Kilian - Kapitel 5
am Samstag, 5. November 2011, 03:40 im Topic 'Kilian'
Der Abend verlief ereignislos. Alle waren von der Fahrt und den vielen Kämpfen um Sitzplätze und Betten erschöpft, so dass das Abendessen zum reinsten Mittagsschlaf wurde. Ich erfuhr gerade mal, dass sich Kilian und Michael zusammen mit Jack – er hatte die Kinotickets gekauft, dass wusste ich noch – ein Bungalow teilten und Nate und zwei seiner Freunde direkt im Bungalow neben ihnen wohnten.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.
Ich wusste nicht einmal, ob Lea im selben Schlafsaal war, wie ich. Aber dass war auch nicht so wichtig – sie würde sich diese wertvolle Zeit mit ihrem Freund nicht von mir nehmen lassen.
Nach dem Essen schlichen wir uns alle absolut verausgabt in unsere Betten und schliefen ein.
Am nächsten Morgen wachte ich um Viertel nach sechs auf. Wie ich gehofft hatte, war ich die erste – die ersten Wecker würden um halb acht klingen.
Ich sprang aus dem Bett, holte mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans aus meinem Schrank heraus und verschwand im Badezimmer um mich zu duschen. Als ich fertig war, schrieb ich Nikki einen Zettel mit der Aufschrift „Bin um spätestens 15 Uhr wieder da :D“, damit sie wenigstens ansatzweise Ahnung hatte, was mit mir war, obwohl ich es ihr ja sowieso schon gesagt hatte.
Ich kramte in meinem Schrank nach einem Wanderrucksack, denn ich extra mitgenommen hatte und packte alles mögliche hinein – mein Handy, ein paar Flaschen Mineralwasser, die ich mir am Getränkeautomaten holte und dann schließlich noch ein Brot mit Käse, dass ich mir gemacht hatte, als ich den Speisesaal als zweite betrat. Ja, als Zweite. Ich kam um exakt drei nach sieben, und wer saß da schon? Natürlich Kilian. In seiner Perfektion ging es ja gar nicht anders, als dass er auch zu hundert Prozent pünktlich war.
„Morgen“, sagte ich und setzte mich neben ihn.
„Morgen“, gab er, klar und deutlich zur Antwort.
„Warum bist du schon so früh wach?“, fragte ich und schmierte mir mein Käsebrot, während er sich Schinken auf seines packte.
„Ich bin Frühaufsteher“, gab er zur Antwort und biss ab.
Das passte perfekt zu seinem Charakter.
„Du?“, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Natürlich hätte er nie mit vollem Mund gesprochen. Ich musste kichern. Kilian war von vorne gesehen vollkommen perfekt – aber er war so viel mehr. Er hatte Charakter – er war nicht, wie man ihn haben wollte. Er war so geboren, wie er jetzt war. Wer sagt heute sonst noch so offen und ehrlich, dass er Metal mag? Kilian hatte keine Angst anders zu sein. Er war einfach.
„Ich gehe wandern“, sagte ich, hängte „Aber keine Panik ich bin spätestens um 15 Uhr wieder da“ mit einem Grinsen dran und streckte ihm scherzhaft die Zunge heraus.
„Pass auf, dass dich kein Baum frisst“, gab er mit einsichtig und freundlich zusammengezogenen Augenbrauen von sich.
„Na ja, ich bin dann mal weg“, meinte ich, sprang auf, packte das Brot weg und legte zwei Finger an die Stirn, „bis dann, Sir!“, sagte ich und bewegte die beiden Finger mit einem scherzhaften Salut von meinem Kopf weg.
Kilian nickte mir nur zu und ich lief energetisch aus dem Gebäude.
Dort stand ich, in der roten Morgendämmerung inmitten des grauen Vorhofes des Gebäudes.
Erst sah ich mich suchend um – von dem Weg, der links von mir lag und bergab führte, waren wir gekommen… Also würde ich den Weg rechts, der bergauf und in den Wald führte nehmen.
Entschlossen wanderte ich los. Der Wald war grün und braun, aber sehr hell. Ich mochte dunkle Wälder eigentlich mehr, aber trotzdem war dieser hier auf seine eigene Art und Weise wunderschön.
