Geschichten einer schwarzen Rose
Kilian - Kapitel 3
Leise öffnete ich die Haustür. Mom und Sarah schliefen noch, aber ich hatte noch einiges zu tun.
Zuerst musste ich einkaufen gehen – wir hatten so gut wie nichts mehr zu Essen zu Hause. Außerdem war auch das Katzenfutter für fast ausgegangen. Danach musste ich Lea meine Hausaufgaben vorbeibringen – zum Abschreiben, wie mir klar war. Außerdem würde sie höchstwahrscheinlich (wenn ich schon einmal da war) auch noch von mir verlangen irgendwelche Besorgungen zu machen. Solche Dinge wie Anti-Pickelcreme oder Binden konnte sie ja nicht selber kaufen. Das würde ihr „Image“ zerstören. Und dann wäre es wahrscheinlich auch schon an der Zeit, dass ich mich mit Michael, Nikki und diesen anderen Leuten am Kino traf.
Also schloss ich die Tür hinter mir ab und schwang mich im Morgengrauen aufs Fahrrad. Der Weg bis zum nächsten Supermarkt war relativ lang.
Das Einkaufen verlief relativ problemlos. War ja alles keine große Sache.
Aber schon als ich die Nähe von Leas Haus kam konnte ich hören wie jemand angewidert die Nase rümpfte. Überrascht blickte ich mich um – eigentlich hatte mich jeder der in diesem Gebiet der Reichen lebte schon mindestens einmal gesehen.
Oh, Neuankömmlinge.
An der Straßenseite standen dutzende von Möbelpackerwägen und überall schienen irgendwelche Arbeiter herumzufusseln, die alle schwer beschäftigt waren.
Und am Rand von alldem stand -sehr klischeehaft, aber wahr- eine junge Frau und schrie Dinge wie „Passen Sie bloß auf, dass Sie nichts kaputt machen!“
Und anscheinend war es auch diese Frau gewesen, die mich mit so verächtlichen Blicken bedacht hatte.
Und sie sah mich immer noch an, wie ich da auf meinem Fahrrad kurz gestoppt hatte, um dieses Haus zu bestaunen.
Wen Leas Haus groß war, dann war dieses hier riesig, nein monströs, nein gigantisch!
Es war mindestens fünfmal so groß, wenn nicht sogar noch mehr – es war wohl die größte Villa in der ganzen Gegend. Und hier waren alle Häuser in etwa zehnmal so groß wie normale Häuser.
Ganz egal, aber auf jeden Fall mussten diese Neuhinzugezogen verdammt reich sein um sich so etwas leisten zu können.
„Willst du was?“, schnauzte mich die Frau herablassend an. Auf keinen Fall war sie die „Frau des Hauses“. Sie war höchsten zwei Jahre älter als ich – noch nicht mal aus der Schule gekommen – obwohl... man hört ja immer wieder solche Geschichten… Aber nein. Das traute ich dieser Frau nicht zu.
„Äh nein, Entschuldigung!“, antwortete ich und machte mich schnell wieder auf den weg ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich hatte ja eigentlich sowieso keine Zeit. Es war mittlerweile schon Mittag und nur noch 10 Minuten von der mit Lea verabredeten Zeit.
Als ich vor ihrem Haus vorfuhr und aus dem Sattel sprang schmiss ich mein Fahrrad schnell gegen die Mauer und rannte auf das große, schwere Eisentor zu.
Der Wachmann dort, der mich ja bereits kannte, nickte mir nur zu und öffnete das Tor für mich.
Ich warf ihm ein kurzes, dankbares Lächeln zu und rannte schnell auf die Tür zu.
Als ich den Klingelknopf drückte öffnete mir fast auf der Stelle eine Dienerin (was für ein dummer Beruf) die Tür und begrüßte mich. Sie erklärte mir auch, dass Lea in ihrem Zimmer auf mich warte.
