Kilian - Kapitel 2
am Samstag, 5. November 2011, 03:35 im Topic 'Kilian'
Leise, aber schrill, pfiff mir mein Wecker ins Ohr.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.
Aaah, das Geräusch dass ich am meisten hasste. Stöhnend streckte ich meine Hand unter mein Kissen um das nervige Ding auszuschalten.
Ich bewahrte meinen Wecker dort auf, da ich mir mit Sarah ein Zimmer teilte und sie erst nach mir aufstehen musste, obwohl ich sie immer zum Kindergarten brachte.
Gähnend, aber still schob ich mich aus meinem Bett und warf einen schnellen prüfenden Blick zu Sarahs hinüber. Nichts regte sich - gut sie schlief noch. Ich musste aufpassen, dass ich nicht gegen eines der weit verstreuten Spielzeuge trat, die ich im Dunklen natürlich nicht erkennen konnte. Unser Raum war nicht sehr groß, gerade mal breit genug, damit ein Bett an jeder Seite des Raumes angebracht werden konnte. Einen Nachttisch oder einen Schreibtisch gab es hier nicht. Ich machte meine Hausaufgaben immer in der Küche. Ansonsten standen hier zwar furchtbar viele Kindersachen, die früher alle mir gehört hatten, aber nur ein kleiner Kleiderschrank, in dem sowohl Sarahs, als auch meine Klamotten aufbewahrt wurden.
Mucksmäuschenstill tapste ich durch unser Zimmer in den Flur, schloss die Tür hinter mir und schaltete endlich das Licht ein.
„Mrau!“, maulte es vor meinen Füßen und Sunny schaute mit einem erbarmungswürdigen Blick zu mir auf.
Eigentlich wollte ich ja gerade ins Bad, aber Sunny machte noch einmal ihr Mrau.
„Na komm her, aber sei still!“, glücklicher Weise hatte unsere Wohnung eine Katzenklappe, also macht ich mir keine Sorgen darüber, Sunny hinauszulassen. Und das Problem mit dem Katzenklo hatten wir gestern noch geklärt, als Mom plötzlich ein etwas älteres Modell aus dem Keller holte. Offensichtlich hatten wir, als ich kleiner war, schon einmal eine Katze.
Fröhlich sprang mir Sunny in die ausgestreckten Arme und ließ sich gurrend kraulen.
Vorsichtig trug ich sie in die Küche. Ich durfte auf keinen Fall Mom aufwecken, denn sobald sie wach war, konnte niemand mehr schlafen, so einen Radau veranstaltete sie immer.
Ich legte Sunny auf dem Boden, neben die Schale, in die ich erneut ihr Futter füllte.
Fröhlich stürzte sich der kleine Tiger darauf, während ich mich ins Bad verzog.
Duschen, Bürsten, Föhnen, Zähneputzen. Mein allmorgendliches Programm. Ich benutze weder Glätteisen noch Make-up, da beides sehr teuer war.
Schnell warf ich mir ein kurzärmeliges T-Shirt und eine Jeans über und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Dann musste ich Sarah wecken.
„Sarah, aufstehen!“, raunte ich ihr ins Ohr, während ich den Lichtschalter betätigte.
„Nhg“, machte sie und drehte sich noch mal um.
So eine kleine Langschläferin, dachte ich.
Na da mussten andere Methoden ran.
„Kitzelattacke!“, rief ich und stürzte mich auf den Zwerg. So bekam man sie immer wach. Wenige Sekunden später lagen wir lachend auf dem Bett und rauften uns.
Ein lautes Rumpeln gab mir zu verstehen, dass wir auch Mom aufgeweckt hatten.
„Komm Sarah, du musst Baden“, sagte ich, doch Sarah verschränkte nur trotzig Arme und Beine und blieb stur sitzen, während ich aufstand.
„Ich will nicht“, protestierte sie.
„Tut mir leid, aber du musst“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und hob meine Schwester einfach aus ihrem Nest aus Decken, Kissen und Kuscheltieren.
Wild um sich tretend musste sich Sarah von mir ins Bad tragen lassen, wo sie sich dann unwillig badete und noch unwilliger föhnen ließ. Danach steckte ich sie in Kleider, die ich zuvor für sie ausgesucht hatte, was ihr dann schon eher gefiel, da ich, aus reiner Geschwisterliebe, hauptsächlich pink genommen hatte.