Der Weg war eigentlich eher ein Pfad, der sich schmal und klein wie er war durch den Wald schlängelte. Man konnte deutlich spüren, dass es hier schon länger nicht mehr geregnet hatte, denn der Boden war trocken und die Pflanzen an manchen Stellen etwas klein und kümmerlich. Dafür bot der Wald umso mehr Vielfalt – hier waren so viele Pflanzen, die ich noch nie in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
Und so wanderte ich Stunde um Stunde bergauf, bis der Weg schließlich eben wurde. Ich lief dennoch weiter, bis ich irgendwann einen Blick auf meine Armbanduhr warf. Es war schon 11 Uhr. Vielleicht sollte ich etwas essen.
Also ging ich ein Stückchen vom Weg ab und setzte mich auf einen Baumstamm, der vom Weg aus nicht zu sehen war, mir allerdings einen recht guten Blick ermöglichte und begann mein Käsebrot zu essen.
„… wohin genau?“, hörte ich plötzlich in der Ferne eine mir nur zu gut bekannte Stimme. Sie kam von hinten. Ich drehte mich noch im Sitzen um, und warf einen Blick auf einen kleinen Abhang.
„An einen ruhigen Platz“, antwortete Nate auf Leas Frage. Irgendwie… zweideutig.
Sie gingen an mir vorbei, entdeckten mich aber nicht, da ich über ihnen saß.
Sie folgten einem anderen Weg als ich, der sehr viel geschlängelter zu sein schien und einige riesige und sinnlose Kurven machte. Aber er führte dennoch in dieselbe Richtung wie meiner.
Lea hatte sich in enges Oberteil und Hotpants geworfen und Nate schien ihr andauernd am Arsch herumzufummeln, aber sie beschwerte sich nicht. Wieso war Lea überhaupt allein mit ihm im Wald? Es passte nicht zu ihr sich von ihren kleinen Gefolgsleuten zu trennen, genauso wenig wie es zu Nate passte. Und sie waren bestimmt nicht aus Liebe zur Natur hier. Sie wollten doch nicht etwa…
Das ging mich nichts an.
Und das wusste ich. Wenn ich jetzt dazwischen gehen würde, wäre Lea wütend auf mich. Sie wollte das und ich wusste dass sie keinerlei Hemmungen in die Richtung hatte. Aber sie waren doch erst 15…
Ihr Weg spann sich im Bogen um meinen herum – würde ich jetzt loslaufen, könnte ich vor ihnen an einem Punkt sein, an dem die Wege sich näher kommen würden und könnte ihnen rein zufällig über den Weg laufen – Lea würde kochen vor Wut und sie würde bestimmt irgendeinen Weg finden mich zu bestrafen. Aber ich fand das, was sie vorhatten falsch und deswegen würde ich etwas tun. Es konnte ja schlecht falsch sein, dass zu tun, was man als richtig empfand, oder?
Also packte ich den Rest meines Brotes schnell weg, riss mir den Rucksack auf den Rücken und rannte. Ich rannte in etwa eine halbe Stunde – wenn man bedachte, dass ich davor noch ein paar Stunden bergauf gewandert war und der Weg nicht weniger steil wurde, war das gar keine so schlechte Bilanz. Schließlich kam ich an eine Stelle, von der aus die beiden Wege offen lagen. Dafür lag zwischen ihnen aber ein in etwa drei Meter hoher Abhang, der verdammt steil war. Und genau an diesem Abhang stand ich jetzt und blickte auf die trockene Erde hinab – obwohl, dass war keine Erde. Das waren Steine. Große und kleine. Über mir sah es genauso aus. Steine über Steine.
Ich war vom Rennen erschöpft, also stützte ich mich auf meinen Knien ab. Lea und Nate würden noch ein bisschen brauchen, bis sie hier ankamen. Aber wenn sie es taten, wie sollte ich mich hinstellen? Ich könnte warten bis sie kommen und dann so tun als würde ich den Weg weiter entlanglaufen. Aber nein, dass würde sie ja nicht daran hindern, weiter zu gehen. Am besten wäre es, ich setzte mich an den Abhang und tat so, als wüsste ich den Weg zurück nicht mehr. Ja, so würde ich sie dazu bringen, mich zurück zu führen.