Oh shit. Sie wartete. Das war alles andere als gut.
Schnell bedankte ich mich bei der Dienerin und rannte durch die Korridore in Richtung Leas Zimmer.
Als ich endlich vor der Tür angekommen war, warf ich einen raschen Blick auf meine Uhr- es war knapp, aber ich war noch pünktlich.
Seufzend klopfte ich an – das ich eigentlich im Recht war würde mich vor Leas Zorn nicht schützen.
„HEREIN!“, kam die prompte und laute Antwort auf mein Klopfen.
„Hey, Lea, ich bin’s, Hope“, sagte ich, während ich vorsichtig die Tür öffnete, immer sorgfältig darauf bedacht sie als Schutzschild benutzen zu können, sollte mir etwas entgegenfliegen.
KRACH! Eine Blumenvase. Ich hatte glücklicherweise noch rechtzeitig reagiert, deswegen erwischten mich nur einige Scherben an meinem nicht bedeckten Arm, doch als ich ihn erschrocken und besorgt betrachtete konnte ich nur einen einzigen, kleinen Kratzer entdecken.
„WAS DENKST DU DIR EIGENTLICH ERST SO SPÄT ZU KOMMEN?“, wurde ich auf der Stelle angeschrien, als ich mich endlich traute hinter der schützenden Tür hervorzutreten.
„Es tut mir leid.“
Ich versuchte gar nicht erst zu erklären, dass ich pünktlich war. Logik war Lea egal.
„Hast du die Hausaufgaben dabei?!“, schnauzte sie mich an.
„Ja, hier“, antwortete ich und zog aus der großen Einkaufstasche, die an meinem unverletzten Arm hing einige Hefte heraus.
„Gut – ich hab heute keine Zeit für dich, also schreib sie einfach in meine Hefte. Aber vergiss bloß nicht, deine Schrift zu verstellen!“
Ich nickte, aber ich konnte mir eine Frage einfach nicht verkneifen: „Wo gehst du denn hin?“
„Mph“, machte Lea verächtlich, „meine Eltern wollen, dass ich die neuen Nachbarn mit ihnen begrüße.“
„Oh, viel Spaß!“, meinte ich, während ich mich langsam in Leas Zimmer vortraute um mich and den Schreibtisch zu setzen und ihr die Hausaufgaben abzuschreiben.
„Viel Spaß? HA! Aber den werde ich schon noch haben. Ich gehe danach noch mit ein paar Freundinnen shoppen, also verziehst du dich einfach, wenn du fertig bist, verstanden?“
„Ja“, sagte ich, setzte mich an ihren Schreibtisch und begann zu arbeiten.
„Gut, dann bis Montag“, verabschiedete Lea sich, während sie sich von ihrem Bett erhob und das Zimmer verlies.
Nachdem sie gegangen war arbeitete ich seufzend weiter – dass war Leas Bestrafung dafür, dass ich „zu spät“ gekommen war.
Das Abschreiben alleine hätte ja wahrscheinlich schon mehr als lange genug gedauert, aber dann auch noch die ganze Zeit über die eigene Schrift zu verstellen war wirklich anstrengend.
Dennoch war ich nach nur drei Stunden fertig – gerade noch genug Zeit, um pünktlich zum Kino zu kommen.
Also schmiss ich schnell alle meine Hefte in meine Tüte und rannte wieder aus dem Haus, am Wachmann vorbei zu meinem Fahrrad.
Als ich schließlich (mit gerade mal fünf Minuten Verspätung) am Kino ankam, waren alle anderen schon da.
Da waren natürlich Nikki und Michael, aber auch zahllose Leute aus meiner alten Mittelschule. Außerdem auch einige aus meiner Klasse. Jungen wie Mädchen – sie alle hatten ihre Gründe. Für die Meisten waren diese allerdings höchstwahrscheinlich Nikki oder Michael selbst, denn beide waren verdammt gut aussehend.
