht – japanischer Horror hatte soviel mehr zu bieten als kleine seltsame Horrorkinder!
Und genau das sagte ich jetzt.
„Man muss sich mit Dingen schon ein bisschen mehr auskennen, bevor man sich eine Meinung bildet, aber das tun die wenigsten. Bei japanischen Horrorfilmen hat man so große Angst, weil der Film einem das Gefühl gibt, dass einen absolut nichts einen retten kann und man total hilflos ist. Außerdem stecken hinter japanischen Horrorfilmen meistens unglaubliche Geschichten, die man ich niemals selbst ausdenken oder auf sie kommen könnte und die trotzdem Sinn ergeben. Bei Hollywood-Filmen kann man schon bevor der Film anfängt alles erraten“, stimmte er mir zu.
„Was ja der wichtigste Unterschied ist, zumindest meiner Meinung nach sind was für Horrorfilme man meint. Es gibt diese widerlich Splatter-Filme, meistens mit Zombies, bei denen alles gut ist, solange nur ein paar Gedärme durch die Luft fliegen und es gibt…“, fing ich an meine Meinung zu verbreiten.
„… Filme, bei denen man immer nur erschreckt wird. Und dann gibt es eben noch diesen Horror, bei dem man absolut hilflos ist“, beendete Kilian meinen Satz.
Und so begannen wir ohne dass ich es bemerkte uns über Hollywood, Filme und Japan zu unterhalten.
Beinahe enttäuscht schloss ich meinen Mund und kehrte mich der Leinwand zu als die Lichter ausgingen und die Vorschau anfing.
Nach überraschend kurzer Werbung begann dann auch der Film.
Es war eine eher simpel gestrickte Story über einen Jungen, der nicht sonderlich beliebt war und sich – Überraschung! – in das beliebteste Mädchen der Schule verliebte. Dann half ihm seine beste Freundin für sie cooler zu werden. Der Junge wurde selbst zum beliebtesten Jungen der Schule und kam dann mit seiner besten Freundin zusammen.
Vorhersehbar, dachte ich und wandte meinen Kopf Kilian zu.
Überrascht stellte ich fest, dass er kicherte.
„Findest du das komisch?“, flüsterte ich ihm zu, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ihm das gefallen könnte.
„Versuch zu erraten was als nächstes passiert“, riet er mir.
Leicht verwirrt wandte ich mich dem Bildschirm zu. Der Film lief noch nicht lange, doch gerade jetzt lief die Schulschönheit durch die Flure während ihre Haare hinter ihr wehten, so als stände vor ihr ein riesiger Ventilator.
„Als nächstes… hm… knallt ihm die Tür des Schließfachs ins Gesicht und sie läuft direkt an ihm vorbei“, murmelte ich Kilian zu.
„KNALL!“, geschah genau das, was ich vorhergesagt hatte.
„Und jetzt wird seine beste Freundin vorgestellt – sie steht direkt hinter dem Schließfach und hat was von einem Emo, ist aber nicht wirklich einer“, flüsterte Kilian zurück – und hatte Recht.
„Und jetzt gehen sie zusammen ins Klassenzimmer und er wird irgendwie von den Footballspielern fertig gemacht und alle lachen ihn aus, während er auf dem Boden sitzt. Sie rät ihm dann sie zu ignorieren und hilft ihm auf“, fuhr er fort.
„Und dann wird sie irgendwie angemacht, wahrscheinlich als Emo beleidigt, aber verdreht nur die Augen!“, riet ich weiter und begann langsam Spaß an diesem Spiel zu haben.
„Und dann kommen sie ins Klassenzimmer und der Lehrer macht sich lächerlich“, fuhr Kilian fort.
Und so spannen wir die Geschichte immer weiter – und lagen nicht ein einziges Mal falsch.
Als der Film dann zu Ende war und sich unsere kleine Gruppe lachend in Wohlgefallen auflöste, verließen Kilian und ich zusammen das Kino und lachten noch über unser kleines Spiel.
Als wir uns dann schließlich trennten, und ich mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr, war ich mir hundertprozentig sicher – das war ein schöner Tag gewesen.
Als ich – es war schon dunkel – nach Hause kam, lag Sarah natürlich längst im Bett. Morgen würde sie sich beschweren, dass sie mich nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Doch in der Küche brannte noch Licht.
„Mom?“, öffnete ich die nur angelehnte Tür.
Da saß sie am Küchentisch beim flackernden Schein der alten Glühbirne und hatte mir den Rücken zugekehrt. Sie schien mich nicht zu bemerken – sie hatte doch nicht? Erschrocken zog ich die Luft ein und pfefferte die Einkaufstüte in eine Ecke. Dann ging ich mit entschlossenen Schritten auf sie zu, packte sie an der Schulter und drehte sie zu mir herum.
Eine Flasche Sekt in der Hand sah sie mich aus verschwommenen Augen an.
„Oh hick… hey…“, machte sie.
Wortlos packte ich die zu drei vierteln geleerte Flasche und entriss sie meiner Mutter.
„Du hast gesagt du würdest aufhören!“, sagte ich noch, während ich mich auf den Absätzen zum Fenster herumdrehte.
„Nein! Stopp, du widerliche Missge – hick – burt! Du grauenhaftes hick Kind! Gib sie mir wieder!“, schrie mich meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie sondern schritt immer mehr auf das Fenster zu.
KRACK! Machte es, als meine Mutter mich mit all ihrer betrunkenen Kraft auf den Hinterkopf schlug. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus und ich begann zu schwanken. Ganz egal wie viel Promille sie beeinflussten, schwach war meine Mutter nicht. Doch ich ignorierte auch das.
„Wegen hick dir hat er mich verlassen! Teufel! Dämon hick!“, schrie sie verzweifelt, stolperte beim Versuch mir hinterher zu torkeln und schlug der Länge nach hin.
Ich war endlich am Fenster angekommen. Hastig riss ich es auf und entleerte den kümmerlichen Rest des Inhaltes der Flasche in unseren Garten, während ich mich innerlich bei den Blumen entschuldigte.
Wieso hatte meine Mutter nur wieder ihn erwähnen müssen.
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann, aber wegen dir ist er weggerannt. Wer kann’s ihm auch verübeln bei so einem Monster von Tochter!“, schrie meine Mutter am Boden liegend weiter.
Ich blickte zu ihr herab und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt, aber ich fühlte mich jedes Mal aufs Neue hilflos wenn meine Mutter mir diese Dinge an den Kopf warf.
Dann begann sie plötzlich auf mich zu zukrabbeln. Besser gesagt kriechen, denn sie robbte am Boden entlang, ohne sich auch nur ein Stückchen aufzurichten.
„Mom…“, sagte ich und wollte einen Schritt auf sie zu machen, aber da war sie schon bei mir angekommen und klammerte sich überraschenderweise an meinem Bein fest.
Dann fing sie an zu weinen. Ich spürte wie die Tränen durch meine Hose langsam zu meinem Bein durchsickerten. So krallte sie sich an mir fest und schrie immer weiter:
„Mach dass er wieder kommt! Bring ihn zurück! Gib ihn mir wieder!“
Dann ging ihr Gebrüll in ersticktes Schluchzen über und sie schien immer schwerer zu werden. Langsam zog sie mich in Richtung Boden.
Ich war haltlos. Nicht nur, weil sie mich immer mehr hinunter zerrte. Ich fühlte mich allein. Woran sollte ich mich festhalten? An welchem Ort, an welchem Menschen? Dunkle Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus. Ich war allein. Es gab nichts, das mich sicherte. Nichts, das mir Halt gab.
Hilfe.
„Mrau!“, machte Sunny neben uns und betrachtete die eigenartige Szene, wie meine Mutter sich weinend an meinem Bein festhielt und ich mich mit dem Rücken in Richtung des immer noch geöffneten Fensters unbewusst an der Fensterbank abstützte.
Schluss jetzt! Ich war hier, jetzt war heute! Ich spürte die Gefühle, die mich so fertig gemacht hatten immer noch, aber gleichzeitig erkannte ich, dass ich, ganz egal was ich empfand, weiter machen würde müssen. Ich konnte Sarah und Mom nicht im Stich lassen. Meine Gefühle taten hier nichts zur Sache bei. Schlagartig wurden die Verzweiflung und die tiefe Sinnlosigkeit in mir dumpfer. Ich hatte zu tun!
„Mom, es ist okay“; sagte ich mitfühlend und beugte mich besorgt zu ihr herab, „er ist es nicht wert, dass du solche Tränen um ihn weinst.“
Meine Mutter zog die Nase hoch und blickte mich an. Die Tränen hatten gestoppt.
„Du kennst ihn doch kaum, woher willst du wissen was er wert ist und was nicht?“, fragte sie mich vorwurfsvoll.
„Das ist jetzt nicht so wichtig“, sagte ich verständnisvoll. Ich hatte oft genug versucht meiner Mutter zu erklären, dass ihr Mann uns eiskalt verlassen hatte, deswegen wusste ich, wie sinnlos es war.
„Wichtig ist, dass du stark sein musst. Wen schon nicht für dich und nicht für mich, dann sei es für Sarah. Sie ist erst fünf“, murmelte ich und lächelte meine Mutter melancholisch an.
„Geh jetzt ins Bett. Ich räume noch alles auf. Gute Nacht“, sagte ich und schob meine Mutter auf ihre Beine. Dann tätschelte ich ihren Kopf und drehte sie in Richtung ihres Schlafzimmers, ohne ihr Zeit für Widerrede zu lassen.
„Gute Nacht“, hickte sie, dann lief sie in ihren Raum. Ich würde später noch nach ihr sehen müssen. Aber jetzt hatte ich wichtigeres zu tun. Kaum hatte sich die Tür hinter meiner Mutter geschlossen fing ich auch schon an, Sunny etwas Futter in ihren Napf zu tun, ihr Wasser nachzufüllen und sie kurz zu streicheln. Dann räumte ich die Einkäufe aus der Tasche in die Schränke und ging in mein und Sarahs Zimmer.
Wie erwartet, da lag ein kleiner, in eine Decke eingewickelter Ball auf Sarahs Bett und zitterte.
„Sarah?“, fragte ich leicht besorgt. Es wäre auch zu schön gewesen wenn sie bei Moms Geschrei hätte weiterschlafen können.
„Hope, hassen du und Mom einander?“, fragte mich der Deckenknäuel.
„Was redest du für einen Unsinn? Mom und ich haben uns ganz doll lieb. Wir haben uns nur gestritten, weil… ich so lang weg war“, sagte ich zu meiner kleinen Schwester, während ich innerlich zu Gott betete, dass er mir diese Lüge verzeihen möchte und begann an dem Deckenball herumzufummeln um Sarah aus ihm herauszupollen.
„Wirklich?“, hörte ich ein kleines, ängstliches Stimmchen.
„Was denkst du denn? Natürlich – oder glaubst du ich lüge?“
Bitte Gott, vergib mir!
„Nein!“, rief Sarah und streckte den Kopf aus ihrem kleinen Versteck.
„Ich vertraue dir, Hope!“, rief sie und ihre kleinen, goldenen Engelslöckchen schwangen nur so in der Luft herum, als sie versuchte mir mit ihrem Gesicht klar zu machen, dass sie es ernst meinte.
Wie konnte ich diesen kleinen Engel nur belügen? Aber wie hätte ich ihr schon die Wahrheit sagen können?
„Dann geh jetzt schlafen – Mom und ich verstehen uns wieder und alles ist gut“, sagte ich und lächelte Sarah mit dem ehrlichsten Lächeln an, dass ich in dieser Situation zustande bringen konnte.
So strahlend hell wie die Sonne lächelte Sarah zurück und ich schaffte es endlich die Decke von ihr zu entfernen. Dann legte sie sich hin und ich warf die Decke wieder über sie.
„Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“, sagte ich und Sarah drückte ganz fest die Augen zusammen.
Dann verließ ich den Raum wieder – Zeit nach Mom zu sehen.
Als ich die Tür zu ihrem Raum öffnete, war alles dunkel. Ein gutes Zeichen.
Als meine Augen sich dann langsam an die Finsternis gewöhnten konnte ich erkennen, dass sich meine Mutter noch voll angezogen aufs Bett geworfen hatte und tief und fest schlief.
Erleichternd lächelnd zog ich ihr Schuhe und Socken aus – mindestens so viel musste sein – und deckte sie zu.
Danach ging ich aus ihrem Raum und schloss die Tür hinter mir. Und dann stand ich da. Allein, in unserer dunklen Wohnung. Sunny schien auch schlafen gegangen zu sein, denn dieses Mal unterbrach mich ihr „Mrau“ nicht.
Morgen würde Mom sich an nichts, das geschehen war erinnern. Sie würde nichts mehr von dem Alkohol wissen. Sie würde nicht wissen, was sie gesagt hatte. Und Sarah würde das Ganze als normal abstempeln und es aus ihrem Gedächtnis streichen, da sie es für unwichtig halten würde. Und wenn sie älter wurde, würde sie sich sowieso kaum noch an irgendwelche Erlebnisse aus ihrem fünften Lebensjahr erinnern. Im Großen und Ganzen würde ich wahrscheinlich morgen der einzige Mensch sein, der sich an das, was heute Abend geschehen war erinnerte. Ich seufzte.
