Geschichten einer schwarzen Rose
Kilian - Kapitel 1
„Nun hör schon auf“, versuchte ich Lea noch einmal zu trösten.
„I…ich ka…kann nicht…“, schniefte sie erneut und der Sturzbach Tränen, den wir nun schon seit mindestens einer Stunde zu stillen versuchten, strömte ungehindert weiter.
„Ich habe ihn jetzt schon eine ganze Woche nicht mehr gesehen, und ich kann mir einfach nicht erklären, wo er so plötzlich ohne jede Vorwarnung hin verschwunden sein soll!“, schrie sie mich in einem plötzlichen kurzen Anfall von Wut an, der auch die Tränen versiegen lies.
Erschrocken zuckte ich ein Stück nach hinten und fiel in die warmen weichen Bezüge von Leas Bett zurück, das vielleicht sogar etwas überladen war mit all den Kissen und Decken. Aber es passte in ihr ansonsten sehr mädchenhaft eingerichtetes Zimmer. Die Wände waren mit Postern von irgendwelchen Boy-Groups und Bands, die mir nichts sagten, zutapeziert und ansonsten mit Regalen, die absolut mit Schmuck, Krimskrams und Bildern von irgendwelchen Jungen, die mir Lea wahrscheinlich irgendwann auch einmal vorgestellt hatte, vollgestopft waren, versperrt.
Natürlich war alles außer dem schneeweißen Bett in Lila- und Schwarztönen gehalten, so wie es heute in Mode war.
„Ich bin mir sicher, dass Nate irgendeinen wirklich verdammt guten Grund hat einfach so zu verschwinden. Vielleicht ist ein Verwandter gestorben, oder seine Familie musste sonst irgendwo hin“, war die beste Erklärung die mir für diese Situation einfiel.
Oder aber er will dich nicht als seine Freundin haben, dachte ich halbherzig, obwohl ich in Wirklichkeit wusste, dass das vollkommen unmöglich war.
Lea und Nate waren nach einer langen, komplizierten Zeit, in der es Phasen gab, in denen sie Freunde waren, Phasen, in denen sie sich hassten, Phasen, in denen sie ihre Gefühle nicht verstanden und Phasen, in denen sie sich liebten, endlich zusammengekommen. Mir war klar, dass sie nur so lange nicht ein Paar geworden waren, weil sich immer wieder Missverständnisse und Probleme, wie ihre Ex-Freunde und ihre etwas schwer zu verstehende Art ihre Sympathie zu zeigen, eingemischt hatten.
„Sogar wenn er seinen besten Freund verloren hätte, könnte er doch immer noch anrufen!“, brüllte mich Lea erneut an. Von wegen kurzer Anfall.
„Du hast ja irgendwie recht, aber vielleicht ist er auch einfach nur zu traurig um sich gerade mit irgendwelchen Menschen abzugeben“
Blitzschnell drehte sich Leas Kopf in meine Richtung und ein scharfer Blick traf mich.
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich bin doch nicht irgendjemand! Ich bin seine Freundin! Und mit mir abgeben tut er sich auch nicht! Höchstens ich mich mit ihm!“
Oh shit, dachte ich. Da hatte ich doch glatt einen Wunden Punkt getroffen.
Ich wusste genau, dass die beiden nicht aus Liebe miteinander ausgingen, sondern weil es passte. Lea war das beliebteste Mädchen der Schule. Sie hatte dunkelbraune Haare (natürlich geglättet), haselnussbraune Augen, den perfekten Körper und einen noch perfekteren Modegeschmack. Außerdem schien sie auch einen idealen Charakter zu besitzen. Na ja, zumindest für Menschen, die sie nicht so gut kannten wie ich.
Nate dagegen war der wohl coolste Junge der Schule. Er war sportlich, stark, hatte ganz akzeptable Noten und sah mit seinen hellbraunen Haaren, seinen grünen Augen und seinem dezenten Sixpack einfach abartig gut aus. Noch dazu hatte er eine ähnlich gute Persönlichkeit wie Lea.
Es war klar gewesen, dass die beiden früher oder später zusammenkommen mussten. Und jetzt bewunderte natürlich die ganze Schule dieses „Traumpaar“. Alle außer mir.