Ich passte eigentlich überhaupt nicht zu ihnen.
Was mich aber an der Gruppe am meisten erstaunte war eine einzige Person, die ich wirklich nicht erwartet hatte. Kilian.
Er stand ganz am Rand der Gruppe, und gleichzeitig schienen doch alle Blicke auf ihn gerichtet.
Als ich endlich bei ihnen ankam (mein Fahrrad hatte ich schon abgestellt) sprang mir Nikki wie üblich um den Hals.
„Hope, du bist zu spät!“, beschwerte sie sich in ihrem kindischen Schmollton, den sie nur zum Spaß anlegte.
„Tut mir leid, ich…war beschäftigt“, murmelte ich zur Entschuldigung.
„Was, Hope, was ist dir wichtiger als ich?“, machte Nikki grinsend weiter.
„Alles“, antwortete ich eiskalt, „welchen Film sehen wir uns überhaupt an?“
„NICHT KOMISCH, HOPE!!“, schrie Nikki mir ins Ohr.
„Schon gut, schon gut, du bist das Wichtigste überhaupt“, gab ich nach.
„Na geht doch“, murmelte Nikki zufrieden und lies mich los.
„Und wir schauen uns eine Komödie an“, gab mir Michael auf meine Frage zur Antwort.
„Ein Liebesfilm würde nur uns Mädchen gefallen, und auf Horror haben wir nicht wirklich Lust“, erklärte mir ein Mädchen aus meiner Mittelschule – Melinda, wenn ich mich nicht irrte.
„Jack ist schon Tickets kaufen gegangen“, meinte ein Junge aus meiner Klasse, denn ich nun überhaupt nicht kannte – und wer war Jack?
Wir betraten das Kino, das so ziemlich aussah wie jedes andere Kino auch – ein große Vorhalle, der Ticketschalter, dahinter ein Kiosk und große, breite Treppen die Nach oben führten. Natürlich hingen auch überall Plakate für irgendwelche Filme. An einer Seite schien die Wand nur aus Glas zu sein – dort befand sich bestimmt kein einziger Kinosaal. Unter mir erstreckte sich ein blauer Teppichboden, der sauber und ordentlich erschien.
„Hier bin ich!“, hörte ich jemanden rufen und drehte mich, beinahe automatisch in die Richtung, obwohl mir die Stimme überhaupt nicht bekannt vorkam.
Dort hinten stand ein blonder Junge, in einem einfach Kapuzenshirt und Jeans, und winkte uns zu.
Jack, kombinierte ich.
Michael und Nikki, die wie üblich die Anführer unserer kleinen Gruppe geworden waren, winkten zurück und wir setzten uns alle in Bewegung um ihn zu erreichen.
Als wir schließlich bei ihm waren, nahm Michael ihm mit einem kurzen Grinsen die Tickets ab, und begann – zu meiner Verwunderung – sie zu mischen.
„Heute haben wir uns was Besonderes ausgedacht“, erklärte mir Nikki, „da wir ja alle Freunde sind und niemand irgendwen vorzieht, losen wir die Sitzplätze aus. Sie sind doch alle nebeneinander, oder Jack?“
Der blonde Junge nickte: „Und sogar hinten in der Loge!“
Da fiel mir etwas ein, voran ich zuvor noch gar nicht gedacht hatte – wer hatte überhaupt meinen Platz bezahlt?
„Nikki, wer hat für mich bezahlt?“, fragte ich.