„Klick“, machte es hinter mir. Ich drehte mich um. Dort kam einer der Steine, die hier herumlagen – ein Kleiner – aus einer ziemlichen Höhe heruntergekullert, wahrscheinlich durch irgendein Tier angestoßen. Er war noch ziemlich weit über mir. Jeder andere hätte sich jetzt wieder umgedreht und seinen Plan weiterverfolgt. Ich nicht. Ich betrachtete den Stein und seinen Abwärtsweg aus einem reinen Gefühl heraus voller Entsetzten. Ich sah, wie der kleine Stein immer mehr andere kleine Steine anstieß. Und diese kleinen Steine stießen Große an. Und diese Großen stießen andere Große an. Und die stießen noch Größere an. Die Chancen, dass das, was ich gerade beobachtete, geschah standen in etwa eins zu einer Millionen.
Direkt vor meinen Augen löste sich ein Steinschlag aus.
Ich stand stumm und starr vor Angst. Immer lauter wurde das Krachen und Kracken der Steine. Stein auf Stein, Stein auf Erde, Stein auf Boden. Wie eine Lawine rollten sie auf mich zu. Überwältigend, riesig, mächtig. Gefährlich. Tödlich. Machtlos betrachtete ich, wie sich mir die Gewalt der Schöpfung entgegenstellte.
Gott, ich flehe dich an. Rette mich. Sandte ich ein Stoßgebet zum Himmel. Sarah. Mom. Nikki. Michael. Kilian.
Hilfe.
Und dann erreichte es mich. Tausende kleine Steinchen bohrten sich mit einem unglaublichen Schwung in meinen Körper und schickten kleine Schockwellen Schmerz durch ihn, so als wollten sie mir einen Vorgeschmack meines Endes bieten. Dann rissen mich die größeren Steine um. Hilflos wurde ich den Berg hinuntergezerrt, gedrückt, gequetscht. Ich kann den Schmerz, den ich in diesen Sekunden empfand, nicht einmal beschreiben. Ich hörte das Geräusch von Steinen auf Haut. Hörte das Geräusch von krachenden Knochen. Spürte, wie ich krampfhaft nach Halt suchte. Hoffnungslos. Schwach. Ängstlich. Winzig gegenüber der unglaublichen Macht der Natur.
Und dann war es vorbei. So schnell wie es gekommen war endete es auch wieder.
Dort lag ich. Begraben unter einem Haufen Steine, der sich anfühlte, als würde er tausende von Tonnen wiegen. Schmerz erfüllt meinen Körper und ich spürte, wie sich die erlösende Ohnmacht anbahnte. Mein Kopf war unbeschädigt – vielleicht ein paar Kratzer, aber er lag sogar außerhalb des Haufens. Der Rest meines Körpers war begraben und einem unglaublichen Druck ausgesetzt – wie hielt ich das nur aus? Ich konnte mein rechtes Bein nicht bewegen – nicht nur, weil es eingequetscht war. Ich hatte es mir gebrochen. Mein linkes tat zwar sehr weh, ließ sich aber noch bewegen. Im Allgemeinen schien ich mir ansonsten nichts gebrochen zu haben – na ja, vielleicht noch ein paar Rippen.
Ich hatte Angst. Nackte Angst. Panik erfüllte mich. Ich spürte Adrenalin durch meinen Körper zucken. Spürte wie die Bewusstlosigkeit versuchte mich in ihre weichen, schwarzen Fänge zu zerren. Wollte ich das? Ich wusste, ich würde keinen Schmerz mehr fühlen, wenn ich in Ohnmacht fallen würde. Ich müsste diese unendlichen Qualen nicht mehr ertragen…
Michael und Nikki! , argumentierte ich in meinem Kopf.
Die werden auch ohne mich klar kommen.
Mom!
Sie hat mir oft genug gesagt, wie sehr sie mich hasst.
Kilian!
Was hat er überhaupt damit zu tun.
Sarah!
Mir fiel kein Gegenargument ein. Sarah war allein mit Mom, wenn ich ging. Sie würde um mich trauern. Sie würde Moms Trunkenheitsanfälle ertragen müssen. Sie würde so gut wie alleine zu Recht kommen müssen.