„Was willst du Frühstücken?“, fragte ich, als wir schließlich fertig waren.
„Pancakes!“, antwortete sie mit einem lauten Rufen.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Wir mussten in einer Viertelstunde los – für Pancakes war keine Zeit.
„Wie wär’s stattdessen mit deinem Lieblingsmüsli?“, schlug ich vor und nahm sie auf den Arm.
Fröhlich schlackerte Sarah mit ihrem Armen hin und her, während sie aufgeregt nickte.
Lachend trug ich sie zur Küche, wo unsere Mutter bereits im Morgenmantel am Küchentisch saß und an einer Kaffeetasse nippte.
„Morgen Mom“, sagten Sarah und ich gleichzeitig und ich setzte Sarah auf einem Stuhl ab.
„Morgen mein Engel. Morgen Hope“, antwortete sie verschlafen, wobei sie kaum die Augen offen halte konnte. Sie arbeitete wirklich zu lange.
„Mom, wieso lässt du den Kaffee nicht ausfallen und legst dich einfach wieder ins Bett, bis ich Sarah mitnehme? Du musst heute ja nicht arbeiten“, schlug ich vor.
„Hä?“, machte meine Mutter und warf mir einen verwirrten Blick zu, fast als hätte ich ihr erzählt, die Erde sei flach.
Fragend sah ich sie an, denn ich begriff nicht was sie meinte.
„Ab heute bringe ich Sarah zum Kindergarten und hole sie wieder ab“, sagte meine Mutter und sah mich an, als hätte ich die offensichtlichste Tatsache der Menschheitsgeschichte nicht verstanden.
„Huh?“, nun war ich verwirrt.
Ich hatte angenommen, dass meine Mutter sich höchstens während meines Ausfluges um Sarah kümmern würde. Aber wenn sie sich jetzt dazu entschied, die ganze Zeit aufzupassen, dann – hatte ich über zwei Monate Freizeit! Meine erstaunte Miene verwandelte sich Stück für Stück in reinste Freude und ich hätte fast einen Luftsprung gemacht. Was sollte ich tun? Ich würde erst später aufstehen müssen, denn der Weg zu meiner Schule war ohne die Kursabweichung zum Kindergarten bei weitem kürzer. Ich könnte einen ganzen Tag im Wald umherwandern, ohne dass ich an irgendwelche Pflichten denken musste. Und ich könnte endlich nachmittags mal etwas mit jemandem unternehmen.
In dieser Sekunde kümmerte mich die genaue Besetzung des Jemands nicht.
„Mom, das ist ja wunderbar“, rief ich und fiel ihr um den Hals.
Lächelnd drückte mich meine Mutter, schob mich dann aber weg um sich um Sarahs Frühstück zu kümmern. Ich hatte heute solches Glück.
Fröhlich schmierte ich mir schnell ein Brot und setzte mich zu Sarah an den Tisch.
„Hope?“, fragte sie mich plötzlich.
„Hm?“, machte ich als Zeichen, dass ich ihr zuhörte.
„Freust du dich, mich los zu sein?“, fragte sie ängstlich.
Ich hätte mich beinahe an meinem Brot verschluckt – dieses Mädchen war einfach viel zu sensibel.
„Nein, ich freue mich nur, dass ich länger schlafen kann“, gab ich ihr zu verstehen.
„Ach so“, meinte Sarah lächelnd.
Das versteht das kleine Murmeltier natürlich, dachte ich und musste lächeln.
„Hope, musst du nicht langsam los?“, fragte mich meine Mom.
„Hhmm?“, machte ich und warf einen Blick auf die Armbanduhr.
„Oh shit, du hast recht!“, rief ich entsetzt und sprang auf. Hätte sich Sarah heute Morgen doch nur nicht so gesträubt.
Schnell hüpfte ich in meine Turnschuhe und rannte aus dem Haus, ein kurzes „Tschüss!“ rufend.
Mit einer einzigen Handbewegung schnappte ich mir mein Fahrrad und sauste los.
Bloß nicht zu spät kommen!
Aufgeregt fuhr ich durch die Straßen und achtete nicht großartig auf meinen Weg. Links, Rechts, Geradeaus, Links, Rechts. Immer schneller trat ich in die Pedale, in der Hoffnung, wenigstens noch pünktlich zu kommen.
