Geschichten einer schwarzen Rose
Kilian - Kapitel 4
In der Schule unterhielten Kilian und ich uns jetzt hin und wieder in den Pausen. Meisten aber nur irgendein Smalltalk.
Die Mädchen, die auf mich losgegangen waren, verhielten sich - höchstwahrscheinlich wegen Michael und Nikki - trotzdem still. Das gab mir allerdings umso mehr das Gefühl, dass das Ganze nur die Ruhe vor dem Sturm war und ich mich ernsthaft in Gefahr befand. Aber was sollte ich schon tun, außer abzuwarten? Wenn irgendetwas geschah würde ich reagieren oder es einfach über mich ergehen lassen müssen.
Um zu Lea zu kommen… da sie und Nate durch Zufall beide in meiner Klasse waren, hatte sie für gewöhnlich einfach keine Zeit um mich fertig zu machen, da sie zu sehr mit herumknutschen beschäftigt war. Wenn man das Klassenzimmer betrat konnte man sich darauf gefasst machen die beiden eng umschlugen herumstehen zu sehen. Und im Allgemeinen hielten sie meistens Händchen, wenn sie Freizeit hatten. Schließlich hatten sie als beliebtestes Pärchen der Schule so ziemlich denselben Freundeskreis.
Und so verging der Rest der Woche – bis dann schließlich der Tag des Ausflugs kam.
Am morgen musste ich sehr früh aufstehen, um Sarah aus dem Weg zu gehen – wir hatten uns schon am Abend verabschiedet, da ich es mir nicht leisten konnte zu spät zu kommen, nur weil Sarah sich an mir festklammerte und mich nicht gehen lassen wollte. Und das hätte sie bestimmt getan.
Ein anderer Grund, aus dem ich so früh los musste war der, dass wir uns mit unseren Taschen beladen an der Schule trafen um von dort aus mit dem Bus weiter zu fahren, und ich natürlich nicht mein Fahrrad für eine Woche an der Schule stehen lassen konnte, also zu Fuß laufen musste.
Als ich ankam hatte ich da Gefühl, dass meine Taschen mich jeden Augenblick erdrücken würden und dass es ein Wunder war, dass meine Füße mir noch nicht abgefallen waren.
„Hoooooope! HOPE! Hier sind wir!“, rief mir Michael zu, als ich zu den beiden Busen kam, die vor dem Schulgebäude auf dem grauen Parkplatz standen um uns mitzunehmen. Es waren etwas ältere, aber dennoch zweistöckige Reisebusse, die unten ein Fach hatten, das nur für Gepäck reserviert war.
Vor eben diesem Fach standen jetzt Michael, Nikki und Kilian. Kilian und Michael hatten sich – was mich ehrlich verwundert hatte – in der letzten Woche angefreundet, wobei ich anscheinend die Überbrückung geboten hatte.
„Gib her“, sagte Michael als ich bei ihnen ankam und nahm mir eine meiner beiden Taschen ab um sie hineinzuschmeißen, während Kilian sich um die andere kümmerte.
„Danke“, sagte ich.
„Keine Ursache“, meinte Michael und begann – aus dem nichts heraus – mit Nikki über irgendetwas, das ich nicht wirklich verstand zu reden: „Hast du’s gehört?“
Nikki, die da mehr als normal zu finden schien antwortete: „Klar, wie könnte ich mich sonst einen Fan nennen!“
„Musik?“, fragte ich Kilian, da ich wusste, dass Michael und Nikki längst in ihrer eigenen kleinen Welt und nicht mehr wirklich ansprechbar waren.
„Hört sich so an“, stimmte er mir zu.
„Was hörst du denn so für Musik?“, fragte ich, nur so nebenbei, da ich keine erdrückende zwischen uns haben wollte.
„Metal“, antwortete er und sah mich an, als würde er eine ihm bereits bekannte Reaktion erwarten.