Nein das konnte ich ihr nicht antun. Ich würde diesen Schmerz ertragen!
Ich würde überleben!
„HILFE!“, schrie ich aus vollem Hals, „HILFE! RETTET MICH, SO HELFT MIR DOCH!!“
Lea und Nate. Sie würden hier entlang kommen. Sie mussten mich hören.
„HILFE!“, schrie ich wieder und legte all meine Verzweiflung in den Schrei. Und so schrie ich. Immer wieder, immer lauter, immer verzweifelter immer hilfloser.
„Hallo? Ist da wer?“, antwortete Nate und kam mit Lea um die Ecke.
„HIER, HILFE!“, schrie ich, als ich sie sah.
Sie sahen mich an, wie ich dort unter einem Haufen Steine begraben lag, zerkratzt, verletzt, blutend, bewegungsunfähig, der Ohnmacht nahe und schreiend.
„Oh Gott!“, schrie Lea und deckte sich die Augen angewidert ab.
„Warte, wir helfen dir!“, sagte Nate, der eindeutig mehr verstand, in welcher Lage ich mich befand.
Er rannte auf mich zu und begann Steine von mir abzuräumen. Er fing oben an – Scheiße, wie hoch war dieser Haufen eigentlich?!
Lea stand zuerst nur daneben, aber irgendwann sah sie sich gezwungen auch zu helfen, da sie ihr gutes Image vor Nate nicht verlieren durfte.
Und so arbeiteten sie. Stein um Stein wurde mein Haufen kleiner – zumindest nahm ich das an. Ich konnte den Ort, an dem sie angefangen hatten Steine abzutragen nicht einmal sehen. Die Kante des Haufens die ich sehen konnte war noch immer unberührt.
Da geschah es – Lea ließ sich einen Stein – in etwa so groß wie mein Daumen - auf den Fuß fallen.
„AUUU!“, schrie sie entsetzt auf und ließ sich beinahe auf der Stelle auf den Hintern plumpsen.
„Lea?!“, rief Nate und ließ einen Stein, den er soeben hochgenommen hatte wieder auf den Haufen fallen um zu Lea zu rennen.
„Mein Zeh!“, schluchzte diese und hielt sich den Fuß.
„Zieh den Schuh aus!“, befahl er ihr und betrachtete den Fuß genau. Ich konnte ihn auch sehen – er sah ganz normal aus. Nicht einmal ein blauer Fleck.
„Wir sollten dich besser zurück bringen!“, meinte Nate.
Lea nickte und stellte sich auf. Doch dann krachte sie – scheinbar – ein und hielte sich erneut am Fuß „Ich kann nicht laufen!“, schreiend.
„Ich trage dich“, erklärte Nate und beugte sich mit dem Rücken in ihre Richtung hinab, um sie Huckepack zu tragen.
„Aber…“, wollte ich, schwächelnd, widersprechen. Wie lange konnte ich noch gegen die Ohnmacht ankämpfen?
„Oh, tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, gab mir Nate verächtlich zur Antwort und ging mit Lea auf dem Rücken davon.
Immer kleiner wurden sie, bis sie schließlich um eine Ecke bogen und ich sie nicht mehr sehen konnte.
War das ein Witz? Hatten sie mich gerade mir selbst überlassen, die ich immer noch unter Steinen begraben war? Mit den Worten „Tu nicht so als könntest du den Rest nicht alleine schaffen“, während Lea sich noch nicht einmal einen blauen Fleck zugezogen hatte?!
Ich würde sterben. Das wusste ich. Die beiden waren meine letzte Chance gewesen. Meine Hoffnung auf Rettung.
„Es tut mir leid, Sarah, so leid…“, murmelte ich mit letzter Kraft. Dann wurde alles um mich herum schwarz, als ich der Bewusstlosigkeit unterlag. Sie würde das letzte sein, was ich fühlte – vielleicht war sie auch gar nicht die Ohnmacht. Vielleicht war diese sanfte, schwarze Watte der Tod.
Tapp.
Was?
Tapp.
Was war das?
Tapp.