Leicht deprimiert stieß ich mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und ging auf mein Zimmer zu – jetzt würde ich ins Bett gehen.
Zuerst musste ich einkaufen gehen – wir hatten so gut wie nichts mehr zu Essen zu Hause. Außerdem war auch das Katzenfutter für fast ausgegangen. Danach musste ich Lea meine Hausaufgaben vorbeibringen – zum Abschreiben, wie mir klar war. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich (wenn ich schon einmal da war) auch noch von mir verlangen irgendwelche Besorgungen zu machen. Solche Dinge wie Anti-Pickelcreme oder Binden konnte sie ja nicht selber kaufen. Das würde ihr „Image“ zerstören. Und dann wäre es wahrscheinlich auch schon an der Zeit, dass ich mich mit Michael, Nikki und diesen anderen Leuten am Kino traf.
Also schloss ich die Tür hinter mir ab und schwang mich im Morgengrauen aufs Fahrrad. Der Weg bis zum nächsten Supermarkt war relativ lang.
Das Einkaufen verlief relativ problemlos. War ja alles keine große Sache.
Aber schon als ich die Nähe von Leas Haus kam konnte ich hören wie jemand angewidert die Nase rümpfte. Überrascht blickte ich mich um – eigentlich hatte mich jeder der in diesem Gebiet der Reichen lebte schon mindestens einmal gesehen.
Oh, Neuankömmlinge.
An der Straßenseite standen dutzende von Möbelpackerwägen und überall schienen irgendwelche Arbeiter herumzufusseln, die alle schwer beschäftigt waren.
Und am Rand von alldem stand -sehr klischeehaft, aber wahr- eine junge Frau und schrie Dinge wie „Passen Sie bloß auf, dass Sie nichts kaputt machen!“
Und anscheinend war es auch diese Frau gewesen, die mich mit so verächtlichen Blicken bedacht hatte.
Und sie sah mich immer noch an, wie ich da auf meinem Fahrrad kurz gestoppt hatte, um dieses Haus zu bestaunen.
Wen Leas Haus groß war, dann war dieses hier riesig, nein monströs, nein gigantisch!
Es war mindestens fünfmal so groß, wenn nicht sogar noch mehr – es war wohl die größte Villa in der ganzen Gegend. Und hier waren alle Häuser in etwa zehnmal so groß wie normale Häuser.
Ganz egal, aber auf jeden Fall mussten diese Neuhinzugezogen verdammt reich sein um sich so etwas leisten zu können.
„Willst du was?“, schnauzte mich die Frau herablassend an. Auf keinen Fall war sie die „Frau des Hauses“. Sie war höchsten zwei Jahre älter als ich – noch nicht mal aus der Schule gekommen – obwohl... man hört ja immer wieder solche Geschichten… Aber nein. Das traute ich dieser Frau nicht zu.
„Äh nein, Entschuldigung!“, antwortete ich und machte mich schnell wieder auf den weg ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hatte ja eigentlich sowieso keine Zeit. Es war mittlerweile schon Mittag und nur noch 10 Minuten von der mit Lea verabredeten Zeit.
Als ich vor ihrem Haus vorfuhr und aus dem Sattel sprang schmiss ich mein Fahrrad schnell gegen die Mauer und rannte auf das große, schwere Eisentor zu.
Der Wachmann dort, der mich ja bereits kannte, nickte mir nur zu und öffnete das Tor für mich.
Ich warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu und rannte schnell auf die Tür zu.
Als ich den Klingelknopf drückte öffnete mir fast auf der Stelle eine Dienerin (was für ein dummer Beruf) die Tür und begrüßte mich. Sie erklärte mir auch, dass Lea in ihrem Zimmer auf mich warte.
Oh shit. Sie wartete. Das war alles andere als gut.
Schnell bedankte ich mich bei der Dienerin und rannte durch die Korridore in Richtung Leas Zimmer.
Als ich endlich vor der Tür angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf meine Uhr- es war knapp, aber ich war noch pünktlich.
Seufzend klopfte ich an – das ich eigentlich im Recht war würde mich vor Leas Zorn nicht schützen.
„HEREIN!“, kam die prompte und laute Antwort auf mein Klopfen.
„Hey, Lea, ich bin’s, Hope“, sagte ich, während ich vorsichtig die Tür öffnete, immer sorgfältig darauf bedacht sie als Schutzschild benutzen zu können, sollte mir etwas entgegenfliegen.
KRACH! Eine Blumenvase. Ich hatte glücklicherweise noch rechtzeitig reagiert, deswegen erwischten mich nur einige Scherben an meinem nicht bedeckten Arm, doch als ich ihn erschrocken und besorgt betrachtete konnte ich nur einen einzigen, kleinen Kratzer entdecken.
„WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH ERST SO SPÄT ZU KOMMEN?“, wurde ich auf der Stelle angeschrien, als ich mich endlich traute hinter der schützenden Tür hervorzutreten.
„Es tut mir leid.“
Ich versuchte gar nicht erst zu erklären, dass ich pünktlich war. Logik war Lea egal.
„Hast du die Hausaufgaben dabei?!“, schnauzte sie mich an.
„Ja, hier“, antwortete ich und zog aus der großen Einkaufstasche, die an meinem unverletzten Arm hing einige Hefte heraus.
„Gut – ich hab heute keine Zeit für dich, also schreib sie einfach in meine Hefte. Aber vergiss bloß nicht, deine Schrift zu verstellen!“
Ich nickte, aber ich konnte mir eine Frage einfach nicht verkneifen: „Wo gehst du denn hin?“
„Mph“, machte Lea verächtlich, „meine Eltern wollen, dass ich die neuen Nachbarn mit ihnen begrüße.“
„Oh, viel Spaß!“, meinte ich, während ich mich langsam in Leas Zimmer vortraute um mich and den Schreibtisch zu setzen und ihr die Hausaufgaben abzuschreiben.
„Viel Spaß? HA! Aber den werde ich schon noch haben. Ich gehe danach noch mit ein paar Freundinnen shoppen, also verziehst du dich einfach, wenn du fertig bist, verstanden?“
„Ja“, sagte ich, setzte mich an ihren Schreibtisch und begann zu arbeiten.
„Gut, dann bis Montag“, verabschiedete Lea sich, während sie sich von ihrem Bett erhob und das Zimmer verlies.
Nachdem sie gegangen war arbeitete ich seufzend weiter – dass war Leas Bestrafung dafür, dass ich „zu spät“ gekommen war.
Das Abschreiben alleine hätte ja wahrscheinlich schon mehr als lange genug gedauert, aber dann auch noch die ganze Zeit über die eigene Schrift zu verstellen war wirklich anstrengend.
Dennoch war ich nach nur drei Stunden fertig – gerade noch genug Zeit, um pünktlich zum Kino zu kommen.
Also schmiss ich schnell alle meine Hefte in meine Tüte und rannte wieder aus dem Haus, am Wachmann vorbei zu meinem Fahrrad.
Als ich schließlich (mit gerade mal fünf Minuten Verspätung) am Kino ankam, waren alle anderen schon da.
Da waren natürlich Nikki und Michael, aber auch zahllose Leute aus meiner alten Mittelschule. Außerdem auch einige aus meiner Klasse. Jungen wie Mädchen – sie alle hatten ihre Gründe. Für die Meisten waren diese allerdings höchstwahrscheinlich Nikki oder Michael selbst, denn beide waren verdammt gut aussehend.
Ich passte eigentlich überhaupt nicht zu ihnen.
Was mich aber an der Gruppe am meisten erstaunte war eine einzige Person, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Kilian.
Er stand ganz am Rand der Gruppe, und gleichzeitig schienen doch alle Blicke auf ihn gerichtet.
Als ich endlich bei ihnen ankam (mein Fahrrad hatte ich schon abgestellt) sprang mir Nikki wie üblich um den Hals.
„Hope, du bist zu spät!“, beschwerte sie sich in ihrem kindischen Schmollton, den sie nur zum Spaß anlegte.
„Tut mir leid, ich…war beschäftigt“, murmelte ich zur Entschuldigung.
„Was, Hope, was ist dir wichtiger als ich?“, machte Nikki grinsend weiter.
„Alles“, antwortete ich eiskalt, „welchen Film sehen wir uns überhaupt an?“
„NICHT KOMISCH, HOPE!!“, schrie Nikki mir ins Ohr.
„Schon gut, schon gut, du bist das Wichtigste überhaupt“, gab ich nach.
„Na geht doch“, murmelte Nikki zufrieden und lies mich los.
„Und wir schauen uns eine Komödie an“, gab mir Michael auf meine Frage zur Antwort.
„Ein Liebesfilm würde nur uns Mädchen gefallen, und auf Horror haben wir nicht wirklich Lust“, erklärte mir ein Mädchen aus meiner Mittelschule – Melinda, wenn ich mich nicht irrte.
„Jack ist schon Tickets kaufen gegangen“, meinte ein Junge aus meiner Klasse, denn ich nun überhaupt nicht kannte – und wer war Jack?
Wir betraten das Kino, das so ziemlich aussah wie jedes andere Kino auch – ein große Vorhalle, der Ticketschalter, dahinter ein Kiosk und große, breite Treppen die Nach oben führten. Natürlich hingen auch überall Plakate für irgendwelche Filme. An einer Seite schien die Wand nur aus Glas zu sein – dort befand sich bestimmt kein einziger Kinosaal. Unter mir erstreckte sich ein blauer Teppichboden, der sauber und ordentlich erschien.
„Hier bin ich!“, hörte ich jemanden rufen und drehte mich, beinahe automatisch in die Richtung, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkam.
Dort hinten stand ein blonder Junge, in einem einfach Kapuzenshirt und Jeans, und winkte uns zu.
Jack, kombinierte ich.
Michael und Nikki, die wie üblich die Anführer unserer kleinen Gruppe geworden waren, winkten zurück und wir setzten uns alle in Bewegung um ihn zu erreichen.
Als wir schließlich bei ihm waren, nahm Michael ihm mit einem kurzen Grinsen die Tickets ab, und begann – zu meiner Verwunderung – sie zu mischen.
„Heute haben wir uns was Besonderes ausgedacht“, erklärte mir Nikki, „da wir ja alle Freunde sind und niemand irgendwen vorzieht, losen wir die Sitzplätze aus. Sie sind doch alle nebeneinander, oder Jack?“
Der blonde Junge nickte: „Und sogar hinten in der Loge!“
Da fiel mir etwas ein, voran ich zuvor noch gar nicht gedacht hatte – wer hatte überhaupt meinen Platz bezahlt?
„Nikki, wer hat für mich bezahlt?“, fragte ich.
„Das war ich, wer denn sonst?“, rief sie, fast schon stolz hervor, „Hat auch nur drei Dollar gekostet, oder so.“
Auf der Stelle begann ich in meiner großen Einkaufstüte zu kramen um an meinen Geldbeutel heranzukommen. Als ich ihn dann schließlich fand und einen Blick hinein warf reckten sich mir fünf mickrige Dollar entgegen – ansonsten war er vollkommen leer. Ich seufzte. Ich hatte heute so ziemlich alles gekauft, was wir für die nächste Woche benötigten und hatte mit dem Rest eigentlich vorgehabt, Sarah irgendein kleines Spielzeug zu kaufen – wie konnte ich es jetzt für mich benutzen? Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ein Kinobesuch Geld kosten würde? Aber ich konnte Nikki unmöglich einfach so stehen lassen – das Geld würde sie nicht mehr zurück bekommen. Dann würde ich Sarah eben ein Eis kaufen und den Rest sparen. Aber genießen würde ich diesen Film bestimmt nicht – nicht wenn ich mir mein Ticket so selbstsüchtig gekauft hatte, und dafür meine kleine Schwester zurückstecken musste.
„Hope, du musst doch nicht dafür bezahlen!“, meinte Nikki überrascht, als sie begriff, was ich mit meinem Geldbeutel vorhatte.
„Doch, muss ich. Ich kann dir unmöglich auf der Tasche liegen, Nikki“, erklärte ich bestimmter, als ich mich fühlte.
Nikki lächelte mich mitfühlend an. Sie wusste eigentlich nichts von den Verhältnissen in meiner Familie, aber sie schien mit der Zeit begriffen zu haben, dass wir nicht gerade reich waren.
„Das ist der Grund, aus dem ich dich so gerne mag“, erklärte Nikki und drückte mich erneut, „sieh es als… eine Entschuldigung dafür, dass ich dir letztes Jahr nichts zum Geburtstag geschenkt habe!“
Ich war leicht perplex. Nikki und Michael waren letztes Jahr – zufälliger Weise gleichzeitig – umgezogen und an meine alte Mittelschule gekommen. Das ganze war mitten im Jahr geschehen und nur wenige Tage vor meinem Geburtstag. Sie hatten damals beide überhaupt nicht wissen können, dass ich Geburtstag hatte, da ich schon seit Jahren keine Geburtstagsfeiern mehr veranstaltete, also auch keine Einladungen verteilte.