„Das war ich, wer denn sonst?“, rief sie, fast schon stolz hervor, „Hat auch nur drei Dollar gekostet, oder so.“
Auf der Stelle begann ich in meiner großen Einkaufstüte zu kramen um an meinen Geldbeutel heranzukommen. Als ich ihn dann schließlich fand und einen Blick hinein warf reckten sich mir fünf mickrige Dollar entgegen – ansonsten war er vollkommen leer. Ich seufzte. Ich hatte heute so ziemlich alles gekauft, was wir für die nächste Woche benötigten und hatte mit dem Rest eigentlich vorgehabt, Sarah irgendein kleines Spielzeug zu kaufen – wie konnte ich es jetzt für mich benutzen? Wieso hatte ich nicht daran gedacht, dass ein Kinobesuch Geld kosten würde? Aber ich konnte Nikki unmöglich einfach so stehen lassen – das Geld würde sie nicht mehr zurück bekommen. Dann würde ich Sarah eben ein Eis kaufen und den Rest sparen. Aber genießen würde ich diesen Film bestimmt nicht – nicht wenn ich mir mein Ticket so selbstsüchtig gekauft hatte, und dafür meine kleine Schwester zurückstecken musste.
„Hope, du musst doch nicht dafür bezahlen!“, meinte Nikki überrascht, als sie begriff, was ich mit meinem Geldbeutel vorhatte.
„Doch, muss ich. Ich kann dir unmöglich auf der Tasche liegen, Nikki“, erklärte ich bestimmter, als ich mich fühlte.
Nikki lächelte mich mitfühlend an. Sie wusste eigentlich nichts von den Verhältnissen in meiner Familie, aber sie schien mit der Zeit begriffen zu haben, dass wir nicht gerade reich waren.
„Das ist der Grund, aus dem ich dich so gerne mag“, erklärte Nikki und drückte mich erneut, „sieh es als… eine Entschuldigung dafür, dass ich dir letztes Jahr nichts zum Geburtstag geschenkt habe!“
Ich war leicht perplex. Nikki und Michael waren letztes Jahr – zufälliger Weise gleichzeitig – umgezogen und an meine alte Mittelschule gekommen. Das ganze war mitten im Jahr geschehen und nur wenige Tage vor meinem Geburtstag. Sie hatten damals beide überhaupt nicht wissen können, dass ich Geburtstag hatte, da ich schon seit Jahren keine Geburtstagsfeiern mehr veranstaltete, also auch keine Einladungen verteilte.
„Ni…“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich: „Keine Widerrede, Hope!“ und wandte sich ab, um sich ein Ticket zu ziehen, da Michael schon mit dem Verteilen angefangen hatte.
Verschämt lächelnd steckte ich meinen Geldbeutel wieder weg – wenn Nikki so drauf war, konnte man es einfach nicht ändern. Aber irgendwann würde ich mich schon irgendwie revanchieren.
„Hey, vergiss mich nicht!“, rief ich Michael fröhlich grinsend zu und griff nach einem Ticket, als er sich zu mir umdrehte.
„Hey, du hast den Randplatz, Hope!“, rief ein Junge hinter mir, als er mir über die Schulter spähte und die Zahlen auf meinem Ticket betrachtete.
„Und… wer sitzt neben mir?“, fragte ich, als ich feststellte, dass das bedeutete ich würde nur einen Sitznachbarn haben.
„Aaahh, lass mal sehen… Hey, wer hat den Platz neben dem Randplatz?“, rief der Junge in die Runde.
„Ich“, kam die relativ kurze Antwort hinter mir.
Überrascht drehten der Junge und ich mich gleichzeitig herum.
Kilian.
Das war ja wohl ein Scherz.
„Sieht so aus, als wolle das Schicksal, dass ihr für immer und ewig neben einander sitzt“, lachte ein Junge aus meiner Klasse und die Nachricht, dass Kilian und ich in der Schule nebeneinander saßen verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter denen, die es noch nicht wussten.
Die Jungs – und Nikki – fanden dass anscheinend sehr amüsant, während die meisten Mädchen dass offenbar… weniger lustig sahen.
Ich hab nichts gegen Kilian. Ganz ehrlich, dachte ich, als wir endlich alle im Kinosaal saßen. Die Lichter waren noch an, einige Lieder wurden abgespielt und im Allgemeinen herrschte ein ziemlich hoher Lautstärkepegel.