Aaah – das war mein Kopf, wie er unentwegt gegen etwas Weiches und gleichzeitig stabiles und starkes schlug – nun ja, nicht wirklich schlug. Er lag nur daran und es bewegte sich.
Woran?
Ich wollte meine Augen nicht öffnen. Ich hatte das Gefühl, dass ich das nicht überleben würde. Aber ich tat es.
Sanfte Arme hatten sich um mich geschlossen. Besser gesagt waren einer unter meinen Kniehöhlen und der andere unter meinen Schultern. Ich wurde getragen. Und mein Kopf hatte gegen eine Brust geschlagen- definitiv die Brust eines Mannes. War Nate zurück gekommen?
Ich blickte auf, wobei die Anstrengung erneut Wellen des Schmerzes durch meinen Körper schickte. Ich spürte, wie die Bewusstlosigkeit wieder versuchte, mich zu ihr zu holen.
Rote Augen.
„Kilian?“, fragte ich, mit schwacher Stimme, die sich eher nach einem kleinen Piepsen anhörte. Aber ich musste fragen. Ich konnte nicht klar sehen.
„Ja“, war die Antwort.
„Hast… du mich gerettet?“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen.
„Ich denke so kann man es nennen. Ich habe die Steine von dir herunter geräumt und bring dich jetzt zur Kaserne zurück.“
Ein schwaches Lächeln durchzuckte meine Mundwinkel, was ich bei dem darauf folgenden Schmerz auf der Stelle bereute. Kilian hielt sich noch an das Spiel – vielleicht hatte er sich auch einfach schon daran gewöhnt.
„Es war ein Stein-“, wollte ich meine Situation erklären, obwohl es meine Kraft herausforderte, doch Kilian unterbrach mich.
„Sprich nicht. Das tut dir nicht gut – ich sehe, dass es dich viel zu sehr anstrengt. Es war ein Steinschlag – du hast in deiner Ohnmacht andauernd vor dich hingemurmelt und soviel hätte sich wohl jeder denken können“, sagte er bestimmt.
Jeder andere hätte das als kalt empfunden, denn Kilians Stimme zeigte nicht einmal ansatzweise Besorgnis. Doch ich konnte sie hören. Ob ich sie mir nur einbildete, oder ich Kilian einfach nur gut genug verstand, um zu wissen, dass er besorgt war, konnte ich aber nicht sagen.
Ich versuchte dankbar zu lächeln, doch ich konnte nicht. Ich konnte auch meinen Kopf nicht mehr selbst stützen, also ließ ich ihn auf Kilians Brust fallen.
Aber wieso war er überhaupt so weit von der Kaserne entfernt gewesen? Hatte er nach mir gesucht? Wieso sollte er? Oder war er auch nur wandern gegangen?
„Wie…“, setzte ich erneut an.
„Sshh!“, machte Kilian, „Wenn du fragen willst, warum ich überhaupt da war, dann ist die Antwort, dass ich nach dir gesucht habe.“
Ich hätte ihm gerne verwundert in die Augen gesehen, doch dafür hätte ich meinen Kopf heben müssen.
„Du hast gesagt, du würdest spätestens um 15 Uhr wieder kommen. Du warst aber nicht da“, führte er seine Antwort aus, „und es passt nicht zu dir, falsche Versprechungen zu geben.“
Mir stiegen die Tränen in die Augen. Kilian hatte mir mein Leben gerettet. Und er schien es als absolut normal und selbstverständlich anzusehen, genauso wie die Tatsache, dass er so unerschütterliches Vertrauen in mich hatte.
Plötzlich fing ich an unkontrolliert zu weinen. Es brach alles auf mich ein. Ich wäre fast gestorben. Menschen hatten es gesehen, aber hatten mich zum sterben zurückgelassen. Ich hatte selbst an mein Ende geglaubt. Immer weiter floss der Strom aus Tränen und Kilian unternahm nichts. Ich war ihm dankbar dafür. Ich musste weinen. Ansonsten hätte sich nur alles in mir aufgestaut. Ich musste es wenigstens einmal rauslassen. Und ehe ich mich versah, weinte ich nicht mehr, weil ich fast gestorben wäre, sondern weil meine Verantwortung mich zu zerquetschen drohte. Weil mein Vater mich eiskalt im Stich gelassen hatte. Weil meine Mutter mir immer wieder sagte, wie sehr sie mich hasste. Weil sie mich schon ein paar Mal geschlagen hatte. Weil sich jeder immer auf mich verließ. Weil ich allein war. Weil ich nichts hatte, an dem ich mich festhalten konnte. Weil mein Kummer zu groß und zu schwer war, als dass ich ihn einfach auf meinen Schultern hätte tragen können. Weil es einfach alles zu viel für mich war.