„Ni…“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich: „Keine Widerrede, Hope!“ und wandte sich ab, um sich ein Ticket zu ziehen, da Michael schon mit dem Verteilen angefangen hatte.
Verschämt lächelnd steckte ich meinen Geldbeutel wieder weg – wenn Nikki so drauf war, konnte man es einfach nicht ändern. Aber irgendwann würde ich mich schon irgendwie revanchieren.
„Hey, vergiss mich nicht!“, rief ich Michael fröhlich grinsend zu und griff nach einem Ticket, als er sich zu mir umdrehte.
„Hey, du hast den Randplatz, Hope!“, rief ein Junge hinter mir, als er mir über die Schulter spähte und die Zahlen auf meinem Ticket betrachtete.
„Und… wer sitzt neben mir?“, fragte ich, als ich feststellte, dass das bedeutete ich würde nur einen Sitznachbarn haben.
„Aaahh, lass mal sehen… Hey, wer hat den Platz neben dem Randplatz?“, rief der Junge in die Runde.
„Ich“, kam die relativ kurze Antwort hinter mir.
Überrascht drehten der Junge und ich mich gleichzeitig herum.
Kilian.
Das war ja wohl ein Scherz.
„Sieht so aus, als wolle das Schicksal, dass ihr für immer und ewig neben einander sitzt“, lachte ein Junge aus meiner Klasse und die Nachricht, dass Kilian und ich in der Schule nebeneinander saßen verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter denen, die es noch nicht wussten.
Die Jungs – und Nikki – fanden dass anscheinend sehr amüsant, während die meisten Mädchen dass offenbar… weniger lustig sahen.
Ich hab nichts gegen Kilian. Ganz ehrlich, dachte ich, als wir endlich alle im Kinosaal saßen. Die Lichter waren noch an, einige Lieder wurden abgespielt und im Allgemeinen herrschte ein ziemlich hoher Lautstärkepegel.
Aber zwischen Kilian und mir war es totenstill.
An Kilians anderer Seite saß Michael, der mehr als genug damit beschäftigt war sich mit 15 Leuten oder so gleichzeitig zu unterhalten.
„Was für ein Film genau schauen wir uns überhaupt an?“, fragte ich Kilian etwas schüchtern, fest entschlossen eine Unterhaltung einzuleiten – oder es zumindest zu versuchen.
„Ich habe keine Ahnung – meine Meinung war in der Minderheit“, antwortete er und sah mich mit seinen wunderschönen rot-braunen Augen an.
„Was für einen Film wolltest du denn sehen?“, fragte ich, interessiert daran, mehr über ihn zu erfahren.
„Einen Horrorfilm“, gab er als kurze Antwort.
„Wahrscheinlich keinen japanischen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Ich hatte eigentlich nicht so viel für Filme übrig. Sie waren so irreal. Aber Horrorfilme, die liebte ich. Vor allem japanische – sie waren einfach am besten und nicht so ein Hollywood-Schwachsinn.
„Doch“, antwortete er.
Überrascht wandte ich mich ihm zu. Ich kannte nicht viele Menschen, die japanische Horrorfilme mochten. Die meisten hatten gerade mal „The Ring“ und „The Grudge“ gesehen, und dachten sie wüssten schon alles, was es über japanischen Horror zu wissen gab. Aber das stimmte nicht – japanischer Horror hatte soviel mehr zu bieten als kleine seltsame Horrorkinder!
Und genau das sagte ich jetzt.
„Man muss sich mit Dingen schon ein bisschen mehr auskennen, bevor man sich eine Meinung bildet, aber das tun die wenigsten. Bei japanischen Horrorfilmen hat man so große Angst, weil der Film einem das Gefühl gibt, dass einen absolut nichts einen retten kann und man total hilflos ist. Außerdem stecken hinter japanischen Horrorfilmen meistens unglaubliche Geschichten, die man ich niemals selbst ausdenken oder auf sie kommen könnte und die trotzdem Sinn ergeben. Bei Hollywood-Filmen kann man schon bevor der Film anfängt alles erraten“, stimmte er mir zu.
„Was ja der wichtigste Unterschied ist, zumindest meiner Meinung nach sind was für Horrorfilme man meint. Es gibt diese widerlich Splatter-Filme, meistens mit Zombies, bei denen alles gut ist, solange nur ein paar Gedärme durch die Luft fliegen und es gibt…“, fing ich an meine Meinung zu verbreiten.
„… Filme, bei denen man immer nur erschreckt wird. Und dann gibt es eben noch diesen Horror, bei dem man absolut hilflos ist“, beendete Kilian meinen Satz.
Und so begannen wir ohne dass ich es bemerkte uns über Hollywood, Filme und Japan zu unterhalten.
Beinahe enttäuscht schloss ich meinen Mund und kehrte mich der Leinwand zu als die Lichter ausgingen und die Vorschau anfing.
Nach überraschend kurzer Werbung begann dann auch der Film.
Es war eine eher simpel gestrickte Story über einen Jungen, der nicht sonderlich beliebt war und sich – Überraschung! – in das beliebteste Mädchen der Schule verliebte. Dann half ihm seine beste Freundin für sie cooler zu werden. Der Junge wurde selbst zum beliebtesten Jungen der Schule und kam dann mit seiner besten Freundin zusammen.
Vorhersehbar, dachte ich und wandte meinen Kopf Kilian zu.
Überrascht stellte ich fest, dass er kicherte.
„Findest du das komisch?“, flüsterte ich ihm zu, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ihm das gefallen könnte.
„Versuch zu erraten was als nächstes passiert“, riet er mir.
Leicht verwirrt wandte ich mich dem Bildschirm zu. Der Film lief noch nicht lange, doch gerade jetzt lief die Schulschönheit durch die Flure während ihre Haare hinter ihr wehten, so als stände vor ihr ein riesiger Ventilator.
„Als nächstes… hm… knallt ihm die Tür des Schließfachs ins Gesicht und sie läuft direkt an ihm vorbei“, murmelte ich Kilian zu.
„KNALL!“, geschah genau das, was ich vorhergesagt hatte.
„Und jetzt wird seine beste Freundin vorgestellt – sie steht direkt hinter dem Schließfach und hat was von einem Emo, ist aber nicht wirklich einer“, flüsterte Kilian zurück – und hatte Recht.
„Und jetzt gehen sie zusammen ins Klassenzimmer und er wird irgendwie von den Footballspielern fertig gemacht und alle lachen ihn aus, während er auf dem Boden sitzt. Sie rät ihm dann sie zu ignorieren und hilft ihm auf“, fuhr er fort.
„Und dann wird sie irgendwie angemacht, wahrscheinlich als Emo beleidigt, aber verdreht nur die Augen!“, riet ich weiter und begann langsam Spaß an diesem Spiel zu haben.
„Und dann kommen sie ins Klassenzimmer und der Lehrer macht sich lächerlich“, fuhr Kilian fort.
Und so spannen wir die Geschichte immer weiter – und lagen nicht ein einziges Mal falsch.
Als der Film dann zu Ende war und sich unsere kleine Gruppe lachend in Wohlgefallen auflöste, verließen Kilian und ich zusammen das Kino und lachten noch über unser kleines Spiel.
Als wir uns dann schließlich trennten, und ich mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr, war ich mir hundertprozentig sicher – das war ein schöner Tag gewesen.
Als ich – es war schon dunkel – nach Hause kam, lag Sarah natürlich längst im Bett. Morgen würde sie sich beschweren, dass sie mich nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Doch in der Küche brannte noch Licht.
„Mom?“, öffnete ich die nur angelehnte Tür.
Da saß sie am Küchentisch beim flackernden Schein der alten Glühbirne und hatte mir den Rücken zugekehrt. Sie schien mich nicht zu bemerken – sie hatte doch nicht? Erschrocken zog ich die Luft ein und pfefferte die Einkaufstüte in eine Ecke. Dann ging ich mit entschlossenen Schritten auf sie zu, packte sie an der Schulter und drehte sie zu mir herum.
Eine Flasche Sekt in der Hand sah sie mich aus verschwommenen Augen an.
„Oh hick… hey…“, machte sie.
Wortlos packte ich die zu drei vierteln geleerte Flasche und entriss sie meiner Mutter.
„Du hast gesagt du würdest aufhören!“, sagte ich noch, während ich mich auf den Absätzen zum Fenster herumdrehte.
„Nein! Stopp, du widerliche Missge – hick – burt! Du grauenhaftes hick Kind! Gib sie mir wieder!“, schrie mich meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie sondern schritt immer mehr auf das Fenster zu.
KRACK! Machte es, als meine Mutter mich mit all ihrer betrunkenen Kraft auf den Hinterkopf schlug. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus und ich begann zu schwanken. Ganz egal wie viel Promille sie beeinflussten, schwach war meine Mutter nicht. Doch ich ignorierte auch das.
„Wegen hick dir hat er mich verlassen! Teufel! Dämon hick!“, schrie sie verzweifelt, stolperte beim Versuch mir hinterher zu torkeln und schlug der Länge nach hin.
Ich war endlich am Fenster angekommen. Hastig riss ich es auf und entleerte den kümmerlichen Rest des Inhaltes der Flasche in unseren Garten, während ich mich innerlich bei den Blumen entschuldigte.
Wieso hatte meine Mutter nur wieder ihn erwähnen müssen.
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann, aber wegen dir ist er weggerannt. Wer kann’s ihm auch verübeln bei so einem Monster von Tochter!“, schrie meine Mutter am Boden liegend weiter.
Ich blickte zu ihr herab und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt, aber ich fühlte mich jedes Mal aufs Neue hilflos wenn meine Mutter mir diese Dinge an den Kopf warf.
Dann begann sie plötzlich auf mich zu zukrabbeln. Besser gesagt kriechen, denn sie robbte am Boden entlang, ohne sich auch nur ein Stückchen aufzurichten.
„Mom…“, sagte ich und wollte einen Schritt auf sie zu machen, aber da war sie schon bei mir angekommen und klammerte sich überraschenderweise an meinem Bein fest.
Dann fing sie an zu weinen. Ich spürte wie die Tränen durch meine Hose langsam zu meinem Bein durchsickerten. So krallte sie sich an mir fest und schrie immer weiter:
„Mach dass er wieder kommt! Bring ihn zurück! Gib ihn mir wieder!“
Dann ging ihr Gebrüll in ersticktes Schluchzen über und sie schien immer schwerer zu werden. Langsam zog sie mich in Richtung Boden.
Ich war haltlos. Nicht nur, weil sie mich immer mehr hinunter zerrte. Ich fühlte mich allein. Woran sollte ich mich festhalten? An welchem Ort, an welchem Menschen? Dunkle Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus. Ich war allein. Es gab nichts, das mich sicherte. Nichts, das mir Halt gab.
Hilfe.
„Mrau!“, machte Sunny neben uns und betrachtete die eigenartige Szene, wie meine Mutter sich weinend an meinem Bein festhielt und ich mich mit dem Rücken in Richtung des immer noch geöffneten Fensters unbewusst an der Fensterbank abstützte.
Schluss jetzt! Ich war hier, jetzt war heute! Ich spürte die Gefühle, die mich so fertig gemacht hatten immer noch, aber gleichzeitig erkannte ich, dass ich, ganz egal was ich empfand, weiter machen würde müssen. Ich konnte Sarah und Mom nicht im Stich lassen. Meine Gefühle taten hier nichts zur Sache bei. Schlagartig wurden die Verzweiflung und die tiefe Sinnlosigkeit in mir dumpfer. Ich hatte zu tun!
„Mom, es ist okay“; sagte ich mitfühlend und beugte mich besorgt zu ihr herab, „er ist es nicht wert, dass du solche Tränen um ihn weinst.“
Meine Mutter zog die Nase hoch und blickte mich an. Die Tränen hatten gestoppt.
„Du kennst ihn doch kaum, woher willst du wissen was er wert ist und was nicht?“, fragte sie mich vorwurfsvoll.
„Das ist jetzt nicht so wichtig“, sagte ich verständnisvoll. Ich hatte oft genug versucht meiner Mutter zu erklären, dass ihr Mann uns eiskalt verlassen hatte, deswegen wusste ich, wie sinnlos es war.
„Wichtig ist, dass du stark sein musst. Wen schon nicht für dich und nicht für mich, dann sei es für Sarah. Sie ist erst fünf“, murmelte ich und lächelte meine Mutter melancholisch an.
„Geh jetzt ins Bett. Ich räume noch alles auf. Gute Nacht“, sagte ich und schob meine Mutter auf ihre Beine. Dann tätschelte ich ihren Kopf und drehte sie in Richtung ihres Schlafzimmers, ohne ihr Zeit für Widerrede zu lassen.
„Gute Nacht“, hickte sie, dann lief sie in ihren Raum. Ich würde später noch nach ihr sehen müssen. Aber jetzt hatte ich wichtigeres zu tun. Kaum hatte sich die Tür hinter meiner Mutter geschlossen fing ich auch schon an, Sunny etwas Futter in ihren Napf zu tun, ihr Wasser nachzufüllen und sie kurz zu streicheln. Dann räumte ich die Einkäufe aus der Tasche in die Schränke und ging in mein und Sarahs Zimmer.