„Aha? Ich hab nicht wirklich was gegen Metal, aber es ist einfach nicht meine Musik. Ich mag eher Alternativ Rock wie „Nickelback“ oder „My Chemical Romance“, gab ich meine Meinung zum Besten.
„Jemals von der „Neuen deutschen Härte“ gehört?“, fragte er mich.
„Deutsch? Ich hab nicht viel mit Deutschland am Hut“, antwortete ich, „Und was ist das?“
„Schwer zu sagen. Eine Art Mischung aus Rock und Metal, immer auf Deutsch gesungen.“
Ich lehnte mich jetzt an den Bus, während Kilian mir gegenüber stand.
„Sie ist aber trotzdem eher in anderen Ländern als in Deutschland verbreitet. Es scheint so, als wollten die Deutschen ihre eigenen Bands einfach nicht anerkennen“, fuhr er fort.
„Wie heißt es so schön „Der Philosoph wird überall anerkannt, nur im eigenen Land nicht““, antwortete ich nachdenklich.
Kilian lächelte mich wieder mit diesem unglaublichen Lächeln an: „So kann man es natürlich auch sehen.“
„HEY! Alle herkommen!“, hörte ich Frau Mitchell schreien.
Sie stand in der Nähe des ersten Busses zusammen mit einem bulligen Mann mit schwarzen Haaren und Wikingerbart. Der Klassenlehrer unserer Parallelklasse – Herr Peterson, wenn ich mich nicht irrte.
Wir setzten uns alle in Bewegung und versammelten uns im Halbkreis um sie herum.
„48…49…50. Gut, es sind alle da. Und so wie ich es sehe, habt ihr auch schon alle euer Gepäck eingeräumt. Steigt jetzt bitte in die Busse ein“, erklärte Frau Mitchell.
Auf der Stelle wurde aus der ruhigen Szenerie das reinste Chaos – verständlich.
Alle wollten in denselben Bus wie ihre Freunde, und dann am Besten noch gleich zwei Sitzplätze nebeneinander ergattern.
„Hope, nimm meine Hand!“, rief mir Nikki in dem Getümmel zu. Ich sah in ihre Richtung und ergriff ihre Hand. Und dann begannen wir uns – beide etwas unwillig – durch die Menge auf einen Bus zuzuquetschen.
Auch wenn ich in ihre Richtung sah, konnte ich Nikki nicht, sehen, da überall Köpfe aneinander rammten und alle herumdrängelten.
Schließlich drückten wir uns durch die Tür eines Busses, Nikki hinter mir.
Langsam wurde es ruhiger, aber ich hatte immer noch keine Zeit um mich nach Nikki umzudrehen, da ich dann alle aufgehalten hätte.
Also zerrte ich sie auf zwei freie Sitzplätze. Als wir endlich saßen herrschte der Tumult zwar weiter, aber jetzt ging er uns nichts mehr an, wir hatten unsere Sitzplätze.
Ich drehte mich zu Nikki herum.
Ich wäre vor Schock fast gestorben – neben mir saß nicht Nikki, sondern Kilian. Warum war es mir nicht früher aufgefallen – Nikki, unwillig beim sich durch die Menge drängelnd? Jetzt, wo ich darüber nachdachte, hatte es von vornherein keinen Sinn ergeben. Außerdem war Nikkis Hand auch etwas schmaler als Kilians und ihr Händedruck wohl schwächer.
„Oh Gott, es tut mir leid! Ich dachte du wärst Nikki! Ehrlich, ich wollte dich nicht irgendwohin mitzerren!“, entschuldigte ich mich hastig und warf Kilian einen Blick zu, der mehr als nur deutlich sagte wie verzweifelte ich darauf hoffte, dass er mir glaubte.
„Ist schon okay“, gab er kurz zur Antwort, „Ist ja auch nicht so wichtig.“
Oh Gott sei Dank!
Wieso war die Vorstellung eines Kilians, der wütend auf mich war und mich für irgendein unverschämtes, billiges Mädchen hielt so unangenehm? Wahrscheinlich nur, weil ich Missverständnisse vermeiden wollte.