5 Minuten vor Schulbeginn fuhr ich mein Rad in die Einfahrt der Schule und stieg erleichtert seufzend ab. Gerade noch geschafft.
Während ich im Laufschritt zum Fahrradständer eilte, fiel mir wieder auf, wie unvertraut mir diese Schule noch immer war.
Ich hatte mindestens sechs Abkürzungen zu meiner alten Schule gekannt, und mich morgens nie um die Zeit sorgen müssen. An dieser Schule kannte ich nicht einmal einen.
Es war ein großes, graues Gebäude, das den unwahren Eindruck erweckte hochmodern zu sein. Der Schulhof war – leider – nicht sehr grün, bot dafür allerdings eine Reihe von Grautönen an – von schwarz bis blaugrau gab es hier wirklich alles. Überall waren Bänke verstreut und hin und wieder ragte ein Baum aus dem grauen Meer hervor.
Die einzigen Menschen in Sichtweite waren ein paar Zu-spät-kommer, so wie ich. Vor mir rannte ein Junge mit schwarzen Haaren, der definitiv in die Oberstufe ging. Er riss die Tür mit voller Wucht auf und ich rannte hinter ihm ins Gebäude. Die Flure waren weiß gestrichen und sahen ziemlich durchschnittlich aus. Ein paar Spinde, Mülleimer und Treppen. Nichts Besonderes.
Der Typ vor mir hastete nach links. Ich rannte die Treppe hoch und um drei Ecken. Die Tür zum Klassenzimmer war noch geöffnet – gut, Frau Mitchell war noch nicht da. Erleichtert hüpfte ich ins Klassenzimmer und warf mich auf meinen Platz.
„Hope kommt zu spät. Es gibt wohl für alles ein erstes Mal“, kicherte es hinter mir.
Verwundert drehte ich mich um.
Ein schlanker, sportlich aussehender Junge mit braunen Augen und hellbraunem haar tuschelte hinter mir mit einem wunderschönen Mädchen, das sich die schwarzen Haare kurz geschnitten hatte, eine Leggings und darüber einen kurzen Rock trug und sich bestens zu amüsieren schien.
„Hey, Michael, Nicole“, antwortete ich schmunzelnd.
Ich hatte bestimmt die peinlichsten Freunde auf der ganzen Welt.
„Jetzt komm schon, kling doch nicht so mürrisch! Wir machen nur Spaß!“, rief Nicole und sprang auf mich zu um meinen kopf zu umarmen und sich auf meinen Tisch zu pflanzen „Und wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du mich gefällig Nikki nennen sollst?“
„Hey, hey, ihr seid schon wieder gemein – schließt mich nicht so aus!“, rief Michael und streckte beide Arme nach uns aus, so als wolle er sich unserer Umarmung anschließen.
„Kommt nicht in Frage. Bleib bloß weg, Perverser“, machte Nikki, während sie meinen Kopf immer noch nicht losließ.
Yep, die peinlichsten Freunde der Welt.
Ich konnte gar nichts dagegen tun. Ich brach in schallendes Gelächter aus.
„Yay, Hope ist wieder glücklich!“, rief Nikki und senkte sich zu mir herab um mich richtig in die Arme zu schließen. Ich erwiderte die Umarmung leicht, während Michael unterdes immer noch leise rummaulte. Ich kicherte wieder.
„So, ihr habt euch für heute genug geliebt gehabt. Auf eure Plätze!“, rief es plötzlich hinter mir und ich drehte mich nach vorne um, um Frau Mitchell das Zimmer betreten zu sehen.
„Na hört doch endlich mit dem Getuschel auf. Ruhe! RUHE, hab ich gesagt!“, setzte sich Frau Mitchell mit ihrem lautesten Schrei durch. Langsam kehrte Stille ins Klassenzimmer ein.
„Ihr seid echt peinlich! Könnt ihr nicht einmal still sein?“, rief sie und stemmte die Arme in die Seiten.
Das Zimmer blieb ruhig. Ganz ähnlich wie beim geschimpft werden von den Eltern, traute sich niemand eine Antwort zu geben.
„Hach, na gut“, seufzte Frau Mitchell leicht resigniert und schob sich die Brille mit dem Handballen zu Recht, während sie sich zum Lehrerpult wandte.