Wie erwartet, da lag ein kleiner, in eine Decke eingewickelter Ball auf Sarahs Bett und zitterte.
„Sarah?“, fragte ich leicht besorgt. Es wäre auch zu schön gewesen wenn sie bei Moms Geschrei hätte weiterschlafen können.
„Hope, hassen du und Mom einander?“, fragte mich der Deckenknäuel.
„Was redest du für einen Unsinn? Mom und ich haben uns ganz doll lieb. Wir haben uns nur gestritten, weil… ich so lang weg war“, sagte ich zu meiner kleinen Schwester, während ich innerlich zu Gott betete, dass er mir diese Lüge verzeihen möchte und begann an dem Deckenball herumzufummeln um Sarah aus ihm herauszupollen.
„Wirklich?“, hörte ich ein kleines, ängstliches Stimmchen.
„Was denkst du denn? Natürlich – oder glaubst du ich lüge?“
Bitte Gott, vergib mir!
„Nein!“, rief Sarah und streckte den Kopf aus ihrem kleinen Versteck.
„Ich vertraue dir, Hope!“, rief sie und ihre kleinen, goldenen Engelslöckchen schwangen nur so in der Luft herum, als sie versuchte mir mit ihrem Gesicht klar zu machen, dass sie es ernst meinte.
Wie konnte ich diesen kleinen Engel nur belügen? Aber wie hätte ich ihr schon die Wahrheit sagen können?
„Dann geh jetzt schlafen – Mom und ich verstehen uns wieder und alles ist gut“, sagte ich und lächelte Sarah mit dem ehrlichsten Lächeln an, dass ich in dieser Situation zustande bringen konnte.
So strahlend hell wie die Sonne lächelte Sarah zurück und ich schaffte es endlich die Decke von ihr zu entfernen. Dann legte sie sich hin und ich warf die Decke wieder über sie.
„Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“, sagte ich und Sarah drückte ganz fest die Augen zusammen.
Dann verließ ich den Raum wieder – Zeit nach Mom zu sehen.
Als ich die Tür zu ihrem Raum öffnete, war alles dunkel. Ein gutes Zeichen.
Als meine Augen sich dann langsam an die Finsternis gewöhnten konnte ich erkennen, dass sich meine Mutter noch voll angezogen aufs Bett geworfen hatte und tief und fest schlief.
Erleichternd lächelnd zog ich ihr Schuhe und Socken aus – mindestens so viel musste sein – und deckte sie zu.
Danach ging ich aus ihrem Raum und schloss die Tür hinter mir. Und dann stand ich da. Allein, in unserer dunklen Wohnung. Sunny schien auch schlafen gegangen zu sein, denn dieses Mal unterbrach mich ihr „Mrau“ nicht.
Morgen würde Mom sich an nichts, das geschehen war erinnern. Sie würde nichts mehr von dem Alkohol wissen. Sie würde nicht wissen, was sie gesagt hatte. Und Sarah würde das Ganze als normal abstempeln und es aus ihrem Gedächtnis streichen, da sie es für unwichtig halten würde. Und wenn sie älter wurde, würde sie sich sowieso kaum noch an irgendwelche Erlebnisse aus ihrem fünften Lebensjahr erinnern. Im Großen und Ganzen würde ich wahrscheinlich morgen der einzige Mensch sein, der sich an das, was heute Abend geschehen war erinnerte. Ich seufzte.
Leicht deprimiert stieß ich mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und ging auf mein Zimmer zu – jetzt würde ich ins Bett gehen.
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Kilian - Kapitel 2
am Samstag, 5. November 2011, 03:35 im Topic 'Kilian'
Leise, aber schrill, pfiff mir mein Wecker ins Ohr.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.
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Kilian - Kapitel 1
am Samstag, 5. November 2011, 03:32 im Topic 'Kilian'
„Nun hör schon auf“, versuchte ich Lea noch einmal zu trösten.
„I…ich ka…kann nicht…“, schniefte sie erneut und der Sturzbach Tränen, den wir nun schon seit mindestens einer Stunde zu stillen versuchten, strömte ungehindert weiter.
„Ich habe ihn jetzt schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, und ich kann mir einfach nicht erklären, wo er so plötzlich ohne jede Vorwarnung hin verschwunden sein soll!“, schrie sie mich in einem plötzlichen kurzen Anfall von Wut an, der auch die Tränen versiegen lies.
Erschrocken zuckte ich ein Stück nach hinten und fiel in die warmen weichen Bezüge von Leas Bett zurück, das vielleicht sogar etwas überladen war mit all den Kissen und Decken. Aber es passte in ihr ansonsten sehr mädchenhaft eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Boy-Groups und Bands, die mir nichts sagten, zutapeziert und ansonsten mit Regalen, die absolut mit Schmuck, Krimskrams und Bildern von irgendwelchen Jungen, die mir Lea wahrscheinlich irgendwann auch einmal vorgestellt hatte, vollgestopft waren, versperrt.
Natürlich war alles außer dem schneeweißen Bett in Lila- und Schwarztönen gehalten, so wie es heute in Mode war.
„Ich bin mir sicher, dass Nate irgendeinen wirklich verdammt guten Grund hat einfach so zu verschwinden. Vielleicht ist ein Verwandter gestorben, oder seine Familie musste sonst irgendwo hin“, war die beste Erklärung die mir für diese Situation einfiel.
Oder aber er will dich nicht als seine Freundin haben, dachte ich halbherzig, obwohl ich in Wirklichkeit wusste, dass das vollkommen unmöglich war.
Lea und Nate waren nach einer langen, komplizierten Zeit, in der es Phasen gab, in denen sie Freunde waren, Phasen, in denen sie sich hassten, Phasen, in denen sie ihre Gefühle nicht verstanden und Phasen, in denen sie sich liebten, endlich zusammengekommen. Mir war klar, dass sie nur so lange nicht ein Paar geworden waren, weil sich immer wieder Missverständnisse und Probleme, wie ihre Ex-Freunde und ihre etwas schwer zu verstehende Art ihre Sympathie zu zeigen, eingemischt hatten.
„Sogar wenn er seinen besten Freund verloren hätte, könnte er doch immer noch anrufen!“, brüllte mich Lea erneut an. Von wegen kurzer Anfall.
„Du hast ja irgendwie recht, aber vielleicht ist er auch einfach nur zu traurig um sich gerade mit irgendwelchen Menschen abzugeben“
Blitzschnell drehte sich Leas Kopf in meine Richtung und ein scharfer Blick traf mich.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch nicht irgendjemand! Ich bin seine Freundin! Und mit mir abgeben tut er sich auch nicht! Höchstens ich mich mit ihm!“
Oh shit, dachte ich. Da hatte ich doch glatt einen Wunden Punkt getroffen.
Ich wusste genau, dass die beiden nicht aus Liebe miteinander ausgingen, sondern weil es passte. Lea war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte dunkelbraune Haare (natürlich geglättet), haselnussbraune Augen, den perfekten Körper und einen noch perfekteren Modegeschmack. Außerdem schien sie auch einen idealen Charakter zu besitzen. Na ja, zumindest für Menschen, die sie nicht so gut kannten wie ich.
Nate dagegen war der wohl coolste Junge der Schule. Er war sportlich, stark, hatte ganz akzeptable Noten und sah mit seinen hellbraunen Haaren, seinen grünen Augen und seinem dezenten Sixpack einfach abartig gut aus. Noch dazu hatte er eine ähnlich gute Persönlichkeit wie Lea.
Es war klar gewesen, dass die beiden früher oder später zusammenkommen mussten. Und jetzt bewunderte natürlich die ganze Schule dieses „Traumpaar“. Alle außer mir.
Ich kannte Lea schon seit der Grundschule und wusste alles über sie, von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihrem ersten Freund (der Junge hatte den Wettstreit um diesen Titel nur mit zwei Wochen Vorsprung geschafft – dann hatte sie schon ihren Zweiten). Ich war es auch die gesehen hatte, wie sie ihre Eltern wochenlang bearbeitete nur um längere Ausgehzeiten zu bekommen. Ich war es auch, die miterlebt hatte, wie sie in der Mittelschule ein Mädchen, das es gewagt hatte ihren Freund zu stehlen, solange psychisch mobbte, bis es schließlich aufgab und die Schule wechselte. Ich wusste noch genau, wie gern ich dem Mädchen damals geholfen hätte und wie sehr ich es probiert hatte. Doch ich konnte noch nie gut mit Psychospielchen, die die meisten Mädchen beherrschten, umgehen. Ich erinnerte mich an die zahllosen Versuche, dem Mädchen zu zeigen, dass ich ihre Freundin war. Doch sie hatte immer nur gedacht, ich wolle ihr nur näher kommen um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Aber ich wusste auch, voran das lag. Ich galt als gute Freundin von Lea. Dabei verbrachte ich nur so viel Zeit mit ihr, wegen meiner Familie. Mein Vater war abgehauen, als ich kaum einmal zehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt von Sarah, meiner kleinen Schwester. Meine Mutter, die bis dahin zusammen mit ihm eine Filiale von Your Shopping Center führte, hatte damals angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen, während ich begonnen hatte, mich als Babysitter um Sarah zu kümmern und den Haushalt zu schmeißen. Eine Zeit lang war das Ganze auch gut gegangen, bis die Eltern von Lea, die Besitzer der Einkaufskette Your Shopping Center bemerkten, dass die Einnahmen zurückgingen. Sie lebten durch Zufall (was für eine grausame Welt) in der Nähe und hatten bald alles herausgefunden. Aus Gründen, die ich zunächst nicht verstand, halfen sie uns damals aus der Patsche und bezahlten für den Entzug meiner Mutter.
Zuerst war ich unendlich glücklich. Ich dachte, Gott hätte sich uns gegenüber gnädig gezeigt und war unfassbar dankbar gewesen. Bis sie dann, keine zwei Wochen später, anfingen, die Schulden einfordern zu wollen. Meine Mutter fing an, wie eine Verrückte zu schuften. Sie arbeitete mittlerweile sieben tage die Woche, und ich sah sie fast nie mehr schlafen, dafür aber umso öfter Geschäftspapiere mit nach Hause nehmen, um noch länger zu arbeiten.
In diesem Zeitraum, ich war gerade elf geworden, stellten sie mir Lea vor. Zu diesem Zeitpunkt sah ich es auf der Stelle. Ich sah, dass Lea arrogant und selbstsüchtig war. Ein Mensch, der immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte. Damals war sie aber noch blond, mit gelockten Haaren, und sie trug öfter Kleider. Sie sah wirklich niedlich aus.
An diesem Tag hatten ihre Eltern beschlossen, dass ich mich um Lea kümmern sollte, da sie selbst keine Zeit hatten, und man dass mit der Tochter von einem Schuldner schon machen konnte.
Zuerst wollte ich nicht mitgehen, aber meine Mutter befahl es mir, und ich gehorchte.
Wir gingen in den Park, um Ball zu spielen. Zuerst ging alles auch noch ganz gut. Wir warfen den Ball hin und her und ich hatte sogar etwas Spaß. Fast hätte ich gedacht ich hätte mich in Lea getäuscht. Bis sie dann irgendwann rief: „Ich bin müde und das Spiel ist langweilig! Ich will was anderes machen!“
Ich stimmte zu und fragte sie, was sie denn tun wolle.
„Ich will ein Eis!“, verlangte sie.
Als ich zuerst nicht begriff, was sie denn nun wolle und sie nur verständnislos anstarrte, wurde sie wütend.
„Na los, hol mir eines!“
„Kannst du dir denn nicht selbst eines holen?“, fragte ich verdutzt.
„Bist du bekloppt? Wieso sollte ich mir selbst eines holen, wenn du da bist?“, antwortete sie vor Wut kochend.
Schließlich gab ich auf: „Gut gib mir das Geld und ich such einen Eisladen.“
„Wieso sollte ich dir Geld geben? Nimm gefälligst dein eigenes!“
Langsam hatte Lea wirklich genug.
Als ich verwirrt zu einem Widerspruch ansetzen wollte, stoppte sie mich mit einem einzigen Blick und ich lief schnell los um den nächstbesten Eisladen aufzusuchen.
Was mir damals noch nicht aufgefallen war, ich aber heute wusste war, dass sich Lea nur in meiner Gegenwart so benahm. Sobald jemand anderes oder ein Erwachsener dabei waren, wurde sie wieder lieb und nett. Das konnte man nun mal mit der Tochter einer Untergebenen machen. Allerdings erfuhr so auch nie jemand etwas über ihren wahren Charakter.
Vielleicht hatte sich meine Mutter deswegen am nächsten Tag so gefreut:
„Hope, du wirst es nicht glauben, aber dieses hübsche Mädchen von gestern, du weißt sicher wenn ich meine, will heute noch mal mit dir spielen!“, hatte sie freudig gerufen, als ich von der Schule nach Hause kam.
Wie ein Engel strahlend war sie damals schon vor dem Hauseingang gestanden, als sie auf mich wartete um mich mit offenen Armen zu empfangen.