Ich kannte Lea schon seit der Grundschule und wusste alles über sie, von ihrer Lieblingsfarbe bis zu ihrem ersten Freund (der Junge hatte den Wettstreit um diesen Titel nur mit zwei Wochen Vorsprung geschafft – dann hatte sie schon ihren Zweiten). Ich war es auch die gesehen hatte, wie sie ihre Eltern wochenlang bearbeitete nur um längere Ausgehzeiten zu bekommen. Ich war es auch, die miterlebt hatte, wie sie in der Mittelschule ein Mädchen, das es gewagt hatte ihren Freund zu stehlen, solange psychisch mobbte, bis es schließlich aufgab und die Schule wechselte. Ich wusste noch genau, wie gern ich dem Mädchen damals geholfen hätte und wie sehr ich es probiert hatte. Doch ich konnte noch nie gut mit Psychospielchen, die die meisten Mädchen beherrschten, umgehen. Ich erinnerte mich an die zahllosen Versuche, dem Mädchen zu zeigen, dass ich ihre Freundin war. Doch sie hatte immer nur gedacht, ich wolle ihr nur näher kommen um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen.
Aber ich wusste auch, voran das lag. Ich galt als gute Freundin von Lea. Dabei verbrachte ich nur so viel Zeit mit ihr, wegen meiner Familie. Mein Vater war abgehauen, als ich kaum einmal zehn Jahre alt war, kurz nach der Geburt von Sarah, meiner kleinen Schwester. Meine Mutter, die bis dahin zusammen mit ihm eine Filiale von Your Shopping Center führte, hatte damals angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen, während ich begonnen hatte, mich als Babysitter um Sarah zu kümmern und den Haushalt zu schmeißen. Eine Zeit lang war das Ganze auch gut gegangen, bis die Eltern von Lea, die Besitzer der Einkaufskette Your Shopping Center bemerkten, dass die Einnahmen zurückgingen. Sie lebten durch Zufall (was für eine grausame Welt) in der Nähe und hatten bald alles herausgefunden. Aus Gründen, die ich zunächst nicht verstand, halfen sie uns damals aus der Patsche und bezahlten für den Entzug meiner Mutter.
Zuerst war ich unendlich glücklich. Ich dachte, Gott hätte sich uns gegenüber gnädig gezeigt und war unfassbar dankbar gewesen. Bis sie dann, keine zwei Wochen später, anfingen, die Schulden einfordern zu wollen. Meine Mutter fing an, wie eine Verrückte zu schuften. Sie arbeitete mittlerweile sieben tage die Woche, und ich sah sie fast nie mehr schlafen, dafür aber umso öfter Geschäftspapiere mit nach Hause nehmen, um noch länger zu arbeiten.
In diesem Zeitraum, ich war gerade elf geworden, stellten sie mir Lea vor. Zu diesem Zeitpunkt sah ich es auf der Stelle. Ich sah, dass Lea arrogant und selbstsüchtig war. Ein Mensch, der immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wollte. Damals war sie aber noch blond, mit gelockten Haaren, und sie trug öfter Kleider. Sie sah wirklich niedlich aus.
An diesem Tag hatten ihre Eltern beschlossen, dass ich mich um Lea kümmern sollte, da sie selbst keine Zeit hatten, und man dass mit der Tochter von einem Schuldner schon machen konnte.
Zuerst wollte ich nicht mitgehen, aber meine Mutter befahl es mir, und ich gehorchte.
Wir gingen in den Park, um Ball zu spielen. Zuerst ging alles auch noch ganz gut. Wir warfen den Ball hin und her und ich hatte sogar etwas Spaß. Fast hätte ich gedacht ich hätte mich in Lea getäuscht. Bis sie dann irgendwann rief: „Ich bin müde und das Spiel ist langweilig! Ich will was anderes machen!“
Ich stimmte zu und fragte sie, was sie denn tun wolle.
„Ich will ein Eis!“, verlangte sie.
Als ich zuerst nicht begriff, was sie denn nun wolle und sie nur verständnislos anstarrte, wurde sie wütend.
„Na los, hol mir eines!“
„Kannst du dir denn nicht selbst eines holen?“, fragte ich verdutzt.
„Bist du bekloppt? Wieso sollte ich mir selbst eines holen, wenn du da bist?“, antwortete sie vor Wut kochend.