Frau Mitchell war eine dünne Frau um die 30, die jeden Tag im Kostüm erschien. Das heutige war braun und grün. Ihre Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, wodurch sie im Allgemeinen sehr streng aussah, obwohl sie in Wirklichkeit eigentlich ganz in Ordnung war.
„Wie die meisten von euch sicherlich schon wissen, haben wir heute einen neuen Schüler“, sagte sie mit geschlossenen Augen, als wollte sie sich beruhigen.
„Hä?“, machte ich. Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört.
Nikki zu meiner Linken kicherte und Michael hinter mir bemerkte: „Haben wir dir das nicht gesagt?“
Oh, diese…!, dachte ich und fletschte die Zähne. Die wirklich wichtigen Informationen erfuhr ich immer zu letzt. Wirklich wichtig? Was dachte ich denn da! Ein neuer Schüler – das konnte mir eigentlich egal sein, es sei denn, er würde neben mich gesetzt.
Der Platz neben mir war frei, weil der Schüler, der dort ursprünglich gesessen hatte, bereits umgezogen war, obwohl das Schuljahr erst angefangen hatte.
Tja, mein Glück.
„Also, um es kurz zu machen: Das ist Kilian Foster“, sagte unsere Lehrerin, immer noch entnervt, und deutete in Richtung Tür, die in dieser Sekunde aufging.
Seine Haare waren rot. Nicht so rot, wie die Haare von kleinen Jungen mit Sommersprossen. Sie waren dunkelrot – fast so rot wie mein Blut es war, als mir vor Jahren einmal etwas davon wegen einem Allergietest abgenommen worden war, nur …. leuchteten seine Haare viel mehr. Sie waren lang gewachsen, mindestens bis zu seinen Schultern. Er hatte sie in einem Zopf hinter den Kopf zusammengebunden, nur vorne hingen an jeder Seite Strähnen heraus. Das ganze sah so aus, als wäre es locker und in Eile gemacht worden, und gleichzeitig doch so wunderschön. Er hatte auch keine Sommersprossen. Seine Haut war rein und glatt, vielleicht ein bisschen blass, aber auf keinen Fall Sommersprossen. Solche Haut hätte ich auch gerne. Seine Augen waren braun, doch auch sie hatten einen Rotstich. Sobald ich einmal blinzelte, dachte ich, sie würden ihre Farbe ändern. Er war schlank, groß und unglaublich schön. Er sah vollkommen perfekt aus, und so sehr meine Augen auch suchten, sie waren doch unfähig, auch nur einen einzigen Makel an ihm zu erkennen. Er trug einen grauen Rollkragenpullover und eine enge Jeans. Das waren einfach viel zu normale Klamotten für einen Menschen wie ihn – so perfekt und gleichzeitig so 0815.
Ich registrierte das alles innerhalb einer halben Sekunde. Und ich kümmerte mich nichts groß darum. Sollte er von mir aus noch so gut aussehen, dass war mir vollkommen egal. Was mich allerdings interessierte war sein Blick – er wirkte so, als wollte er überall sein, nur nicht hier.
Ich musterte ihn ganz genau. Er hatte keine Angst, er war auch nicht nervös. Er fühlte sich nur unwohl. Vielleicht könnte man es am besten mit genervt beschreiben. Dieser Junge war… ungesellig. Ein verdammt altes Wort, aber es war das einzige, das mir einfiel.
„Wow, sieht der geil aus!“, hörte ich ein paar Mädchen um mich herum tuscheln. Von allen Seiten her hörte ich sie über ihn schwärmen.
„Seine Haare! Wie kann so ne beschissene Frisur so heiß aussehen?!“
„Oh Gott ist der blass! Fast wie die Vampire aus Twilight“
Ich kicherte. Ja, der Junge war blass, aber nicht auf eine abnormale Art. Er war einfach nur sehr hellhäutig.
„Ich bin Kilian Foster. Ich bin grade aus Los Angeles hierher gezogen“, sagte er selbstsicher. Seine Stimme war so wunderschön, das ihn jeder Engel darum beneiden musste. Sie hörte sich zwar – wie gesagt – selbstsicher an, aber auch gleichzeitig so – gelangweilt. Als ginge ihm das alles hier am Arsch vorbei. Und ein wenig genervt. Allerdings mehr gleichgültig.