„Mom – ich mag dieses Mädchen nicht. Sie ist wirklich sehr egoistisch und selbstzentriert, dass musst du mir glauben. Gestern hat sie den ganzen Tag nur auf einer Parkbank gesessen und mich rumkommandiert!“, antwortete ich, ohne groß darüber nachzudenken, mit der Wahrheit.
Niemals würde ich mein Entsetzen und meine Ablehnung gegenüber Lea vergessen. Um es genau zu nehmen hatte sich beides seitdem kein bisschen verändert.
„Hope, dieses Mädchen ist die Tochter meines Chefs. Wenn du dich mit ihr anfreundest könnte uns das sehr helfen! Und wenn sie dich mal herumkommandieren will, dann lass sie doch! Oder willst du auf der Straße leben?“
Das hatte meine Mutter mir damals ins Gesicht geschrien, womit sie dann dummerweise Sarah (damals noch ein Baby) geweckt hatte. Sie hatte laut zu kreischen begonnen und meine Mutter lief schnell ins Haus um sich zum ersten Mal seit mehreren Monaten, in denen immer ich dafür zuständig gewesen war, um sie zu kümmern.
Mich ließ sie damals einfach auf der Straße stehen. Vielleicht hatte sie deshalb nie mein ersticktes Schluchzen: „Aber Mom, ich will wirklich nicht…“ gehört. Deshalb nie meine unterdrückten Tränen gesehen.
„Du hast ja recht. Ich glaub ich hab gerade nicht weit genug gedacht“, versuchte ich mich schnell aus meinem Dilemma herauszureden.
„In deinem Kopf geht wirklich nichts vor, Hope! Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen! Schlampe!“, brüllte mich Lea kochend vor Wut an, während ihre Hände, wie ich knapp aus den Augenwinkeln erkennen konnte, begannen, fahrig nach etwas zu suchen, dass sie nach mir schmeißen konnten.
„Schon gut, ich bin ja schon weg. Pass auf dich auf, und hab keine Angst, er ist bestimmt bald wieder da!“, murmelte ich noch schnell bevor ich aus dem Raum spurtete, ehe ihre Hände etwas passendes fanden.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen entwich meinem Mund ein lautes Seufzen und ich sank mit dem Rücken gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen.
Erleichtert hob ich den Kopf und war, wie immer, wenn ich mich in diesem Haus befand, erstaunt von seiner Größe und luxuriösen Einrichtung. Die Wände waren mit einer herrlich Farbe, die ich nicht einmal kannte (türkis? Azur? Violett? Cyan? Ganz egal, jedenfalls ein Blauton) gestrichen und mit Bildern, Gemälden und Porträts der Familienangehörigen behängt. Sie sahen alle wunderschön und edel aus, allesamt in unfassbaren Klamotten und in stolzen Possen verewigt. Nur eines passte nicht ganz dazu, und zwar das direkt gegenüber von mir.
Aus einem goldenen Rahmen starrte mich ein schlankes, vielleicht sogar etwas dürres Mädchen in einfacher Kleidung, einer Jeans und einem ärmellosen T-Shirt, an. Ihr etwa schulterlanges hellbraunes Haar hing ungezügelt und gewellt, ja fast schon wild, an ihrem Kopf herunter, während ihre freundlichen blauen Augen mich mit einem sinnlosen Lächeln in sich beobachteten. Sie hatte eine kleine Stupsnase und etwas zu dicke Augenbrauen, die nicht zu ihrer eher hellen Haut, die einem fast schon entgegenschimmerte, passten. Sie war nicht wirklich hässlich, aber auch keine Schönheit. Im Gegensatz zu den anderen war sie in einer denkbar ungünstigen Pose fotografiert worden, die sie nicht so gut hervorbrachte.
Vor mir hing ein Spiegel.
Plötzlich brach ich in lautes Gelächter aus, gegen das ich nichts anderes unternehmen konnte, als zu hoffen, dass Lea mich nicht hören würde.
Ich war schon immer so gewesen. Etwas schwer von Begriff und meistens vollkommen sinnlos glücklich.
Immer noch lachend setzte ich mich in Bewegung. Es war Montag, und ich war direkt nach der Schule mit zu Lea nach Hause gegangen, damit wir „zusammen“ Hausaufgaben machen konnten, obwohl sie eigentlich immer nur abschrieb.
Jetzt musste ich aber Sarah noch vom Kindergarten abholen.
Summend verließ ich das Haus, das vielmehr eine Villa war und ging durch den überdimensionalen Garten, der von einem ganzen Trupp Gärtnern instand gehalten wurde.
Als ich auf das riesige Eisentor zusteuerte, das den einzigen Ein- und Ausgang zum Grundstück bot, lächelte und nickte ich dem Mann in Uniform, der immer dort Wache schob, zu. Der lächelte zurück und drückte auf einen Knopf auf seiner Fernbedienung, um das Tor für mich zu öffnen.
An der Außenmauer lehnte, vor all dieser Pracht ziemlich schäbig und heruntergekommen aussehend, mein altes Fahrrad. Schnell schmiss ich die Tasche mit meinen Schulsachen, die ich mir bevor ich Leas Zimmer verlassen hatte, noch schnell gekrallt hatte, hinten auf den Gepäckträger und befestigte sie nachlässig.
Dann sprang ich schwungvoll auf und trat mit Wucht in die Pedale.
Während ich durch die Luxuswohngegend radelte, in der das junge Mädchen auf ihrem ärmlichen Fahrrad auch keine Unbekannte mehr war, stellte ich mit einem raschen Blick auf meine Armbanduhr fest, dass ich noch etwas Zeit hatte.
Erfreut gab ich noch etwas mehr Gas und bog an der nächsten Abzweigung anstatt nach rechts nach links ab.
Ich fuhr immer schneller und lies mir den Wind durch die Haare peitschen, während die Straße unter mir immer schlichter wurde, bis sie schließlich einem einfach Feldweg wich. Die luxuriösen Villen um mich herum verwandelten sich Stück für Stück in normale Häuser, dann in einfache Wohnanlagen und zum Schluss verschwanden sie ganz und Bäume traten an ihre Stelle.
Als ich an einer Stelle ankam, von der an es leicht bergab ging, lies ich mein Fahrrad fröhlich im Leerlauf durch den Wald gleiten.
Das Ganze war ein Umweg, der zwar auch zu Sarahs Kindergarten führte, aber viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Dafür war er sehr viel schöner und entspannender. Ich konnte die Vögel zwitschern hören und die Schönheit der Natur bewundern, die, meiner Meinung nach, an keiner Stelle so ausgeprägt war wie in diesem Stückchen Wald.
Langsam lösten sich meine Hände vom Lenker. Der Pfad war hier zwar ziemlich steinig, aber ich war ihn schon mindestens eine Millionen Mal gefahren, und kannte ihn wie meine Westentasche.
Lachend ließ ich mich so vollkommen losgelöst durch den Wald tragen und achtete nicht großartig auf den Weg, bis er schließlich wieder mehr bergauf verlief.
Seufzend nahm ich den Lenker wieder in die Hand und fuhr den Berg hinauf. Noch um zwei Ecken gebogen und schon war der Kindergarten in Sicht.
Es war ein weiß gestrichenes Gebäude mit einem großen Garten und vielen Spielplatzgeräten. Jedes Mal wenn ich ihn sah, freute ich mich für Sarah, dass sie jeden Tag zu einem so schönen Ort gehen konnte.
Langsam trat ich auf die Bremse und fuhr an den Zaun heran, um mein Fahrrad (der Ständer war schon vor Jahren abgefallen) dort anzulehnen.
Kaum war ich abgestiegen, kam auch schon Sarah aus dem Gebäude gerannt. Ein einziger, blonder Schopf sprang mich an und umarmte mich stürmisch.
„Hope, Hope, du glaubst nicht was heute passiert ist!“, rief sie aufgeregt.
Leicht verwirrt hob ich sie hoch und setzte sie neben mir ab, um zu von meinem Bein zu trennen.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich lächelnd und merkte nicht an, dass Sarah die Begrüßung vergessen hatte. Wir grüßten uns so gut wie nie – Sarah fing meistens einfach an zu reden.
„Julian ist von der großen Eiche gesprungen und hat sich gaaaanz doll das Bein wehgetan!“, keuchte Sarah mit weit offenen Augen.
Aaah, die alte Eiche. Die hatte hier schon gestanden, als ich noch in den Kindergarten ging. Es war schon immer eine beliebte Mutprobe unter den Kindern gewesen, von ihr herunterzuspringen. Aber es kam nur alle paar Jahre vor, dass sich auch ein Kind traute. Damals, in meiner Kindheit, hatte es auch ein Mädchen gegeben, das gesprungen war. Sie hatte sich damals den Knöchel verstaucht, aber dafür hatte sie dann der gesamte Kindergarten als Heldin anerkannt, bis sie schließlich eingeschult wurde. Vermutlich würde es diesem Julian genauso gehen.
„Na da siehst du, dass du da besser nicht runter springst, dass ist nämlich sehr gefährlich“, warnte ich sie unwillig. Eigentlich hätte ich viel lieber etwas in die Richtung „Dieser Julian ist aber sehr mutig“ gesagt, aber ich musste meine Pflicht als große Schwester und als Vorbild erfüllen.
Mit großen Augen und ängstlichem Blich sah Sarah zu mir auf, bevor sie schließlich ehrfürchtig nickte.
Sarah war ein sehr schönes kleines Mädchen. Sie hatte große grüne Augen, blonde gelockte Haare und eine niedliche Stimme.
Wenn sie älter wäre, würden die Jungs sie geradezu verfolgen. Ich würde sie dann höchstwahrscheinlich auch noch vor Stalkern und anderem beschützen müssen. Aber im Moment war sie nur meine süße kleine Schwester.
Mit einem Lächeln vertrieb ich Sarahs Angst schnell wieder:
„Aber du bist ja ein schlaues Mädchen, du machst so etwas nicht.“
Jetzt lachte auch Sarah wieder und mit einem breiten Grinsen stimmte sie mir zu.
„Na dann spring auf, wir müssen schließlich noch nach Hause. Ich wette du hast auch schon Hunger“, bemerkte ich und nahm meine Tasche vor und hing sie an den Lenker, um Platz für Sarah zu schaffen.
Doch die zögerte noch. Zaghaft warf sie einen Blick zum Kindergarten zurück, so als wüsste sie nicht ganz, was das Richtige wäre.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie.
„Weißt du, Julian hat vor ein paar Tagen etwas mit hier her gebracht, um sich darum zu kümmern“, erklärte sie unsicher.
Ich sah an ihrem Gesicht, dass es Sarah ernst war. Für eine fünfjährige konnte sie ein verflucht ernstes Gesicht machen.
„Sarah, was willst du sagen?“
„Es… es ist eine Katze!“, platzte sie auf einmal aufgeregt heraus, „bis jetzt hat er sie auch immer gefüttert und alles, und wir haben mit ihr gespielt und sie vor den Kindergärtnern versteckt gehalten, aber jetzt ist Julian zuhause und er kommt die nächsten Wochen nicht und wer soll sich jetzt um das Kätzchen kümmern? Es ist nämlich noch ein Baby und Julian hat immer das Futter gebracht und sich auch ansonsten um sie gekümmert!“
Sarah sah entsetzt aus bei der Vorstellung daran, was dem Tier zustoßen würde.
„Eine Katze, huh?“, murmelte ich in Gedanken versunken, während mein Gehirn zu rechnen begann.
Blitzschnell überschlug ich unser Haushaltsbudget und die kosten für Futter, Halsband und ähnliches. Uns ging es in den letzten Monaten finanziell wieder etwas besser und vielleicht, wenn ich meine Essensration etwas kürzte…
Sarahs besorgter Blick gab den Ausschlag. Kurz entschlossen nahm ich sie an die Hand und lief in Richtung des Gebäudes.
Neben mir fragte Sarah immer wieder aufgeregt:
„Was tun wir Hope? Nehmen wir Sunny mit? Bitte sag, das wir Sunny mitnehmen!“
Verwirrt schaute ich Sarah an. Sunny? War das etwa der Name der Katze?
„Weißt du, sie liebt die Sonne so und spielt am liebsten draußen, darum haben wir sie Sunny genannt!“, erklärte Sarah altklug meine unausgesprochene Frage.
„Ja, wir nehmen Sunny mit. Wir können sie schließlich nicht so einfach hier lassen“, sagte ich ihr und irgendwie war ich stolz auf den Blick, mit dem Sarah zeigte, wie sehr sie sich darüber freute, dass es dem Tier gut gehen würde.
Endlich betraten wir den Kindergarten. Das Haus war mit vielen Fenstern ausgestattet und die Wände waren mit den unschuldigen und lieben Zeichnungen von kleinen Kindern beklebt. Insgesamt wirkte alles offen und freundlich. Eine sehr heimelige Atmosphäre.
Der Kindergarten war in verschiedene Gruppen geteilt. Da war die Igelgruppe, die Pferdegruppe, die Hasengruppe und so weiter. In diesen Gruppen waren jeweils in etwa 15 Kinder, die dann jeden Tag in einem Raum spielten. Sarah war, sehr zu ihrem Bedauern, in der Froschgruppe. Ich hatte ihr das Märchen vom Froschprinzen unzählige Male erzählen müssen, bis sie sich damit zufrieden geben konnte.