Erleichtert ließ ich mich in meinen Sitz zurücksinken. Ich wusste, dass mittlerweile jedes einzelne Mädchen in diesem Bus wusste, dass ich und Kilian nebeneinander saßen und dass das auf meinem Mist gewachsen war. Ach was, die in den anderen Bussen wahrscheinlich auch schon – wofür hatten diese ganzen Tratschtanten denn ihre Handys?
Also schaute ich ruhig aus dem Fenster – jetzt konnte ich auch nichts mehr ändern, also wäre es das schlauste, das Ganze einfach zu akzeptieren. Wenn man machtlos ist, kann man ja nicht viel anderes machen als abzuwarten und Tee zu trinken. Wir würden noch einige Stunden Bus fahren und meine Bestrafung erwartete mich frühsten am Ende dieser Fahrt – da konnte ich genauso gut versuchen meine Erschöpfung während meiner Gnadenfrist zu kurieren.
Und ehe ich mich versah war ich tief und fest eingeschlafen. Während ich schlief stieß allerdings mein Kopf immer wieder gegen die Fensterscheibe, so dass ich ein stetes, nerviges „Tock Tock Tock“ erzeugte.
Während ich also vor mich hin tockte, versuchten noch einige andere Personen in dem Bus zu schlafen, während die anderen laut lachten und schrien.
Einer von denen, die schlafen wollten, war Kilian. Weil ich aber direkt neben ihm tockte, konnte er das natürlich nicht und deswegen tat er etwas, dass ich ihm nie zugetraut hätte.
Er nahm meinen Kopf und legte ihn auf die andere Seite, so dass er nicht mehr andauernd gegen die Fensterscheibe schlug, sondern stattdessen an Kilians Schulter ruhte.
Und so schlief dann auch Kilian ein – wobei sein Kopf wiederum auf meinem lag.
Und in genau dieser Position wachte ich nichts Böses ahnend auf.
Verwundert blinzelte ich ein paar Mal, bis mir auffiel, dass ich nicht am Fenster, sondern in der entgegengesetzten Richtung lag. Und dass etwas Schweres auf meinem Schädel ruhte. Ich warf einen Blick nach oben.
Oh Gott!
Entsetzt zog ich meinen Kopf ruckartig weg, wodurch Kilians Kopf wie wild herumwackelte. Glücklicher Weise wachte er aber nicht auf.
Wie konnte er mich jetzt nicht für eines von diesen nuttigen Mädchen halten? Er würde bestimmt denken, dass es mein Ziel gewesen fahr ihn zu verführen oder so etwas… welches normale Mädchen schlief auch mit dem Kopf an einen Kerl gelehnt? Aber Kilian schlief ruhig weiter.
Vielleicht wusste er ja überhaupt nichts? Nein, wenn man logisch darüber nachdachte, hatte ja sein Kopf auf meinem gelegen, also musste ich mich zuerst zu ihm herübergelehnt haben. Aber wieso hatte er mich nicht einfach geweckt, sondern sich stattdessen auf mich gelegt? Vielleicht hatte er zu dem Zeitpunkt ja auch schon geschlafen? Und sein Kopf hatte in der anderen Richtung gelegen, bis er irgendwie auf mich gefallen war?
Ich betrachtete Kilians schlafendes Gesicht. Die glatten, reinen Züge, das leuchtend rote Haar und die vollkommene Formung seiner Lippen.. Ja, so musste es gewesen sein – dieser Junge hatte es ernsthaft nicht nötig irgendwelche Mädchen, die dann auch noch so durchschnittlich waren wie ich zu belästigen, während sie schliefen.
Aber was sollte ich jetzt tun? Ihn einfach weiterschlafen lassen und es ihm nie verraten? Nein, dass konnte ich unmöglich machen.
„Kilian?“, fragte ich etwas verschüchtert und dachte darüber nach, wie ich mich am besten entschuldigen konnte.