Schließlich gab ich auf: „Gut gib mir das Geld und ich such einen Eisladen.“
„Wieso sollte ich dir Geld geben? Nimm gefälligst dein eigenes!“
Langsam hatte Lea wirklich genug.
Als ich verwirrt zu einem Widerspruch ansetzen wollte, stoppte sie mich mit einem einzigen Blick und ich lief schnell los um den nächstbesten Eisladen aufzusuchen.
Was mir damals noch nicht aufgefallen war, ich aber heute wusste war, dass sich Lea nur in meiner Gegenwart so benahm. Sobald jemand anderes oder ein Erwachsener dabei waren, wurde sie wieder lieb und nett. Das konnte man nun mal mit der Tochter einer Untergebenen machen. Allerdings erfuhr so auch nie jemand etwas über ihren wahren Charakter.
Vielleicht hatte sich meine Mutter deswegen am nächsten Tag so gefreut:
„Hope, du wirst es nicht glauben, aber dieses hübsche Mädchen von gestern, du weißt sicher wenn ich meine, will heute noch mal mit dir spielen!“, hatte sie freudig gerufen, als ich von der Schule nach Hause kam.
Wie ein Engel strahlend war sie damals schon vor dem Hauseingang gestanden, als sie auf mich wartete um mich mit offenen Armen zu empfangen.
„Mom – ich mag dieses Mädchen nicht. Sie ist wirklich sehr egoistisch und selbstzentriert, dass musst du mir glauben. Gestern hat sie den ganzen Tag nur auf einer Parkbank gesessen und mich rumkommandiert!“, antwortete ich, ohne groß darüber nachzudenken, mit der Wahrheit.
Niemals würde ich mein Entsetzen und meine Ablehnung gegenüber Lea vergessen. Um es genau zu nehmen hatte sich beides seitdem kein bisschen verändert.
„Hope, dieses Mädchen ist die Tochter meines Chefs. Wenn du dich mit ihr anfreundest könnte uns das sehr helfen! Und wenn sie dich mal herumkommandieren will, dann lass sie doch! Oder willst du auf der Straße leben?“
Das hatte meine Mutter mir damals ins Gesicht geschrien, womit sie dann dummerweise Sarah (damals noch ein Baby) geweckt hatte. Sie hatte laut zu kreischen begonnen und meine Mutter lief schnell ins Haus um sich zum ersten Mal seit mehreren Monaten, in denen immer ich dafür zuständig gewesen war, um sie zu kümmern.
Mich ließ sie damals einfach auf der Straße stehen. Vielleicht hatte sie deshalb nie mein ersticktes Schluchzen: „Aber Mom, ich will wirklich nicht…“ gehört. Deshalb nie meine unterdrückten Tränen gesehen.
„Du hast ja recht. Ich glaub ich hab gerade nicht weit genug gedacht“, versuchte ich mich schnell aus meinem Dilemma herauszureden.
„In deinem Kopf geht wirklich nichts vor, Hope! Verschwinde jetzt, ich will dich nicht mehr sehen! Schlampe!“, brüllte mich Lea kochend vor Wut an, während ihre Hände, wie ich knapp aus den Augenwinkeln erkennen konnte, begannen, fahrig nach etwas zu suchen, dass sie nach mir schmeißen konnten.
„Schon gut, ich bin ja schon weg. Pass auf dich auf, und hab keine Angst, er ist bestimmt bald wieder da!“, murmelte ich noch schnell bevor ich aus dem Raum spurtete, ehe ihre Hände etwas passendes fanden.
Kaum hatte ich die Tür geschlossen entwich meinem Mund ein lautes Seufzen und ich sank mit dem Rücken gegen die Wand. Das war ja gerade noch mal gut gegangen.
Erleichtert hob ich den Kopf und war, wie immer, wenn ich mich in diesem Haus befand, erstaunt von seiner Größe und luxuriösen Einrichtung. Die Wände waren mit einer herrlich Farbe, die ich nicht einmal kannte (türkis? Azur? Violett? Cyan? Ganz egal, jedenfalls ein Blauton) gestrichen und mit Bildern, Gemälden und Porträts der Familienangehörigen behängt. Sie sahen alle wunderschön und edel aus, allesamt in unfassbaren Klamotten und in stolzen Possen verewigt. Nur eines passte nicht ganz dazu, und zwar das direkt gegenüber von mir.