Jetzt steuerten wir auf eben diesen Raum zu (an der Tür klebte ein gezeichneter Frosch, er war nicht zu verwechseln).
Kaum hatten wir die Tür geöffnet lief Sarah auf eine der riesigen Spielzeugtruhen zu und krabbelte unter sie.
Wartend stand ich davor und hoffte, dass ich gerade auch das Richtige tat.
Vor mir kroch Sarah wieder unter dem Kasten hervor, in den Händen einen einfachen Karton. In ihm saß eine kleine schwarze Katze und miaute aufgeregt.
Sie war tatsächlich noch ein Baby. Sie war so süß und hilflos, dass ich nicht anders konnte, als sie auf der Stelle lieb zu haben.
Vorsichtig streckte ich beide Hände nach ihr aus, um sie aus ihrem Karton zu nehmen. Zunächst zuckte sie erschrocken zurück, doch schließlich lies sie mich sie auf den Arm nehmen.
Sanft streichelte ich ihr seidenweiches Fell, wobei sie anfing wie ein Traktor zu schnurren.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass Sunny ein Mädchen war, und konnte nur noch hoffen, dass sie niemals Junge werfen würde.
Sachte legte ich die langsam einschlafende Katze wieder in ihren Karton, den Sarah, die jede meiner Bewegungen genau verfolgt hatte, noch immer in Händen hielt.
„Du trägst Sunny“, befahl ich ihr, „wir können mit ihr nicht Fahrradfahren.“
Sarah nickte aufgeregt und wir verließen den Kindergarten wieder.
Seufzend tat ich meine Tasche wieder auf den Gepäckträger und schob mein Fahrrad langsam an, während Sarah neben mir glücklich hin und her hüpfte.
„Hope, Hope, wann kaufen wir Sunny dann was zu essen?“, jubelte sie, während sie im Kreis um mich herum zu springen begann.
„Jetzt gleich. Schau da vorne ist ein Laden“, antwortete ich und deutete auf ein näher kommendes kleines Geschäft, das vermutlich von einer Familie geführt wurde.
Wir befanden uns mittlerweile in dem Stadtteil, in dem wir wohnten.
Um uns herum erhoben sich schlichte Mehrfamilienhäuser aus Beton, während sich unter uns eine einfache Straße dahinschlängelte.
Vor dem Laden lehnte ich mein Fahrrad an und schärfte Sarah ein, mit Sunny genau da stehen zu bleiben und auf mich zu warten.
Dann ging ich in den Laden und kaufte schnell etwas Katzenfutter, bevor ich wieder hinausschlenderte um mit Sarah nach Hause zu gehen.
„Hope, was glaubst du wird Mom zu Sunny sagen?“, fragte mich Sarah, auf einmal etwas bedrückt.
„Sie wird Sunny lieben“, antwortete ich und musste bei der Vorstellung an den Freudentanz, den unsere Mutter sicher aufführen würde, lachen. Unsere Mutter war eine… sehr sorglose Frau. Bis auf unseren Vater hatte sie nie etwas auch nur ansatzweise verletzen können. Dafür heilte diese eine einzige, riesige Wunde umso langsamer.
Beruhigt redete Sarah immer weiter – sie fand immer etwas, über das man sich unterhalten konnte.
Lächelnd gab ich auf ihre schier endlosen Fragen und Bemerkungen Antworten, die auch eine Fünfjährige noch verstand.
Schließlich kamen wir vor unserem Haus an. Es war genauso wie all die Anderen auch. Ein einziger Betonblock.
Erleichtert lehnte ich mein Fahrrad an die Hauswand. Das war wirklich keine kurze Strecke zum laufen.
„Mom, wir sind zu Hause!“, rief ich durch den Flur, als Sarah und ich das Haus betraten und unsere Schuhe auszogen.
„Oh, hallo ihr Süßen! Ihr seid aber spät dran!“, schallte es uns fröhlich entgegen. Das war kein Rufen, das war Gesang.
Ich hatte meine Frohnatur von meiner Mutter geerbt – nur dass meine im Gegensatz zu ihrer auch Grenzen kannte. Als wolle sie eben das beweisen kam meine Mutter tanzend aus der Küche, eine Schürze mit der Aufschrift Beste Mom der Welt umgebunden und umarmte mich und Sarah genauso stürmisch wie meine kleine Schwester mich bei unserer Begrüßung.
„Mrau!“, rief es plötzlich dazwischen.
Verwundert starrte Mom auf den kleinen Karton in Sarahs Händen. Sie kam einen Schritt näher und bevor ich eine Erklärung abgeben konnte, hatte sie Sunny auch schon entdeckt.
Blitzschnell schlossen sich ihre Hände um Sunny und schon wurde das erbärmlich maunzende Tier gnadenlos geknuddelt.
„Oh, wie süß! Wir behalten sie!“, rief sie ohne zu zögern, als sie Sunny dann endlich auf den Boden entließ.
So schnell sie konnte rannte das kleine Kätzchen zu mir und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
„Hey, das tut weh!“, rief ich irritiert, als sich ihre scharfen Krallen in meine Jeans bohrten, doch Sunny wollte nicht aufgeben.
Ironisch lächelnd gab ich nach und hob sie hoch.
Kaum war sie auf meinem Arm beruhigte sie sich wieder und rieb sich entspannt schnurrend an mir.
Tiere hatten mich schon immer geliebt – schon als ich noch ein kleines Kind war, hatten sich Hunde auf der Straße nach mir umgedreht, an ihrer Leine gezerrt und wenn sie dann tatsächlich zu mir kamen so lange gehechelt und mit den Schwanz gewedelt bis ich sie streichelte. Außerdem war ich früher des Öfteren von Katzen auf der Straße verfolgt worden, die mir dann immer um die Beine strichen – was das Laufen ungemein erschwerte – bis auch sie ihre kleine Streicheleinheit bekamen.
Beleidigt blies Mom ihre Backen auf und richtete ihre grünen Augen auf mich. Diese Augen, dieselben wie Sarahs. Nur meine Augen, die kamen von meinem Vater, genauso wie meine Haarfarbe, nicht, wie in unserer Familie üblich blond, sondern so braun wie die meines Vaters waren.
„Mom, Mom!“, machte nun Sarah lauthals auf sich aufmerksam. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Mit ausladenden Gesten erzählte Sarah Mom von den Geschehnissen mit Julian, während ich mit Sunny in die Küche ging, um ihr etwas Katzenfutter auf eine Schale zu tun.
Erst jetzt bemerkte ich den Geruch nach etwas Essbarem und schaute auf, um einen riesigen Topf Suppe zu erblicken. Während ich Sunnys Futter bereit stellte, fing ich an mich zu fragen, wieso meine Mutter schon zu Hause war. Für gewöhnlich wäre sie erst Stunden nach mir und Sarah nach Hause gekommen.
Erst nach einiger Zeit fiel es mir wieder ein und ich musste mir lachend mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen. Stimmte ja. Die Filiale meiner Mutter würde die nächste Zeit restauriert werden, wodurch sie über einen Monat, nein, sogar etwas mehr als zwei, bezahlten Urlaub erhielt.
In den nächsten Tagen würde ich Sarah nicht vom Kindergarten abholen müssen – dass wollte ja Mom ab morgen machen.
Gleichzeitig kam der Urlaub im perfekten Timing zu unserem Klassen-Ausflug. Ich war gerade auf die Highschool gekommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sollte meine Klasse zusammen mit einer Parallelklasse eine Woche lang in die Berge fahren. Das waren in etwa 50 Schüler.
Ich freute mich sehr darauf. Denn auch wenn Lea mitkommen würde, sollten wir in ein recht warmes Gebiet mit vielen Wäldern und tollen Wanderwegen fahren und uns dann selbst unterhalten.
Für mich bedeutete das, denn ganzen Tag im Wald umherzuschlendern und zwar ganz allein.
„Hope, wo ist Sunny?“, sprang Sarah in den Raum.
„Jetzt lasst uns erst einmal essen!“, befahl meine Mutter und ich seufzte lächelnd, um mich zu den Beiden an den Tisch zu setzen.
„I…ich ka…kann nicht…“, schniefte sie erneut und der Sturzbach Tränen, den wir nun schon seit mindestens einer Stunde zu stillen versuchten, strömte ungehindert weiter.
„Ich habe ihn jetzt schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, und ich kann mir einfach nicht erklären, wo er so plötzlich ohne jede Vorwarnung hin verschwunden sein soll!“, schrie sie mich in einem plötzlichen kurzen Anfall von Wut an, der auch die Tränen versiegen lies.
Erschrocken zuckte ich ein Stück nach hinten und fiel in die warmen weichen Bezüge von Leas Bett zurück, das vielleicht sogar etwas überladen war mit all den Kissen und Decken. Aber es passte in ihr ansonsten sehr mädchenhaft eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Boy-Groups und Bands, die mir nichts sagten, zutapeziert und ansonsten mit Regalen, die absolut mit Schmuck, Krimskrams und Bildern von irgendwelchen Jungen, die mir Lea wahrscheinlich irgendwann auch einmal vorgestellt hatte, vollgestopft waren, versperrt.
Natürlich war alles außer dem schneeweißen Bett in Lila- und Schwarztönen gehalten, so wie es heute in Mode war.
„Ich bin mir sicher, dass Nate irgendeinen wirklich verdammt guten Grund hat einfach so zu verschwinden. Vielleicht ist ein Verwandter gestorben, oder seine Familie musste sonst irgendwo hin“, war die beste Erklärung die mir für diese Situation einfiel.
Oder aber er will dich nicht als seine Freundin haben, dachte ich halbherzig, obwohl ich in Wirklichkeit wusste, dass das vollkommen unmöglich war.
Lea und Nate waren nach einer langen, komplizierten Zeit, in der es Phasen gab, in denen sie Freunde waren, Phasen, in denen sie sich hassten, Phasen, in denen sie ihre Gefühle nicht verstanden und Phasen, in denen sie sich liebten, endlich zusammengekommen. Mir war klar, dass sie nur so lange nicht ein Paar geworden waren, weil sich immer wieder Missverständnisse und Probleme, wie ihre Ex-Freunde und ihre etwas schwer zu verstehende Art ihre Sympathie zu zeigen, eingemischt hatten.
„Sogar wenn er seinen besten Freund verloren hätte, könnte er doch immer noch anrufen!“, brüllte mich Lea erneut an. Von wegen kurzer Anfall.
„Du hast ja irgendwie recht, aber vielleicht ist er auch einfach nur zu traurig um sich gerade mit irgendwelchen Menschen abzugeben“
Blitzschnell drehte sich Leas Kopf in meine Richtung und ein scharfer Blick traf mich.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch nicht irgendjemand! Ich bin seine Freundin! Und mit mir abgeben tut er sich auch nicht! Höchstens ich mich mit ihm!“
Oh shit, dachte ich. Da hatte ich doch glatt einen Wunden Punkt getroffen.
Ich wusste genau, dass die beiden nicht aus Liebe miteinander ausgingen, sondern weil es passte. Lea war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte dunkelbraune Haare (natürlich geglättet), haselnussbraune Augen, den perfekten Körper und einen noch perfekteren Modegeschmack. Außerdem schien sie auch einen idealen Charakter zu besitzen. Na ja, zumindest für Menschen, die sie nicht so gut kannten wie ich.
Nate dagegen war der wohl coolste Junge der Schule. Er war sportlich, stark, hatte ganz akzeptable Noten und sah mit seinen hellbraunen Haaren, seinen grünen Augen und seinem dezenten Sixpack einfach abartig gut aus. Noch dazu hatte er eine ähnlich gute Persönlichkeit wie Lea.
Es war klar gewesen, dass die beiden früher oder später zusammenkommen mussten. Und jetzt bewunderte natürlich die ganze Schule dieses „Traumpaar“. Alle außer mir.
Ich kannte Lea schon seit der Grundschule und wusste alles über sie, von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihrem ersten Freund (der Junge hatte den Wettstreit um diesen Titel nur mit zwei Wochen Vorsprung geschafft – dann hatte sie schon ihren Zweiten). Ich war es auch die gesehen hatte, wie sie ihre Eltern wochenlang bearbeitete nur um längere Ausgehzeiten zu bekommen. Ich war es auch, die miterlebt hatte, wie sie in der Mittelschule ein Mädchen, das es gewagt hatte ihren Freund zu stehlen, solange psychisch mobbte, bis es schließlich aufgab und die Schule wechselte. Ich wusste noch genau, wie gern ich dem Mädchen damals geholfen hätte und wie sehr ich es probiert hatte. Doch ich konnte noch nie gut mit Psychospielchen, die die meisten Mädchen beherrschten, umgehen. Ich erinnerte mich an die zahllosen Versuche, dem Mädchen zu zeigen, dass ich ihre Freundin war. Doch sie hatte immer nur gedacht, ich wolle ihr nur näher kommen um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Aber ich wusste auch, voran das lag. Ich galt als gute Freundin von Lea. Dabei verbrachte ich nur so viel Zeit mit ihr, wegen meiner Familie. Mein Vater war abgehauen, als ich kaum einmal zehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt von Sarah, meiner kleinen Schwester. Meine Mutter, die bis dahin zusammen mit ihm eine Filiale von Your Shopping Center führte, hatte damals angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen, während ich begonnen hatte, mich als Babysitter um Sarah zu kümmern und den Haushalt zu schmeißen. Eine Zeit lang war das Ganze auch gut gegangen, bis die Eltern von Lea, die Besitzer der Einkaufskette Your Shopping Center bemerkten, dass die Einnahmen zurückgingen. Sie lebten durch Zufall (was für eine grausame Welt) in der Nähe und hatten bald alles herausgefunden. Aus Gründen, die ich zunächst nicht verstand, halfen sie uns damals aus der Patsche und bezahlten für den Entzug meiner Mutter.