Kilian tat mir leid. Er musste all diese Tränen, deren Gründe er nicht einmal kannte und für die er nicht einmal ansatzweise verantwortlich war mit ansehen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war so weit geschwächt, dass ich ja nicht mal meine Augen schließen konnte.
Kilian ging einfach weiter. Ich spürte die Bewegungen seines Körpers, fühlte die wärme seiner Arme. Keine Wärme als wäre er ein Heizofen. Kilian war etwas kälter – in etwa so, wie man sich fühlte, wenn man sich in Decken einwickelte. Es war angenehm.
Und so fiel ich wieder in Ohnmacht. Vielleicht schlief ich auch nur ein. Ich konnte es nicht mehr unterscheiden.
Stunden später wachte ich wieder auf. Kilian hatte mich die ganze Zeit getragen und ich erkannte den Weg wieder – wir waren nur noch Minuten von der Kaserne entfernt.
„Danke“, murmelte ich. Es tat immer noch weh und war immer noch sehr Kräfte zerrend, doch ich war fest entschlossen, ihm klar zu machen, dass ich das nicht als selbstverständlich ansah.
„Du hast mich so weit getragen. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll“, sagte ich und versuchte ihm in die Augen zu sehen, was natürlich nicht ging, da ich meinen Kopf noch immer nicht heben konnte.
„So schwer bist du nicht“, sagte er, und ich meinte aus seiner Stimme einen etwas seltsamen Ton herauszuhören.
„Eigentlich bist du viel zu leicht für deine Größe“, sagte er schließlich.
Er dachte doch nicht, dass ich magersüchtig war?
Es stimmte, ich war zu leicht, aber dass lag nur daran, dass wir nicht wirklich viel zu Essen zu Hause hatten und ich weder Mom noch Sarah wegen mir auf Diät hätte schicken können.
„Bin so geboren“, log ich und war froh, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.
„Du lügst“, stellte er ohne jeden Zweifel fest.
Entsetzt hielt ich die Luft an, was sich als keine gute Idee erwies, da mein Körper den Sauerstoff benötigte. Blitzschnell wurde ich weißer als eine Wolke und spürte das Blut beinahe schon stoppen. Keuchend schnappte ich nach Luft und Kilian sah auf mich herab, wie ich klein und schwach meinen Kopf an seine Brust lehnte und versuchte zu atmen.
„Du hast… viel erzählt“; sagte er, „Während du ohnmächtig warst. Sehr viel.“
Oh Gott.
Was hatte ich ihm erzählt?
„Was…“, setzte ich an, doch er unterbrach mich.
„So ziemlich alles, denke ich. Über deinen Vater, deine Mutter und den Alkohol, deine Schwester, Lea“, zählte er auf.
Ich wurde wieder blass. Er wusste alles. Aber was würde er jetzt tun? Mich erpressen? Nein, dass passte nicht zu Kilian. Aber was sollte er sonst tun? Außer für Erpressung konnte man das alles nicht benutzen. Vielleicht würde er also gar nichts tun.
Plötzlich spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Er würde mir aus dem Weg gehen. Wer wollte schon mit einem Wrack wie mir befreundet sein? Er würde mich meiden.
Die Kaserne kam immer mehr in Sicht – ein Haufen Leute fusselten über den Hof, aber da wir aus dem Wald kamen, sah uns wahrscheinlich noch niemand.
„Bitte“, sagte ich plötzlich, ohne dass ich es geplant hatte, „hass mich nicht.“
Was? Wie konnte ich nur etwas so selbstsüchtiges und unbegründetes verlangen? Ob er mich hasste oder nicht war allein seine Sache. Ich hatte da kein Entscheidungsrecht.