„Hhm?“, machte Kilian und sah mich aus seinen, wie üblich etwas distanzierten, Augen an. Hätte er denn nicht wenigstens ein bisschen verschlafen aussehen können? Nein, seine Augen waren so klar und wachsam wie eh und je und sein Blick genauso aufmerksam.
„Ich.. es tut mir leid! Als du geschlafen hast, habe ich meinen Kopf auf dich gelegt! Ich wusste es nicht, es war… ich habe auch geschlafen! Tut mir leid!“, stieß ich plötzlich hervor und starrte auf den Boden.
„Na und?“, fragte Kilian seelenruhig und blickte mich aus Augen an, die… warte kurz, hatte ich da eben ein kleines Aufflackern in seinen Augen gesehen?
„Es ist nicht so als hättest du irgendetwas falsch gemacht“, sagte Kilian.
Er… hatte recht. Ich hatte geschlafen. Normalerweise hätte jeder das hier ignoriert – wieso hatte ich das Gefühl gehabt, ich müsse mich um jeden Preis entschuldigen?
„Ahaha… du hast recht. Sorry, dass ich dich wegen so einer Kleinigkeit aufgeweckt habe“, entschuldigte ich mich erneut.
„Macht nichts. Jetzt bin ich sowieso wach, daran kann man so oder so nichts mehr ändern“, sagte Kilian, lehnte sich in seinen Sitz zurück und sah auf der Stelle so aus, als hätte er wichtigeres an das er denken musste, als die Welt um ihn herum.
Als der Bus anhielt und Kilian und ich hintereinander ausstiegen, kam Nikki, so wunderschön wie schon immer, wütend auf mich zu gerannt:
„Hope, wo warst du? Wir saßen ja nicht mal im selben Bus!“, warf sie mir erbost vor.
„Sorry, aber als ich nach deiner Hand greifen wollte, da hab ich aus Versehen die von Kilian erwischt“, antwortete ich etwas verschämt, aber ehrlich und rieb mir am Hinterkopf.
Überrascht verstummte Nikki, als sie Kilian tatsächlich hinter mir aussteigen sah.
Michael – der wie üblich zusammen mit Nikki erschienen war – fing an zu kichern, da er das Ganze anscheinend verdammt lustig fand.
„Was hast du mit meiner armen kleinen Hope gemacht?“, schrie Nikki und griff Kilian, der es mittlerweile auch aus dem Bus geschafft hatte am Handgelenk.
„….“, war seine Antwort.
Was hätte er auch sagen sollen? Das alles meine Schuld war und wenn schon jemand dann ich ihn belästigt hatte?
„Nikki, er hat überhaupt nichts gemacht“, sagte ich stattdessen.
Nikki drehte sich zu mir um: „Weiß ich doch – war nur Spaß.“
Das sagte sie, als sei es selbstverständlich. Scheiße. Da hatte ich wohl mal wieder etwas falsch verstanden.
„Hierher!“, rief hinter mir Frau Mitchell, „Kommt schon, nicht so lahm, wir müssen zur Herberge noch ein Stückchen laufen!“
Jetzt erst sah ich mich um. Die Busse hatten an einem Parkplatz vor einem Bahnhof gehalten – einem sehr alten, schäbigen Bahnhof. Es gab hier nicht einmal eine Bahnhofshalle, nur zwei Gleise und der Busbahnhof, mit genau einer Haltestelle.
Außerdem schien dieser Bahnhof die reinste Zementinsel in einem mehr aus grünem Wald und brauner Erde zu sein.
Ich liebte diese Gegend schon jetzt.
„NA LOS!“
Frau Mitchell drehte sich von uns Weg und lief auf einen schmalen Weg – Pfad? – zu, der größtenteils bergauf führte. Überhaupt waren hier überall grüne Hügel und Berge verteilt. Ein schönes Gebiet zum Wandern. Das würde ich ausnutzen.