Aber zwischen Kilian und mir war es totenstill.
An Kilians anderer Seite saß Michael, der mehr als genug damit beschäftigt war sich mit 15 Leuten oder so gleichzeitig zu unterhalten.
„Was für ein Film genau schauen wir uns überhaupt an?“, fragte ich Kilian etwas schüchtern, fest entschlossen eine Unterhaltung einzuleiten – oder es zumindest zu versuchen.
„Ich habe keine Ahnung – meine Meinung war in der Minderheit“, antwortete er und sah mich mit seinen wunderschönen rot-braunen Augen an.
„Was für einen Film wolltest du denn sehen?“, fragte ich, interessiert daran, mehr über ihn zu erfahren.
„Einen Horrorfilm“, gab er als kurze Antwort.
„Wahrscheinlich keinen japanischen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Ich hatte eigentlich nicht so viel für Filme übrig. Sie waren so irreal. Aber Horrorfilme, die liebte ich. Vor allem japanische – sie waren einfach am besten und nicht so ein Hollywood-Schwachsinn.
„Doch“, antwortete er.
Überrascht wandte ich mich ihm zu. Ich kannte nicht viele Menschen, die japanische Horrorfilme mochten. Die meisten hatten gerade mal „The Ring“ und „The Grudge“ gesehen, und dachten sie wüssten schon alles, was es über japanischen Horror zu wissen gab. Aber das stimmte nicht – japanischer Horror hatte soviel mehr zu bieten als kleine seltsame Horrorkinder!
Und genau das sagte ich jetzt.
„Man muss sich mit Dingen schon ein bisschen mehr auskennen, bevor man sich eine Meinung bildet, aber das tun die wenigsten. Bei japanischen Horrorfilmen hat man so große Angst, weil der Film einem das Gefühl gibt, dass einen absolut nichts einen retten kann und man total hilflos ist. Außerdem stecken hinter japanischen Horrorfilmen meistens unglaubliche Geschichten, die man ich niemals selbst ausdenken oder auf sie kommen könnte und die trotzdem Sinn ergeben. Bei Hollywood-Filmen kann man schon bevor der Film anfängt alles erraten“, stimmte er mir zu.
„Was ja der wichtigste Unterschied ist, zumindest meiner Meinung nach sind was für Horrorfilme man meint. Es gibt diese widerlich Splatter-Filme, meistens mit Zombies, bei denen alles gut ist, solange nur ein paar Gedärme durch die Luft fliegen und es gibt…“, fing ich an meine Meinung zu verbreiten.
„… Filme, bei denen man immer nur erschreckt wird. Und dann gibt es eben noch diesen Horror, bei dem man absolut hilflos ist“, beendete Kilian meinen Satz.
Und so begannen wir ohne dass ich es bemerkte uns über Hollywood, Filme und Japan zu unterhalten.
Beinahe enttäuscht schloss ich meinen Mund und kehrte mich der Leinwand zu als die Lichter ausgingen und die Vorschau anfing.
Nach überraschend kurzer Werbung begann dann auch der Film.
Es war eine eher simpel gestrickte Story über einen Jungen, der nicht sonderlich beliebt war und sich – Überraschung! – in das beliebteste Mädchen der Schule verliebte. Dann half ihm seine beste Freundin für sie cooler zu werden. Der Junge wurde selbst zum beliebtesten Jungen der Schule und kam dann mit seiner besten Freundin zusammen.
Vorhersehbar, dachte ich und wandte meinen Kopf Kilian zu.
Überrascht stellte ich fest, dass er kicherte.
„Findest du das komisch?“, flüsterte ich ihm zu, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ihm das gefallen könnte.
„Versuch zu erraten was als nächstes passiert“, riet er mir.