Wie erwartet gab Kilian keine Antwort. Er war bestimmt wütend auf mich – erst musste er mich so weit tragen, meine Tränen und mein Selbstmitleid ertragen und jetzt wurde ich auch noch selbstsüchtig!
Stumm ging er weiter und wir näherten uns der Kaserne immer mehr. Ich hätte so gern sein Gesicht gesehen, aber ich lag noch immer schlaff und leblos in seinen Armen.
„HOPE!“, hörte ich zwei Menschen auf einmal schreien.
Trampelnde Schritte, immer mehr Schreie, Finger die auf mich deuteten, entsetztes Keuchen, panische Bewegungen.
In weniger als zwei Sekunden hatte mich der ganze Hof bemerkt, allen voran Nikki und Michael.
Sie kamen auf uns zu gerannt, meinen Namen immer wieder schreiend.
Doch ich konnte sie nicht ansehen. Ich konnte nur immer nach vorne, auf meine eigenen Beine schauen, da ich meinen Kopf nicht rühren konnte.
„Gott, Hope, was ist passiert?!“, rief Nikki als sie bei uns ankam.
„Steinschlag“, gab ich schwach zur Antwort. Für einen ganzen Satz reichte mein Atem nicht mehr.
„Gib sie her – du musst fertig sein“, meinte Michael und streckte seine Hände aus, um mich in Empfang zu nehmen.
Gleich würde mich Kilian an ihn übergeben, und dass wäre es. Danach würden wir nie wieder Freunde sein.
Nein!
Meine rechte Hand, die bis dahin nutzlos und unbeweglich in meinem Schoss gelegen hatte, krallte sich in Kilians T-Shirt. Am liebsten hätte ich „Lass mich nicht los!“, geschrien, um meinem Wunsch Form zu verleihen, doch ich konnte nicht. Ich hätte nicht einmal in Zimmerlautstärke sprechen können.
„Es geht schon“, gab Kilian zur Antwort und machte keinen Ansatz mich loszulassen.
Ich war überrascht. Vielleicht – unter Umständen, die ich mir nicht einmal zu erträumen wagte – hasste er mich ja gar nicht? Vielleicht könnten wir Freunde bleiben?
Wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Hätte ich es gekonnt hätte ich jetzt auch meine andere Hand in sein T-Shirt gekrallt und meinen Kopf darin versenkt. Aber es ging nicht.
Stattdessen blieb ich, stumm und glücklich, einfach vollkommen hilflos in seinen Armen. Wie gern hätte ich jetzt etwas getan.
Immer mehr Leute fingen an zu schreien, ich hörte das Getippe von Handytasten – riefen sie einen Krankenwagen oder informierten sie nur andere über mich?
Schließlich kam es, wie es kommen musste und Frau Mitchell kam angerannt. Ich hatte erwartet, dass dieser Zwischenfall ihr ihre beschwichtigende Ruhe und Reife nehmen würde, aber nein, sie war so verantwortungsbewusst und rational wie eh und je.
„Ich habe einen Krankenwagen gerufen, sie können aber erst in einer Viertelstunde kommen. Hältst du es solange aus?“, fragte sie mich mit ernstem Blick.
Sie wollte eine ehrliche Antwort – kein Ja, dass in Wirklichkeit ein Nein war, und nur beruhigen sollte.
„Ich…“, zwang ich meinen Mund sich zu öffnen, „hoffe es.“
Frau Mitchell nickte und drehte sich dann von mir weg um den in Panik geratenen Hof in Ordnung zu bringen – was dort wohl vor sich ging? Sahen mich die anderen mit Entsetzen, Besorgnis oder mit Ekel an? Zu gern hätte ich meinen Kopf gewendet.
Mein Körper war nicht ein Stückchen angespannt – alles was mich hielt, war Kilian. Ich lag nicht wirklich in seinen Armen – ich hing. So schlaff und reglos wie eine Puppe.
Und seltsamerweise schien Kilian zu begreifen, dass ich meinen Kopf nicht selbst drehen konnte, aber trotzdem wissen wollte, was vor sich ging, denn er drehte sich so, dass ich einen Blick auf den Hof hatte, während er selbst den Kopf in dieselbe Richtung wandte.