„Und hier fahren wir hin?“
„Ich dachte wir fahren in ne Stadt!“
„Wa sollen wir denn am Arsch der Welt?!“
„Gibt’s hier überhaupt Läden?!“
In etwa so maulten alle anderen um mich herum vor sich hin – ich, Nikki, Michael und Kilian ausgenommen schien niemand allzu begeistert von diesem Ort zu sein – obwohl ich ja nicht wirklich wusste was Kilian, Nikki und Michael hiervon hielten.
Dennoch marschierten alle hinter Frau Mitchell hinterher, während der Klassenlehrer der Parallelklasse sich zurückfallen ließ und den Schluss bildete.
Schnell hatten sich alle auf dem Pfad eingefunden und kämpften sich nörgelnd und maulend den Berg hinauf.
Da der Weg nicht sehr breit war hatten wir uns automatisch alle in zweier Reihen eingeordnet. Kilian und Michael liefen vor mir und Nikki, die, wie üblich durch nichts zu entmutigen, neben mir herstapfte, plapperte ununterbrochen über ihr Pläne. Offensichtlich war ich ungefragt in viele davon eingesponnen.
„… und am Donnerstag suchen wir nach ’ner Stadt, und wenn wir keine finden, machen wir im Wald ein Picknick! Ab wahrscheinlich wissen wir bis dahin von den anderen schon, ob es hier irgendwo eine Stadt gibt. Das finden die ja bis spätestens morgen heraus. Und am Freitag wollen wir mit dem Rest in die Stadt gehen. Wenn’s keine in der Nähe gibt, machen wir was anderes, da lassen wir uns überraschen!“, erklärte sie und gestikulierte wie wild in der Luft herum
„Ähm… Nikki?“, tippte ich sie auf die Schulter.
„Huh? Sind wir da, oder was?“, fragte sie verwundert und ihre Hände hielten mitten in der Luft an.
„Nein, es ist wohl noch ein Stück“; sagte ich und blickte den Weg an. Für mich war das kein Problem – ich liebte es zu wandern. Aber der Rest meiner Stufe beschwerte sich umso mehr.
„Hope, du hörst dich genauso an wie Frau Mitchell mit ihrem „Stückchen““, kicherte Nikki, „Aber was wolltest du jetzt?“
„Ich kann morgen nicht. Ich hab schon was vor“, sagte ich.
„Was?! Wir wollten doch aber die ganze Herberge erkunden!“, rief Nikki überrascht und entsetzt.
„Nein, Nikki, ihr wolltet das. Mich hat nie jemand nach meiner Meinung gefragt. Ich kann morgen nicht“, erklärte ich bestimmt, zuckte jedoch auf der Stelle zusammen als das letzte Wort mir aus dem Mund gekommen war, als erwarte ich eine heftige Reaktion.
„Mhm“, machte Nikki nachdenklich, „Stimmt. Tut mir leid, Hope, ich hab’ einfach nicht daran gedacht, dich zu fragen.“
„Ist schon ok“, meinte ich, „aber morgen geht es eben einfach nicht.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Nikki mich neugierig.
„Ach, ich wollte nur ein bisschen im Wald herumlaufen“, gab ich wahrheitsgetreu zur Antwort.
„Pass bloß auf, dass du dich mit deinem Orientierungssinn nicht verirrst!“, kicherte Nikki und ich lief puderrot an.
Ja, mein Orientierungssinn war so gut wie nicht vorhanden. Aber ich konnte mir Wege gut einprägen, weswegen ich niemals Rundwege nahm sondern immer auf derselben Strecke zurücklief auf der ich auch gekommen war.
„Passt schon“, murmelte ich und drehte mich verschämt weg.
Nikki lachte nur wieder ihr fröhliches und offenes Lachen und – ob ich nun wollte oder nicht – ich stimmte einfach ein.
Dann fing sie wieder an mit Worten und viel zu vielen Gesten zu plappern.