Leicht verwirrt wandte ich mich dem Bildschirm zu. Der Film lief noch nicht lange, doch gerade jetzt lief die Schulschönheit durch die Flure während ihre Haare hinter ihr wehten, so als stände vor ihr ein riesiger Ventilator.
„Als nächstes… hm… knallt ihm die Tür des Schließfachs ins Gesicht und sie läuft direkt an ihm vorbei“, murmelte ich Kilian zu.
„KNALL!“, geschah genau das, was ich vorhergesagt hatte.
„Und jetzt wird seine beste Freundin vorgestellt – sie steht direkt hinter dem Schließfach und hat was von einem Emo, ist aber nicht wirklich einer“, flüsterte Kilian zurück – und hatte Recht.
„Und jetzt gehen sie zusammen ins Klassenzimmer und er wird irgendwie von den Footballspielern fertig gemacht und alle lachen ihn aus, während er auf dem Boden sitzt. Sie rät ihm dann sie zu ignorieren und hilft ihm auf“, fuhr er fort.
„Und dann wird sie irgendwie angemacht, wahrscheinlich als Emo beleidigt, aber verdreht nur die Augen!“, riet ich weiter und begann langsam Spaß an diesem Spiel zu haben.
„Und dann kommen sie ins Klassenzimmer und der Lehrer macht sich lächerlich“, fuhr Kilian fort.
Und so spannen wir die Geschichte immer weiter – und lagen nicht ein einziges Mal falsch.
Als der Film dann zu Ende war und sich unsere kleine Gruppe lachend in Wohlgefallen auflöste, verließen Kilian und ich zusammen das Kino und lachten noch über unser kleines Spiel.
Als wir uns dann schließlich trennten, und ich mit meinem Fahrrad nach Hause fuhr, war ich mir hundertprozentig sicher – das war ein schöner Tag gewesen.
Als ich – es war schon dunkel – nach Hause kam, lag Sarah natürlich längst im Bett. Morgen würde sie sich beschweren, dass sie mich nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Doch in der Küche brannte noch Licht.
„Mom?“, öffnete ich die nur angelehnte Tür.
Da saß sie am Küchentisch beim flackernden Schein der alten Glühbirne und hatte mir den Rücken zugekehrt. Sie schien mich nicht zu bemerken – sie hatte doch nicht? Erschrocken zog ich die Luft ein und pfefferte die Einkaufstüte in eine Ecke. Dann ging ich mit entschlossenen Schritten auf sie zu, packte sie an der Schulter und drehte sie zu mir herum.
Eine Flasche Sekt in der Hand sah sie mich aus verschwommenen Augen an.
„Oh hick… hey…“, machte sie.
Wortlos packte ich die zu drei vierteln geleerte Flasche und entriss sie meiner Mutter.
„Du hast gesagt du würdest aufhören!“, sagte ich noch, während ich mich auf den Absätzen zum Fenster herumdrehte.
„Nein! Stopp, du widerliche Missge – hick – burt! Du grauenhaftes hick Kind! Gib sie mir wieder!“, schrie mich meine Mutter an, doch ich achtete nicht auf sie sondern schritt immer mehr auf das Fenster zu.
KRACK! Machte es, als meine Mutter mich mit all ihrer betrunkenen Kraft auf den Hinterkopf schlug. Stechender Schmerz breitete sich in meinem Kopf aus und ich begann zu schwanken. Ganz egal wie viel Promille sie beeinflussten, schwach war meine Mutter nicht. Doch ich ignorierte auch das.
„Wegen hick dir hat er mich verlassen! Teufel! Dämon hick!“, schrie sie verzweifelt, stolperte beim Versuch mir hinterher zu torkeln und schlug der Länge nach hin.
Ich war endlich am Fenster angekommen. Hastig riss ich es auf und entleerte den kümmerlichen Rest des Inhaltes der Flasche in unseren Garten, während ich mich innerlich bei den Blumen entschuldigte.
Wieso hatte meine Mutter nur wieder ihn erwähnen müssen.