Zuerst war ich unendlich glücklich. Ich dachte, Gott hätte sich uns gegenüber gnädig gezeigt und war unfassbar dankbar gewesen. Bis sie dann, keine zwei Wochen später, anfingen, die Schulden einfordern zu wollen. Meine Mutter fing an, wie eine Verrückte zu schuften. Sie arbeitete mittlerweile sieben tage die Woche, und ich sah sie fast nie mehr schlafen, dafür aber umso öfter Geschäftspapiere mit nach Hause nehmen, um noch länger zu arbeiten.
In diesem Zeitraum, ich war gerade elf geworden, stellten sie mir Lea vor. Zu diesem Zeitpunkt sah ich es auf der Stelle. Ich sah, dass Lea arrogant und selbstsüchtig war. Ein Mensch, der immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte. Damals war sie aber noch blond, mit gelockten Haaren, und sie trug öfter Kleider. Sie sah wirklich niedlich aus.
An diesem Tag hatten ihre Eltern beschlossen, dass ich mich um Lea kümmern sollte, da sie selbst keine Zeit hatten, und man dass mit der Tochter von einem Schuldner schon machen konnte.
Zuerst wollte ich nicht mitgehen, aber meine Mutter befahl es mir, und ich gehorchte.
Wir gingen in den Park, um Ball zu spielen. Zuerst ging alles auch noch ganz gut. Wir warfen den Ball hin und her und ich hatte sogar etwas Spaß. Fast hätte ich gedacht ich hätte mich in Lea getäuscht. Bis sie dann irgendwann rief: „Ich bin müde und das Spiel ist langweilig! Ich will was anderes machen!“
Ich stimmte zu und fragte sie, was sie denn tun wolle.
„Ich will ein Eis!“, verlangte sie.
Als ich zuerst nicht begriff, was sie denn nun wolle und sie nur verständnislos anstarrte, wurde sie wütend.
„Na los, hol mir eines!“
„Kannst du dir denn nicht selbst eines holen?“, fragte ich verdutzt.
„Bist du bekloppt? Wieso sollte ich mir selbst eines holen, wenn du da bist?“, antwortete sie vor Wut kochend.
Schließlich gab ich auf: „Gut gib mir das Geld und ich such einen Eisladen.“
„Wieso sollte ich dir Geld geben? Nimm gefälligst dein eigenes!“
Langsam hatte Lea wirklich genug.
Als ich verwirrt zu einem Widerspruch ansetzen wollte, stoppte sie mich mit einem einzigen Blick und ich lief schnell los um den nächstbesten Eisladen aufzusuchen.
Was mir damals noch nicht aufgefallen war, ich aber heute wusste war, dass sich Lea nur in meiner Gegenwart so benahm. Sobald jemand anderes oder ein Erwachsener dabei waren, wurde sie wieder lieb und nett. Das konnte man nun mal mit der Tochter einer Untergebenen machen. Allerdings erfuhr so auch nie jemand etwas über ihren wahren Charakter.
Vielleicht hatte sich meine Mutter deswegen am nächsten Tag so gefreut:
„Hope, du wirst es nicht glauben, aber dieses hübsche Mädchen von gestern, du weißt sicher wenn ich meine, will heute noch mal mit dir spielen!“, hatte sie freudig gerufen, als ich von der Schule nach Hause kam.
Wie ein Engel strahlend war sie damals schon vor dem Hauseingang gestanden, als sie auf mich wartete um mich mit offenen Armen zu empfangen.
„Mom – ich mag dieses Mädchen nicht. Sie ist wirklich sehr egoistisch und selbstzentriert, dass musst du mir glauben. Gestern hat sie den ganzen Tag nur auf einer Parkbank gesessen und mich rumkommandiert!“, antwortete ich, ohne groß darüber nachzudenken, mit der Wahrheit.
Niemals würde ich mein Entsetzen und meine Ablehnung gegenüber Lea vergessen. Um es genau zu nehmen hatte sich beides seitdem kein bisschen verändert.
„Hope, dieses Mädchen ist die Tochter meines Chefs. Wenn du dich mit ihr anfreundest könnte uns das sehr helfen! Und wenn sie dich mal herumkommandieren will, dann lass sie doch! Oder willst du auf der Straße leben?“
Das hatte meine Mutter mir damals ins Gesicht geschrien, womit sie dann dummerweise Sarah (damals noch ein Baby) geweckt hatte. Sie hatte laut zu kreischen begonnen und meine Mutter lief schnell ins Haus um sich zum ersten Mal seit mehreren Monaten, in denen immer ich dafür zuständig gewesen war, um sie zu kümmern.
Mich ließ sie damals einfach auf der Straße stehen. Vielleicht hatte sie deshalb nie mein ersticktes Schluchzen: „Aber Mom, ich will wirklich nicht…“ gehört. Deshalb nie meine unterdrückten Tränen gesehen.
„Du hast ja recht. Ich glaub ich hab gerade nicht weit genug gedacht“, versuchte ich mich schnell aus meinem Dilemma herauszureden.
„In deinem Kopf geht wirklich nichts vor, Hope! Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen! Schlampe!“, brüllte mich Lea kochend vor Wut an, während ihre Hände, wie ich knapp aus den Augenwinkeln erkennen konnte, begannen, fahrig nach etwas zu suchen, dass sie nach mir schmeißen konnten.
„Schon gut, ich bin ja schon weg. Pass auf dich auf, und hab keine Angst, er ist bestimmt bald wieder da!“, murmelte ich noch schnell bevor ich aus dem Raum spurtete, ehe ihre Hände etwas passendes fanden.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen entwich meinem Mund ein lautes Seufzen und ich sank mit dem Rücken gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen.
Erleichtert hob ich den Kopf und war, wie immer, wenn ich mich in diesem Haus befand, erstaunt von seiner Größe und luxuriösen Einrichtung. Die Wände waren mit einer herrlich Farbe, die ich nicht einmal kannte (türkis? Azur? Violett? Cyan? Ganz egal, jedenfalls ein Blauton) gestrichen und mit Bildern, Gemälden und Porträts der Familienangehörigen behängt. Sie sahen alle wunderschön und edel aus, allesamt in unfassbaren Klamotten und in stolzen Possen verewigt. Nur eines passte nicht ganz dazu, und zwar das direkt gegenüber von mir.
Aus einem goldenen Rahmen starrte mich ein schlankes, vielleicht sogar etwas dürres Mädchen in einfacher Kleidung, einer Jeans und einem ärmellosen T-Shirt, an. Ihr etwa schulterlanges hellbraunes Haar hing ungezügelt und gewellt, ja fast schon wild, an ihrem Kopf herunter, während ihre freundlichen blauen Augen mich mit einem sinnlosen Lächeln in sich beobachteten. Sie hatte eine kleine Stupsnase und etwas zu dicke Augenbrauen, die nicht zu ihrer eher hellen Haut, die einem fast schon entgegenschimmerte, passten. Sie war nicht wirklich hässlich, aber auch keine Schönheit. Im Gegensatz zu den anderen war sie in einer denkbar ungünstigen Pose fotografiert worden, die sie nicht so gut hervorbrachte.
Vor mir hing ein Spiegel.
Plötzlich brach ich in lautes Gelächter aus, gegen das ich nichts anderes unternehmen konnte, als zu hoffen, dass Lea mich nicht hören würde.
Ich war schon immer so gewesen. Etwas schwer von Begriff und meistens vollkommen sinnlos glücklich.
Immer noch lachend setzte ich mich in Bewegung. Es war Montag, und ich war direkt nach der Schule mit zu Lea nach Hause gegangen, damit wir „zusammen“ Hausaufgaben machen konnten, obwohl sie eigentlich immer nur abschrieb.
Jetzt musste ich aber Sarah noch vom Kindergarten abholen.
Summend verließ ich das Haus, das vielmehr eine Villa war und ging durch den überdimensionalen Garten, der von einem ganzen Trupp Gärtnern instand gehalten wurde.
Als ich auf das riesige Eisentor zusteuerte, das den einzigen Ein- und Ausgang zum Grundstück bot, lächelte und nickte ich dem Mann in Uniform, der immer dort Wache schob, zu. Der lächelte zurück und drückte auf einen Knopf auf seiner Fernbedienung, um das Tor für mich zu öffnen.
An der Außenmauer lehnte, vor all dieser Pracht ziemlich schäbig und heruntergekommen aussehend, mein altes Fahrrad. Schnell schmiss ich die Tasche mit meinen Schulsachen, die ich mir bevor ich Leas Zimmer verlassen hatte, noch schnell gekrallt hatte, hinten auf den Gepäckträger und befestigte sie nachlässig.
Dann sprang ich schwungvoll auf und trat mit Wucht in die Pedale.
Während ich durch die Luxuswohngegend radelte, in der das junge Mädchen auf ihrem ärmlichen Fahrrad auch keine Unbekannte mehr war, stellte ich mit einem raschen Blick auf meine Armbanduhr fest, dass ich noch etwas Zeit hatte.
Erfreut gab ich noch etwas mehr Gas und bog an der nächsten Abzweigung anstatt nach rechts nach links ab.
Ich fuhr immer schneller und lies mir den Wind durch die Haare peitschen, während die Straße unter mir immer schlichter wurde, bis sie schließlich einem einfach Feldweg wich. Die luxuriösen Villen um mich herum verwandelten sich Stück für Stück in normale Häuser, dann in einfache Wohnanlagen und zum Schluss verschwanden sie ganz und Bäume traten an ihre Stelle.
Als ich an einer Stelle ankam, von der an es leicht bergab ging, lies ich mein Fahrrad fröhlich im Leerlauf durch den Wald gleiten.
Das Ganze war ein Umweg, der zwar auch zu Sarahs Kindergarten führte, aber viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Dafür war er sehr viel schöner und entspannender. Ich konnte die Vögel zwitschern hören und die Schönheit der Natur bewundern, die, meiner Meinung nach, an keiner Stelle so ausgeprägt war wie in diesem Stückchen Wald.
Langsam lösten sich meine Hände vom Lenker. Der Pfad war hier zwar ziemlich steinig, aber ich war ihn schon mindestens eine Millionen Mal gefahren, und kannte ihn wie meine Westentasche.
Lachend ließ ich mich so vollkommen losgelöst durch den Wald tragen und achtete nicht großartig auf den Weg, bis er schließlich wieder mehr bergauf verlief.
Seufzend nahm ich den Lenker wieder in die Hand und fuhr den Berg hinauf. Noch um zwei Ecken gebogen und schon war der Kindergarten in Sicht.
Es war ein weiß gestrichenes Gebäude mit einem großen Garten und vielen Spielplatzgeräten. Jedes Mal wenn ich ihn sah, freute ich mich für Sarah, dass sie jeden Tag zu einem so schönen Ort gehen konnte.
Langsam trat ich auf die Bremse und fuhr an den Zaun heran, um mein Fahrrad (der Ständer war schon vor Jahren abgefallen) dort anzulehnen.
Kaum war ich abgestiegen, kam auch schon Sarah aus dem Gebäude gerannt. Ein einziger, blonder Schopf sprang mich an und umarmte mich stürmisch.
„Hope, Hope, du glaubst nicht was heute passiert ist!“, rief sie aufgeregt.
Leicht verwirrt hob ich sie hoch und setzte sie neben mir ab, um zu von meinem Bein zu trennen.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich lächelnd und merkte nicht an, dass Sarah die Begrüßung vergessen hatte. Wir grüßten uns so gut wie nie – Sarah fing meistens einfach an zu reden.
„Julian ist von der großen Eiche gesprungen und hat sich gaaaanz doll das Bein wehgetan!“, keuchte Sarah mit weit offenen Augen.
Aaah, die alte Eiche. Die hatte hier schon gestanden, als ich noch in den Kindergarten ging. Es war schon immer eine beliebte Mutprobe unter den Kindern gewesen, von ihr herunterzuspringen. Aber es kam nur alle paar Jahre vor, dass sich auch ein Kind traute. Damals, in meiner Kindheit, hatte es auch ein Mädchen gegeben, das gesprungen war. Sie hatte sich damals den Knöchel verstaucht, aber dafür hatte sie dann der gesamte Kindergarten als Heldin anerkannt, bis sie schließlich eingeschult wurde. Vermutlich würde es diesem Julian genauso gehen.