Wir kamen in etwa eine halbe Stunde später bei der Herberge an – maulend, nörgelnd, quengelnd, meckernd, entnervt und – in meinem Fall zumindest – glücklich und zufrieden.
Die Herberge bestand aus einem großen, weißen Hauptgebäude mit rotem Dach, einem Spielplatz, mehreren herumstehenden weißen Bungalows, die allerdings blaue Dächer hatten, einem Pool – gut, dass ich Schwimmzeug dabei hatte! – und einem Volleyballplatz.
„Hallo!“, rief uns ein etwas beleibter Mann mit einer Vollglatze und einem netten, warmen Lächeln, der vor den Gebäuden stand zu.
Der Besitzer der Herberge, wie ich vermutete.
Während die Lehrer ihn begrüßten und Frau Mitchell nachzählte, ob wir auch alle vollständig waren, ließen wir alle unsere Taschen, die wir natürlich hatten tragen müssen, mit einem erschöpften „Klatsch!“ auf den Boden fallen und setzten und stattdessen auf sie.
Doch ehe wir eine Chance erhielten, mit dem erschöpften Gekeuche aufzuhören und mit lautem Geschnatter zu beginnen unterbrach uns der, kein bisschen erschöpfte Lehrer der Parallelklasse:
„Hört jetzt bitte alle zu!“
Er hatte eine schwächere Stimme, als sein Aussehen vermuten ließ.
Wir alle wandten unsere Köpfe dem untersetzten Mann zu, der ganz offensichtlich im Begriff war, die Regeln der Herberge zu erklären.
„Ich hab’ ne tolle Idee“, flüsterte mir Michael, der zusammen mit Nikki neben mir thronte, zu, „wir nennen ihn Kasernenleiter! Schau mal, wie er dasteht, ganz steif. Und gleich fängt er bestimmt an uns die Regeln zu sagen. Und dann könnten wir da alles hier Kaserne nennen – machen wir ein Spielchen draus!“
Wir kam Michael nur auf solche Ideen? Aber ich musste zugeben, ich hatte auch an das Wort „Kaserne“ gedacht, obwohl mir der Mann alles andere als streng erschien. Und tatsächlich hörte sich das Ganze nach einer ganz lustigen Sache an.
Also nickte ich zustimmen, während der Kasernenleiter sich mit seinem echten Namen vorstellte. Peterson. Nein, Kasernenleiter gefiel mir besser.
Und so begann der Kasernenleiter seine Regeln zu erklären, während sich die Nachricht über das Spiel tuschelnd und murmelnd unter den Schülern verbreitete und immer mehr Leute einstiegen.
„Also, zu erstmal wohnen die Mädchen im Hauptgebäude und die Jungen in den Bungalows. In jedem Bungalow ist Platz für drei und die Mädchen werden sich auf zwei große Schlafsääle einteilen. Duschen und Badezimmer sind im Hauptgebäude mehr als genug und jedes Bungalow besitzt ebenfalls eines. Es ist den Mädchen nicht erlaubt, die Bungalows zu betreten und den Jungen ist es nicht erlaubt im Hauptgebäude das erste und zweite Stockwerk zu betreten, da sich dort die Schlafsääle und Baderäume der Mädchen befinden. Im Erd- und Untergeschoss dürft ihr euch dagegen aufhalten, da sich dort der Speisesaal und mehrere Freizeiträume befinden. Zu den Mahlzeiten: Frühstück könnt ihr im Speisesaal von 7 bis 9, Mittagessen von 12 bis 14 und Abendbrot von 18 bis 20 Uhr essen. Außerdem besitzt das Hauptgebäude einige Snack- und Getränkeautomaten, die ihr für den kleinen Hunger zwischendurch nutzen könnt. Ihr dürft euch, ausgenommen die speziellen Regeln für Junge und Mädchen, die ich eben erklärt habe, auf dem Gelände und im Wald frei bewegen. Noch Fragen?“
Kasernenleiter. Perfekt.