Alle sahen ihn an, so als würden sie noch mehr erwarten, nur ich begriff, dass da nicht mehr kommen würde. Das genügte ihm. Ich glaube, ich mochte ihn. Er war in Ordnung.
Auch Frau Mitchell schien nichts gegen ihn zu haben, denn sie nickte ihm zustimmend zu, als wollte sie sagen „Kann ich verstehen.“
„So Kilian, wenn du dich dann bitte neben… Hm, ja, wie wäre es, wenn du dich neben Hope setzen würdest?“, forderte sie ihn auf und deutete in meine Richtung.
Alle Köpfe drehten sich wie auf Kommando zu mir herum. Ich konnte spüren wie mich wütende Blicke aus allen Richtungen trafen und das Getuschel schon wieder anfing. Die wenigstens Leute aus meiner Klasse hatten bis jetzt überhaupt ein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn, dass sie meinen Namen kannten. Das lag einfach daran, dass ich nicht sehr präsent war. Ich konnte direkt vor ihnen stehen, und sie bemerkten mich dennoch nicht. Ich war auch eigentlich ganz zufrieden damit – wer wollte schon einen Haufen Aufmerksamkeit von Fremden? Aber jetzt sollte dieser so unverschämt gut aussehender Junge, den man wahrscheinlich auch in tiefster Nacht während er zwanzig Meter hinter einem stände bemerken würde, neben mir sitzen. Und das bedeutete viel Aufmerksamkeit.
Plötzlich war mir, als würde ich einen stechenden Schmerz in meinem Rücken verspüren, also drehte ich meinen Kopf kurz in die entsprechende Richtung.
BAMM. Lea. Sie warf mir so hasserfüllte Blicke zu, dass ich mich wunderte, warum ihre Augen noch nicht rot aufleuchteten. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie so wütend war. Stand sie etwa auch auf Kilian? Sie hatte doch einen Freund! Obwohl – stimmt, er war ihr ja eigentlich egal. Er war der „Beliebteste Junge der Schule“. Wer diesen Titel trug war ihr Freund – und so wie Kilian aussah hatte er nicht schlechte Chancen auf diese Position.
„Ich bin Kilian“, hörte ich ihn plötzlich neben mir.
Huh?, ich hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass er mir auch nur näher gekommen war. War ich so in Gedanken vertieft gewesen?
„Ich bin Hope Brown. Hoffentlich kommen wir miteinander klar“, antwortete ich und lächelte ihn an.
Er lächelte zurück.
KABAMM. Nein – KABABABABABAMMM. Nein – KRACHBUM KABABABABAMMM. So, jetzt stimmte es. In etwa so fühlte es sich an, wenn er einen anlächelte. Ich sah wie ein Mädchen nach dem anderen rot anlief und war froh zu spüren, dass sich mein Gesicht nicht erwärmte.
Dann setzte er sich ruhig neben mich und ich wandte mich auch von ihm ab. Das würde schon hinhauen.
Die Stunde verging relativ ereignislos – Kilian und ich wechselten kaum ein Wort miteinander, und dennoch hatte ich das Gefühl, als würde zwischen uns eine ganz gute Atmosphäre herrschen.
In der Pause zwischen den Stunden rührte sich Kilian nicht von seinem Platz. Er war so… ruhig.
Der Tag verlief einigermaßen ereignislos und schließlich war die Schule vorbei.
Ich wollte mich gerade auf den Weg zu meinem Fahrrad machen, als plötzlich eine Hand auf meiner Schulter lag. Als ich mich umdrehte, um zu sehen, wer das denn war, schnellte mir plötzlich eine Faust ins Gesicht. Die Wucht war groß genug um mich umzureißen. Ich drehte mich in der Luft herum und so landete ich meinem Angreifer zugewandt auf dem Hintern.
Lea. Ein paar andere Mädchen waren auch dabei, von denen mich ganz offensichtlich ein etwas Stämmigeres geschlagen hatte.
„Hör mal zu du kleine Schlampe, denk bloß nicht, dass nur weil er neben dir Sitz du ihm auch nur ansatzweise näher stehst als wir. Es hat nämlich nichts zu bedeuten, neben einem Außenseiter wie dir noch ein Platz frei war!“, schrie mich ein anderes Mädchen an.
Verzweifelt warf ich einen kurzen Blick um mich – wenn doch die Fahrradständer nur nicht so weit weg vom Schulgebäude gewesen wären! Ich konnte nirgendwo jemanden sehen, der mir zur Hilfe eilen könnte.