„Hope, geht’s dir wirklich gut?“, fragte mich Michael.
Doch ich konnte nicht mehr. Meinen Mund zu öffnen wäre einfach zu viel gewesen. Ich musste ihn geschlossen lassen und Michael innerlich um Verzeihung bitten.
„Hope?“, fragte er erneut.
„Zwing sie nicht, zu sprechen. Sie kann nicht einmal ihren Kopf bewegen. Zu sprechen ist zu schwer für sie in diesem Zustand“, verteidigte mich Kilian.
Sogar wenn ich in diesem Moment hätte sprechen können, hätte ich es nie geschafft, meine Dankbarkeit gegenüber ihm in Worte zu fassen.
„KRIEGT EUCH WIEDER EIN!“, schrie Frau Mitchell über die laute, brüllende, weinende, entsetzte Meute hinweg.
Alle sahen mich an, als wäre ich das Schrecklichste, das ihnen in ihrem ganzen Leben begegnet war. Warum konnten nicht alle so ruhig bleiben wie Kilian und Frau Mitchell?
„Geht jetzt bitte alle in eure Schlafsääle oder Bungalows zurück, um eine unnötige Aufregung, die den Krankenwagen behindern würde zu vermeiden! Wir werden euch später alles erklären!“, befahl Frau Mitchell und alles gehorchte – wie von ihr zu erwarten, hatte sie ihre Schüler perfekt im Griff.
Langsam teilten sich die Jugendlichen auf und gingen zu ihren Bungalows oder zum Hauptgebäude. Die meisten drehten sich noch einmal um – nur wenige schienen zu verstehen, dass ich diese ganze Aufmerksamkeit hasste.
Als schließlich alle bis auf Kilian, Nikki und Michael gegangen waren, kam der Krankenwagen. Mit heulenden Sirenen und viel zu auffälligen Geräuschen fuhr er in den Hof ein – gab es hier doch eine Straße für Autos oder waren sie denselben Weg, den wir am Vortag gewandert waren hinaufgefahren? Es gab wohl doch einige Unterschiede zwischen gewöhnlichen Bussen und Krankenwagen.
Schnell sprangen aus den vorderen Türen zwei Männer – Krankenhelfer? Wie nannte man die Menschen, die in Krankenwagen arbeiteten eigentlich? Wenn ich wieder gesund war, würde ich es definitiv herausfinden.
„Ich rufe deine Mutter an“, sagte Frau Mitchell ehe Kilian mich auf einer Trage ablegte, die die Krankenhelfer, die kaum einen Blick auf mich hatten werfen müssen um ihre Bewegungen zu beschleunigen, aus dem Wagen schoben.
„Pass auf dich auf“, sagte Kilian und schenkte mir sein unbeschreibliches Lächeln. An Kilian war so viel unbeschreiblich. Nicht nur sein Aussehen. Auch sein Charakter. Er war ein Mensch, den es kein zweites Mal gab.
Er legte mich so ab, dass es mir nicht noch mehr wehtat, als es sowieso schon tat und trat zurück.
Ich wollte ihm nachschauen, während die Trage in den Krankenwagen geschoben wurde. Doch mein Kopf machte mir wieder einen Strich durch die Rechnung.
„Wir spritzen dir jetzt ein Schmerzmittel“, sagte einer der beiden Männer zu mir und hantierte mit einer Spritze herum, als ich auf der Trage befestigt, in den Krankenwagen geschoben und die Türen geschlossen waren, „Du wirst gleich einschlafen.“
Er saß neben mir auf einer von diesen komischen Bänken, die es in Krankenwagen gibt. Ich war noch nie in einem gewesen. Erstaunlich wie realistisch sie in Filmen doch aussahen – ich hatte etwas anderes erwartet.
Während ich mich also erstaunt umsah behielt der Mann recht – nachdem er mir die Spritze verpasst hatte dauerte es weniger als eine Minute bis mich der Schlaf zu sich rief. Ich hatte kaum Zeit um das Ruckeln des Wagens zu bemerken, so schnell ging es. Es gab wohl keinen besonderen Weg für Autos.