Aus einem goldenen Rahmen starrte mich ein schlankes, vielleicht sogar etwas dürres Mädchen in einfacher Kleidung, einer Jeans und einem ärmellosen T-Shirt, an. Ihr etwa schulterlanges hellbraunes Haar hing ungezügelt und gewellt, ja fast schon wild, an ihrem Kopf herunter, während ihre freundlichen blauen Augen mich mit einem sinnlosen Lächeln in sich beobachteten. Sie hatte eine kleine Stupsnase und etwas zu dicke Augenbrauen, die nicht zu ihrer eher hellen Haut, die einem fast schon entgegenschimmerte, passten. Sie war nicht wirklich hässlich, aber auch keine Schönheit. Im Gegensatz zu den anderen war sie in einer denkbar ungünstigen Pose fotografiert worden, die sie nicht so gut hervorbrachte.
Vor mir hing ein Spiegel.
Plötzlich brach ich in lautes Gelächter aus, gegen das ich nichts anderes unternehmen konnte, als zu hoffen, dass Lea mich nicht hören würde.
Ich war schon immer so gewesen. Etwas schwer von Begriff und meistens vollkommen sinnlos glücklich.
Immer noch lachend setzte ich mich in Bewegung. Es war Montag, und ich war direkt nach der Schule mit zu Lea nach Hause gegangen, damit wir „zusammen“ Hausaufgaben machen konnten, obwohl sie eigentlich immer nur abschrieb.
Jetzt musste ich aber Sarah noch vom Kindergarten abholen.
Summend verließ ich das Haus, das vielmehr eine Villa war und ging durch den überdimensionalen Garten, der von einem ganzen Trupp Gärtnern instand gehalten wurde.
Als ich auf das riesige Eisentor zusteuerte, das den einzigen Ein- und Ausgang zum Grundstück bot, lächelte und nickte ich dem Mann in Uniform, der immer dort Wache schob, zu. Der lächelte zurück und drückte auf einen Knopf auf seiner Fernbedienung, um das Tor für mich zu öffnen.
An der Außenmauer lehnte, vor all dieser Pracht ziemlich schäbig und heruntergekommen aussehend, mein altes Fahrrad. Schnell schmiss ich die Tasche mit meinen Schulsachen, die ich mir bevor ich Leas Zimmer verlassen hatte, noch schnell gekrallt hatte, hinten auf den Gepäckträger und befestigte sie nachlässig.
Dann sprang ich schwungvoll auf und trat mit Wucht in die Pedale.
Während ich durch die Luxuswohngegend radelte, in der das junge Mädchen auf ihrem ärmlichen Fahrrad auch keine Unbekannte mehr war, stellte ich mit einem raschen Blick auf meine Armbanduhr fest, dass ich noch etwas Zeit hatte.
Erfreut gab ich noch etwas mehr Gas und bog an der nächsten Abzweigung anstatt nach rechts nach links ab.
Ich fuhr immer schneller und lies mir den Wind durch die Haare peitschen, während die Straße unter mir immer schlichter wurde, bis sie schließlich einem einfach Feldweg wich. Die luxuriösen Villen um mich herum verwandelten sich Stück für Stück in normale Häuser, dann in einfache Wohnanlagen und zum Schluss verschwanden sie ganz und Bäume traten an ihre Stelle.
Als ich an einer Stelle ankam, von der an es leicht bergab ging, lies ich mein Fahrrad fröhlich im Leerlauf durch den Wald gleiten.
Das Ganze war ein Umweg, der zwar auch zu Sarahs Kindergarten führte, aber viel mehr Zeit in Anspruch nahm. Dafür war er sehr viel schöner und entspannender. Ich konnte die Vögel zwitschern hören und die Schönheit der Natur bewundern, die, meiner Meinung nach, an keiner Stelle so ausgeprägt war wie in diesem Stückchen Wald.
Langsam lösten sich meine Hände vom Lenker. Der Pfad war hier zwar ziemlich steinig, aber ich war ihn schon mindestens eine Millionen Mal gefahren, und kannte ihn wie meine Westentasche.
Lachend ließ ich mich so vollkommen losgelöst durch den Wald tragen und achtete nicht großartig auf den Weg, bis er schließlich wieder mehr bergauf verlief.
Seufzend nahm ich den Lenker wieder in die Hand und fuhr den Berg hinauf. Noch um zwei Ecken gebogen und schon war der Kindergarten in Sicht.