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann, aber wegen dir ist er weggerannt. Wer kann’s ihm auch verübeln bei so einem Monster von Tochter!“, schrie meine Mutter am Boden liegend weiter.
Ich blickte zu ihr herab und wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Ich hatte diese Situation schon so oft erlebt, aber ich fühlte mich jedes Mal aufs Neue hilflos wenn meine Mutter mir diese Dinge an den Kopf warf.
Dann begann sie plötzlich auf mich zu zukrabbeln. Besser gesagt kriechen, denn sie robbte am Boden entlang, ohne sich auch nur ein Stückchen aufzurichten.
„Mom…“, sagte ich und wollte einen Schritt auf sie zu machen, aber da war sie schon bei mir angekommen und klammerte sich überraschenderweise an meinem Bein fest.
Dann fing sie an zu weinen. Ich spürte wie die Tränen durch meine Hose langsam zu meinem Bein durchsickerten. So krallte sie sich an mir fest und schrie immer weiter:
„Mach dass er wieder kommt! Bring ihn zurück! Gib ihn mir wieder!“
Dann ging ihr Gebrüll in ersticktes Schluchzen über und sie schien immer schwerer zu werden. Langsam zog sie mich in Richtung Boden.
Ich war haltlos. Nicht nur, weil sie mich immer mehr hinunter zerrte. Ich fühlte mich allein. Woran sollte ich mich festhalten? An welchem Ort, an welchem Menschen? Dunkle Verzweiflung breitete sich langsam in mir aus. Ich war allein. Es gab nichts, das mich sicherte. Nichts, das mir Halt gab.
Hilfe.
„Mrau!“, machte Sunny neben uns und betrachtete die eigenartige Szene, wie meine Mutter sich weinend an meinem Bein festhielt und ich mich mit dem Rücken in Richtung des immer noch geöffneten Fensters unbewusst an der Fensterbank abstützte.
Schluss jetzt! Ich war hier, jetzt war heute! Ich spürte die Gefühle, die mich so fertig gemacht hatten immer noch, aber gleichzeitig erkannte ich, dass ich, ganz egal was ich empfand, weiter machen würde müssen. Ich konnte Sarah und Mom nicht im Stich lassen. Meine Gefühle taten hier nichts zur Sache bei. Schlagartig wurden die Verzweiflung und die tiefe Sinnlosigkeit in mir dumpfer. Ich hatte zu tun!
„Mom, es ist okay“; sagte ich mitfühlend und beugte mich besorgt zu ihr herab, „er ist es nicht wert, dass du solche Tränen um ihn weinst.“
Meine Mutter zog die Nase hoch und blickte mich an. Die Tränen hatten gestoppt.
„Du kennst ihn doch kaum, woher willst du wissen was er wert ist und was nicht?“, fragte sie mich vorwurfsvoll.
„Das ist jetzt nicht so wichtig“, sagte ich verständnisvoll. Ich hatte oft genug versucht meiner Mutter zu erklären, dass ihr Mann uns eiskalt verlassen hatte, deswegen wusste ich, wie sinnlos es war.
„Wichtig ist, dass du stark sein musst. Wen schon nicht für dich und nicht für mich, dann sei es für Sarah. Sie ist erst fünf“, murmelte ich und lächelte meine Mutter melancholisch an.
„Geh jetzt ins Bett. Ich räume noch alles auf. Gute Nacht“, sagte ich und schob meine Mutter auf ihre Beine. Dann tätschelte ich ihren Kopf und drehte sie in Richtung ihres Schlafzimmers, ohne ihr Zeit für Widerrede zu lassen.
„Gute Nacht“, hickte sie, dann lief sie in ihren Raum. Ich würde später noch nach ihr sehen müssen. Aber jetzt hatte ich wichtigeres zu tun. Kaum hatte sich die Tür hinter meiner Mutter geschlossen fing ich auch schon an, Sunny etwas Futter in ihren Napf zu tun, ihr Wasser nachzufüllen und sie kurz zu streicheln. Dann räumte ich die Einkäufe aus der Tasche in die Schränke und ging in mein und Sarahs Zimmer.