„Na da siehst du, dass du da besser nicht runter springst, dass ist nämlich sehr gefährlich“, warnte ich sie unwillig. Eigentlich hätte ich viel lieber etwas in die Richtung „Dieser Julian ist aber sehr mutig“ gesagt, aber ich musste meine Pflicht als große Schwester und als Vorbild erfüllen.
Mit großen Augen und ängstlichem Blich sah Sarah zu mir auf, bevor sie schließlich ehrfürchtig nickte.
Sarah war ein sehr schönes kleines Mädchen. Sie hatte große grüne Augen, blonde gelockte Haare und eine niedliche Stimme.
Wenn sie älter wäre, würden die Jungs sie geradezu verfolgen. Ich würde sie dann höchstwahrscheinlich auch noch vor Stalkern und anderem beschützen müssen. Aber im Moment war sie nur meine süße kleine Schwester.
Mit einem Lächeln vertrieb ich Sarahs Angst schnell wieder:
„Aber du bist ja ein schlaues Mädchen, du machst so etwas nicht.“
Jetzt lachte auch Sarah wieder und mit einem breiten Grinsen stimmte sie mir zu.
„Na dann spring auf, wir müssen schließlich noch nach Hause. Ich wette du hast auch schon Hunger“, bemerkte ich und nahm meine Tasche vor und hing sie an den Lenker, um Platz für Sarah zu schaffen.
Doch die zögerte noch. Zaghaft warf sie einen Blick zum Kindergarten zurück, so als wüsste sie nicht ganz, was das Richtige wäre.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie.
„Weißt du, Julian hat vor ein paar Tagen etwas mit hier her gebracht, um sich darum zu kümmern“, erklärte sie unsicher.
Ich sah an ihrem Gesicht, dass es Sarah ernst war. Für eine fünfjährige konnte sie ein verflucht ernstes Gesicht machen.
„Sarah, was willst du sagen?“
„Es… es ist eine Katze!“, platzte sie auf einmal aufgeregt heraus, „bis jetzt hat er sie auch immer gefüttert und alles, und wir haben mit ihr gespielt und sie vor den Kindergärtnern versteckt gehalten, aber jetzt ist Julian zuhause und er kommt die nächsten Wochen nicht und wer soll sich jetzt um das Kätzchen kümmern? Es ist nämlich noch ein Baby und Julian hat immer das Futter gebracht und sich auch ansonsten um sie gekümmert!“
Sarah sah entsetzt aus bei der Vorstellung daran, was dem Tier zustoßen würde.
„Eine Katze, huh?“, murmelte ich in Gedanken versunken, während mein Gehirn zu rechnen begann.
Blitzschnell überschlug ich unser Haushaltsbudget und die kosten für Futter, Halsband und ähnliches. Uns ging es in den letzten Monaten finanziell wieder etwas besser und vielleicht, wenn ich meine Essensration etwas kürzte…
Sarahs besorgter Blick gab den Ausschlag. Kurz entschlossen nahm ich sie an die Hand und lief in Richtung des Gebäudes.
Neben mir fragte Sarah immer wieder aufgeregt:
„Was tun wir Hope? Nehmen wir Sunny mit? Bitte sag, das wir Sunny mitnehmen!“
Verwirrt schaute ich Sarah an. Sunny? War das etwa der Name der Katze?
„Weißt du, sie liebt die Sonne so und spielt am liebsten draußen, darum haben wir sie Sunny genannt!“, erklärte Sarah altklug meine unausgesprochene Frage.
„Ja, wir nehmen Sunny mit. Wir können sie schließlich nicht so einfach hier lassen“, sagte ich ihr und irgendwie war ich stolz auf den Blick, mit dem Sarah zeigte, wie sehr sie sich darüber freute, dass es dem Tier gut gehen würde.
Endlich betraten wir den Kindergarten. Das Haus war mit vielen Fenstern ausgestattet und die Wände waren mit den unschuldigen und lieben Zeichnungen von kleinen Kindern beklebt. Insgesamt wirkte alles offen und freundlich. Eine sehr heimelige Atmosphäre.
Der Kindergarten war in verschiedene Gruppen geteilt. Da war die Igelgruppe, die Pferdegruppe, die Hasengruppe und so weiter. In diesen Gruppen waren jeweils in etwa 15 Kinder, die dann jeden Tag in einem Raum spielten. Sarah war, sehr zu ihrem Bedauern, in der Froschgruppe. Ich hatte ihr das Märchen vom Froschprinzen unzählige Male erzählen müssen, bis sie sich damit zufrieden geben konnte.
Jetzt steuerten wir auf eben diesen Raum zu (an der Tür klebte ein gezeichneter Frosch, er war nicht zu verwechseln).
Kaum hatten wir die Tür geöffnet lief Sarah auf eine der riesigen Spielzeugtruhen zu und krabbelte unter sie.
Wartend stand ich davor und hoffte, dass ich gerade auch das Richtige tat.
Vor mir kroch Sarah wieder unter dem Kasten hervor, in den Händen einen einfachen Karton. In ihm saß eine kleine schwarze Katze und miaute aufgeregt.
Sie war tatsächlich noch ein Baby. Sie war so süß und hilflos, dass ich nicht anders konnte, als sie auf der Stelle lieb zu haben.
Vorsichtig streckte ich beide Hände nach ihr aus, um sie aus ihrem Karton zu nehmen. Zunächst zuckte sie erschrocken zurück, doch schließlich lies sie mich sie auf den Arm nehmen.
Sanft streichelte ich ihr seidenweiches Fell, wobei sie anfing wie ein Traktor zu schnurren.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass Sunny ein Mädchen war, und konnte nur noch hoffen, dass sie niemals Junge werfen würde.
Sachte legte ich die langsam einschlafende Katze wieder in ihren Karton, den Sarah, die jede meiner Bewegungen genau verfolgt hatte, noch immer in Händen hielt.
„Du trägst Sunny“, befahl ich ihr, „wir können mit ihr nicht Fahrradfahren.“
Sarah nickte aufgeregt und wir verließen den Kindergarten wieder.
Seufzend tat ich meine Tasche wieder auf den Gepäckträger und schob mein Fahrrad langsam an, während Sarah neben mir glücklich hin und her hüpfte.
„Hope, Hope, wann kaufen wir Sunny dann was zu essen?“, jubelte sie, während sie im Kreis um mich herum zu springen begann.
„Jetzt gleich. Schau da vorne ist ein Laden“, antwortete ich und deutete auf ein näher kommendes kleines Geschäft, das vermutlich von einer Familie geführt wurde.
Wir befanden uns mittlerweile in dem Stadtteil, in dem wir wohnten.
Um uns herum erhoben sich schlichte Mehrfamilienhäuser aus Beton, während sich unter uns eine einfache Straße dahinschlängelte.
Vor dem Laden lehnte ich mein Fahrrad an und schärfte Sarah ein, mit Sunny genau da stehen zu bleiben und auf mich zu warten.
Dann ging ich in den Laden und kaufte schnell etwas Katzenfutter, bevor ich wieder hinausschlenderte um mit Sarah nach Hause zu gehen.
„Hope, was glaubst du wird Mom zu Sunny sagen?“, fragte mich Sarah, auf einmal etwas bedrückt.
„Sie wird Sunny lieben“, antwortete ich und musste bei der Vorstellung an den Freudentanz, den unsere Mutter sicher aufführen würde, lachen. Unsere Mutter war eine… sehr sorglose Frau. Bis auf unseren Vater hatte sie nie etwas auch nur ansatzweise verletzen können. Dafür heilte diese eine einzige, riesige Wunde umso langsamer.
Beruhigt redete Sarah immer weiter – sie fand immer etwas, über das man sich unterhalten konnte.
Lächelnd gab ich auf ihre schier endlosen Fragen und Bemerkungen Antworten, die auch eine Fünfjährige noch verstand.
Schließlich kamen wir vor unserem Haus an. Es war genauso wie all die Anderen auch. Ein einziger Betonblock.
Erleichtert lehnte ich mein Fahrrad an die Hauswand. Das war wirklich keine kurze Strecke zum laufen.
„Mom, wir sind zu Hause!“, rief ich durch den Flur, als Sarah und ich das Haus betraten und unsere Schuhe auszogen.
„Oh, hallo ihr Süßen! Ihr seid aber spät dran!“, schallte es uns fröhlich entgegen. Das war kein Rufen, das war Gesang.
Ich hatte meine Frohnatur von meiner Mutter geerbt – nur dass meine im Gegensatz zu ihrer auch Grenzen kannte. Als wolle sie eben das beweisen kam meine Mutter tanzend aus der Küche, eine Schürze mit der Aufschrift Beste Mom der Welt umgebunden und umarmte mich und Sarah genauso stürmisch wie meine kleine Schwester mich bei unserer Begrüßung.
„Mrau!“, rief es plötzlich dazwischen.
Verwundert starrte Mom auf den kleinen Karton in Sarahs Händen. Sie kam einen Schritt näher und bevor ich eine Erklärung abgeben konnte, hatte sie Sunny auch schon entdeckt.
Blitzschnell schlossen sich ihre Hände um Sunny und schon wurde das erbärmlich maunzende Tier gnadenlos geknuddelt.
„Oh, wie süß! Wir behalten sie!“, rief sie ohne zu zögern, als sie Sunny dann endlich auf den Boden entließ.
So schnell sie konnte rannte das kleine Kätzchen zu mir und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
„Hey, das tut weh!“, rief ich irritiert, als sich ihre scharfen Krallen in meine Jeans bohrten, doch Sunny wollte nicht aufgeben.
Ironisch lächelnd gab ich nach und hob sie hoch.
Kaum war sie auf meinem Arm beruhigte sie sich wieder und rieb sich entspannt schnurrend an mir.
Tiere hatten mich schon immer geliebt – schon als ich noch ein kleines Kind war, hatten sich Hunde auf der Straße nach mir umgedreht, an ihrer Leine gezerrt und wenn sie dann tatsächlich zu mir kamen so lange gehechelt und mit den Schwanz gewedelt bis ich sie streichelte. Außerdem war ich früher des Öfteren von Katzen auf der Straße verfolgt worden, die mir dann immer um die Beine strichen – was das Laufen ungemein erschwerte – bis auch sie ihre kleine Streicheleinheit bekamen.
Beleidigt blies Mom ihre Backen auf und richtete ihre grünen Augen auf mich. Diese Augen, dieselben wie Sarahs. Nur meine Augen, die kamen von meinem Vater, genauso wie meine Haarfarbe, nicht, wie in unserer Familie üblich blond, sondern so braun wie die meines Vaters waren.
„Mom, Mom!“, machte nun Sarah lauthals auf sich aufmerksam. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Mit ausladenden Gesten erzählte Sarah Mom von den Geschehnissen mit Julian, während ich mit Sunny in die Küche ging, um ihr etwas Katzenfutter auf eine Schale zu tun.
Erst jetzt bemerkte ich den Geruch nach etwas Essbarem und schaute auf, um einen riesigen Topf Suppe zu erblicken. Während ich Sunnys Futter bereit stellte, fing ich an mich zu fragen, wieso meine Mutter schon zu Hause war. Für gewöhnlich wäre sie erst Stunden nach mir und Sarah nach Hause gekommen.
Erst nach einiger Zeit fiel es mir wieder ein und ich musste mir lachend mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen. Stimmte ja. Die Filiale meiner Mutter würde die nächste Zeit restauriert werden, wodurch sie über einen Monat, nein, sogar etwas mehr als zwei, bezahlten Urlaub erhielt.
In den nächsten Tagen würde ich Sarah nicht vom Kindergarten abholen müssen – dass wollte ja Mom ab morgen machen.
Gleichzeitig kam der Urlaub im perfekten Timing zu unserem Klassen-Ausflug. Ich war gerade auf die Highschool gekommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sollte meine Klasse zusammen mit einer Parallelklasse eine Woche lang in die Berge fahren. Das waren in etwa 50 Schüler.
Ich freute mich sehr darauf. Denn auch wenn Lea mitkommen würde, sollten wir in ein recht warmes Gebiet mit vielen Wäldern und tollen Wanderwegen fahren und uns dann selbst unterhalten.
Für mich bedeutete das, denn ganzen Tag im Wald umherzuschlendern und zwar ganz allein.
„Hope, wo ist Sunny?“, sprang Sarah in den Raum.
„Jetzt lasst uns erst einmal essen!“, befahl meine Mutter und ich seufzte lächelnd, um mich zu den Beiden an den Tisch zu setzen.
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Name?
am Samstag, 5. November 2011, 03:29 im Topic 'Kilian'
Ich werde gleich ein paar Kapitel einer Geschichte hochladen, die ich schon vor einer Weile begonnen habe. Das einzige Problem dieser Geschichte ist, naja, ihr Name. Ich habe noch nicht wirklich einen. Fürs erste werde ich sie unter "Kilian" abspeichern, aber dass könnte sich später noch ändern.
Dann viel Spaß :)
Dann viel Spaß :)
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