Als keine Antwort, sondern nur belustigtes Schweigen ihm entgegen schlug, beendete der Kasernenleiter seine Ansprache mit den Worten: „Gut. Dann dürft ihr jetzt euer Gepäck wegräumen.
Krieg. Schon wieder. Ohne weitere Worte ergriff Nikki mein Handgelenk – diesmal war es ganz bestimmt Nikki, denn wir näherten uns dem Hauptgebäude – und zerrte mich auf die Glastür des Hauptgebäudes zu. Um uns herum war ein Sturm losgebrochen. Dasselbe wie bei den Bussen – alle wollten mit jemand bestimmten in einem Raum seien.
Und so riss Nikki mich durch diesen Orkan aus kreischenden Mädchen hindurch und rannte mit mir in das mit kalten Fliesen ausgelegte Gebäude, die Treppen hoch bis ins oberste Stockwerk – wir hielten nicht mal im ersten Stock, denn Nikki ahnte, dass sich hier alles stauen würde.
Der erste und zweite Stock waren genau gleich aufgebaut – die Treppe endete in einem langen, hölzernen Flur, der mit mehreren Türen bestückt war, die allesamt in Badezimmer mit zwei Toiletten und zwei Duschen führten, bis auf die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs – die führte zum Schlafsaal dieses Stockwerkes.
Als Nikki und ich als Erste in den oberen Schlafsaal rauschten, in dem mehrere Hochbetten und zu jedem Bett zwei zugehörige Schränke standen packte Nikki meine beiden Taschen und warf sie einfach auf das obere Bett des Stockbettes, das in aller Ruhe am Fenster stand und warf sich selbst mit ihren auf das untere.
Kaum war das geschehen, waren sie auch schon da. Kreischende, streitende Mädchen, die krampfhaft versuchen ein gemeinsames Hochbett zu ergattern – dabei war Nikki ein nicht unbeliebtes Ziel. Aber dadurch, dass sie meine Taschen auf das Bett über ihr geworfen hatte, hatte sie es für mich reserviert und niemand rührte es an.
Um mich herum rissen und zerrten Mädchen an ihren Taschen, um schneller voran zu kommen und schmissen sie dabei rücksichtslos um sich. Überraschend viele von diesen herumfliegenden Taschen erwischten mich. Deswegen kletterte ich schnell die Leiter zu meinem Bett hoch und versteckte mich so, vor der gnadenlosen Rücksichtslosigkeit dieser Taschen.
„Danke, Nikki“, sagte ich nach unten, da ich wusste, dass Nikki dort saß.
„Kein Problem“, sagte sie und stellte sch auf ihr Bett um ihren Kopf hervorzurecken und mich anzusehen.
Ich lächelte sie an und sie schwang sich – frage mich niemand wie sie sich in der Luft umdrehte, sie war schließlich verdammt sportlich – ohne ein weiteres Wort einfach mit einer einzigen Hand nach oben zu mir auf meine Matratze.
Und so saßen wir nebeneinander bis der Sturm genauso schnell wieder verschwand, wie er aufgetaucht war. Es hatte etwas Komisches, war aber logisch – nachdem jedes Bett vergeben war, wurde höchstens noch diskutiert und gebettelt, aber zu rennen und zu erkämpfen gab es jetzt nichts mehr.
„Lass uns auspacken“, unterbrach Nikki meine Gedanken und sprang vom Bett herunter.
Wir begannen damit, die Betten zu beziehen, dann räumten wir die Schränke ein und schließlich stellten wir unsere Kulturbeutel bereibt, um sie wenn wir ins Bad gingen einfach mitnehmen zu können.
Dann war es auch schon 19:45 Uhr.
„Lass uns besser schnell essen gehen – die meisten sind schon da und ab 8 gibt’s nichts mehr!“, sagte ich zu Nikki, während sie ihre Handtücher in den Schrank einräumte.
„Stimmt – beeilen wir uns!“, sagte sie und wir verließen den Schlafsaal als Letzte, um in den Speisesaal zu gehen.

Gießen