Wie erwartet, da lag ein kleiner, in eine Decke eingewickelter Ball auf Sarahs Bett und zitterte.
„Sarah?“, fragte ich leicht besorgt. Es wäre auch zu schön gewesen wenn sie bei Moms Geschrei hätte weiterschlafen können.
„Hope, hassen du und Mom einander?“, fragte mich der Deckenknäuel.
„Was redest du für einen Unsinn? Mom und ich haben uns ganz doll lieb. Wir haben uns nur gestritten, weil… ich so lang weg war“, sagte ich zu meiner kleinen Schwester, während ich innerlich zu Gott betete, dass er mir diese Lüge verzeihen möchte und begann an dem Deckenball herumzufummeln um Sarah aus ihm herauszupollen.
„Wirklich?“, hörte ich ein kleines, ängstliches Stimmchen.
„Was denkst du denn? Natürlich – oder glaubst du ich lüge?“
Bitte Gott, vergib mir!
„Nein!“, rief Sarah und streckte den Kopf aus ihrem kleinen Versteck.
„Ich vertraue dir, Hope!“, rief sie und ihre kleinen, goldenen Engelslöckchen schwangen nur so in der Luft herum, als sie versuchte mir mit ihrem Gesicht klar zu machen, dass sie es ernst meinte.
Wie konnte ich diesen kleinen Engel nur belügen? Aber wie hätte ich ihr schon die Wahrheit sagen können?
„Dann geh jetzt schlafen – Mom und ich verstehen uns wieder und alles ist gut“, sagte ich und lächelte Sarah mit dem ehrlichsten Lächeln an, dass ich in dieser Situation zustande bringen konnte.
So strahlend hell wie die Sonne lächelte Sarah zurück und ich schaffte es endlich die Decke von ihr zu entfernen. Dann legte sie sich hin und ich warf die Decke wieder über sie.
„Gute Nacht, schlaf gut und träum was Schönes!“, sagte ich und Sarah drückte ganz fest die Augen zusammen.
Dann verließ ich den Raum wieder – Zeit nach Mom zu sehen.
Als ich die Tür zu ihrem Raum öffnete, war alles dunkel. Ein gutes Zeichen.
Als meine Augen sich dann langsam an die Finsternis gewöhnten konnte ich erkennen, dass sich meine Mutter noch voll angezogen aufs Bett geworfen hatte und tief und fest schlief.
Erleichternd lächelnd zog ich ihr Schuhe und Socken aus – mindestens so viel musste sein – und deckte sie zu.
Danach ging ich aus ihrem Raum und schloss die Tür hinter mir. Und dann stand ich da. Allein, in unserer dunklen Wohnung. Sunny schien auch schlafen gegangen zu sein, denn dieses Mal unterbrach mich ihr „Mrau“ nicht.
Morgen würde Mom sich an nichts, das geschehen war erinnern. Sie würde nichts mehr von dem Alkohol wissen. Sie würde nicht wissen, was sie gesagt hatte. Und Sarah würde das Ganze als normal abstempeln und es aus ihrem Gedächtnis streichen, da sie es für unwichtig halten würde. Und wenn sie älter wurde, würde sie sich sowieso kaum noch an irgendwelche Erlebnisse aus ihrem fünften Lebensjahr erinnern. Im Großen und Ganzen würde ich wahrscheinlich morgen der einzige Mensch sein, der sich an das, was heute Abend geschehen war erinnerte. Ich seufzte.
Leicht deprimiert stieß ich mich von der Tür ab, an die ich mich gelehnt hatte und ging auf mein Zimmer zu – jetzt würde ich ins Bett gehen.

Gießen