„Ich habe nichts falsch gemacht“, sagte ich plötzlich.
Was traute ich mich denn da? Sah ich denn nicht, dass Lea mir gegenüber stand? Sie hatte Kontrolle über mich. Sie müsste nur einmal sagen „Ich sag Dad er soll deine Mutter vor Gericht zerren.“ Und ich würde alles tun, was sie mir befahl.
Aber sie tat es nicht – wieso nicht? Vielleicht wollte sie nicht, dass die Leute erfuhren, dass sie und ich auf irgendeine Art und Weise miteinander verbunden waren? Aber in der Mittelschule hatte sie das doch auch nie gestört. Allerdings war ich damals auch nie ansatzweise etwas wie ein Außenseiter gewesen.
Aber sie sah trotzdem mehr als wütend genug aus, um mir Angst einzujagen. Dieses Mädchen war gefährlich – ob nun mit oder ohne die Schulden meiner Mutter.
„Hör mir mal zu, du kleines Miststück. Dass hat nichts mit falsch gemacht zu tun – allein schon dass du existierst sollte als ein Fehler von dir zählen!“, zischte eines der Mädchen und packte mich mit der linken Hand am Kragen, während sie mit der rechten zu einem erneuten Schlag ausholte.
Ich schloss schon die Augen, mich innerlich auf den Schmerz vorbereitend, als auf einmal jemand die Hand des Mädchens ergriff und sie ihr auf den Rücken drehte.
Das Mädchen schrie auf vor Schmerz und sprang auf, wobei sie sich befreite.
Verwundert blickte ich auf, um meinen Retter zu sehen.
Selbstsicher wie üblich standen dort Nikki und Michael.
Offensichtlich war Nikki es gewesen, die das Mädchen am Handgelenk gepackt hatte.
„Ich schlage Mädchen ja eigentlich nur ungern, aber ich kann nicht zulassen, dass ihr meiner kleinen Hope so was antut“, sagte Nikki entspannt und gelassen.
Sowohl sie als auch Michael trainierten schon seit ihrer Jugend Karate – wäre ich nicht mit ihnen befreundet gewesen, hätte ich mich nie im Leben mit ihnen angelegt.
Glücklicherweise schienen aber auch die ganzen Mädchen, die mich angegriffen hatten zu wissen, dass mit den beiden nicht gut Kirschenessen war, denn sie man konnte ihnen den Schock mehr als nur gut ansehen und ehe Nikki oder Michael auch nur einen Schritt auf sie zumachen konnten, nahmen sie die Beine in die Hände und stoben in alle Richtungen davon.
„Mensch, Hope, warum schreist du nicht?“, fragte Michael, während er sich zu mir hinabbeugte und mir eine helfende Hand entgegenstreckte.
„Ich dachte, es wäre niemand in der Nähe – was lohnt es sich da schon zu schreien?“, gab ich grinsend zur Antwort und ergriff Michaels Hand.
„Wenn eine Frau mit all ihrer Macht schreit, hört man das noch in 30 Kilometer Entfernung!“, meinte Nikki und kam einen Schritt näher, um sich die Spuren des Schlages, den ich abbekommen hatte, näher anzusehen.
„Ich glaub deine Wange sieht morgen schon wieder normal aus“, meinte sie dann hoffnungsvoll.
Michael unterdessen ignorierte sie vollkommen:
„Wir haben Hope noch nicht einmal weinen sehen – geschweige denn schreien gehört. Komme was da wolle, das Mädchen macht den Mund nicht auf.“
Ich lächelte, sagte aber nichts dazu.
Wenn ich immer weinen würde, wenn ich traurig bin, würdet ihr mein Lächeln nicht kennen. Außerdem kann ich meine Last nicht auf euch abschieben. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, und das ist eben meins.
„Ach ja, der eigentlich Grund, aus dem wir dir hinterher sind, war, weil wir dich fragen wollten, ob du Samstag mit uns ins Kino gehst. Es kommen vielleicht noch ein paar Leute mehr mit“, erklärte Michael und rieb sich am Kopf.
Ich wollte schon sagen, dass ich keine Zeit hatte, als mir wieder einfiel, wie viel Zeit ich fürs erste haben würde, also lächelte ich und sagte ja.