Es war ein weiß gestrichenes Gebäude mit einem großen Garten und vielen Spielplatzgeräten. Jedes Mal wenn ich ihn sah, freute ich mich für Sarah, dass sie jeden Tag zu einem so schönen Ort gehen konnte.
Langsam trat ich auf die Bremse und fuhr an den Zaun heran, um mein Fahrrad (der Ständer war schon vor Jahren abgefallen) dort anzulehnen.
Kaum war ich abgestiegen, kam auch schon Sarah aus dem Gebäude gerannt. Ein einziger, blonder Schopf sprang mich an und umarmte mich stürmisch.
„Hope, Hope, du glaubst nicht was heute passiert ist!“, rief sie aufgeregt.
Leicht verwirrt hob ich sie hoch und setzte sie neben mir ab, um zu von meinem Bein zu trennen.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich lächelnd und merkte nicht an, dass Sarah die Begrüßung vergessen hatte. Wir grüßten uns so gut wie nie – Sarah fing meistens einfach an zu reden.
„Julian ist von der großen Eiche gesprungen und hat sich gaaaanz doll das Bein wehgetan!“, keuchte Sarah mit weit offenen Augen.
Aaah, die alte Eiche. Die hatte hier schon gestanden, als ich noch in den Kindergarten ging. Es war schon immer eine beliebte Mutprobe unter den Kindern gewesen, von ihr herunterzuspringen. Aber es kam nur alle paar Jahre vor, dass sich auch ein Kind traute. Damals, in meiner Kindheit, hatte es auch ein Mädchen gegeben, das gesprungen war. Sie hatte sich damals den Knöchel verstaucht, aber dafür hatte sie dann der gesamte Kindergarten als Heldin anerkannt, bis sie schließlich eingeschult wurde. Vermutlich würde es diesem Julian genauso gehen.
„Na da siehst du, dass du da besser nicht runter springst, dass ist nämlich sehr gefährlich“, warnte ich sie unwillig. Eigentlich hätte ich viel lieber etwas in die Richtung „Dieser Julian ist aber sehr mutig“ gesagt, aber ich musste meine Pflicht als große Schwester und als Vorbild erfüllen.
Mit großen Augen und ängstlichem Blich sah Sarah zu mir auf, bevor sie schließlich ehrfürchtig nickte.
Sarah war ein sehr schönes kleines Mädchen. Sie hatte große grüne Augen, blonde gelockte Haare und eine niedliche Stimme.
Wenn sie älter wäre, würden die Jungs sie geradezu verfolgen. Ich würde sie dann höchstwahrscheinlich auch noch vor Stalkern und anderem beschützen müssen. Aber im Moment war sie nur meine süße kleine Schwester.
Mit einem Lächeln vertrieb ich Sarahs Angst schnell wieder:
„Aber du bist ja ein schlaues Mädchen, du machst so etwas nicht.“
Jetzt lachte auch Sarah wieder und mit einem breiten Grinsen stimmte sie mir zu.
„Na dann spring auf, wir müssen schließlich noch nach Hause. Ich wette du hast auch schon Hunger“, bemerkte ich und nahm meine Tasche vor und hing sie an den Lenker, um Platz für Sarah zu schaffen.
Doch die zögerte noch. Zaghaft warf sie einen Blick zum Kindergarten zurück, so als wüsste sie nicht ganz, was das Richtige wäre.
„Was ist denn los?“, fragte ich sie.
„Weißt du, Julian hat vor ein paar Tagen etwas mit hier her gebracht, um sich darum zu kümmern“, erklärte sie unsicher.
Ich sah an ihrem Gesicht, dass es Sarah ernst war. Für eine fünfjährige konnte sie ein verflucht ernstes Gesicht machen.
„Sarah, was willst du sagen?“
„Es… es ist eine Katze!“, platzte sie auf einmal aufgeregt heraus, „bis jetzt hat er sie auch immer gefüttert und alles, und wir haben mit ihr gespielt und sie vor den Kindergärtnern versteckt gehalten, aber jetzt ist Julian zuhause und er kommt die nächsten Wochen nicht und wer soll sich jetzt um das Kätzchen kümmern? Es ist nämlich noch ein Baby und Julian hat immer das Futter gebracht und sich auch ansonsten um sie gekümmert!“
Sarah sah entsetzt aus bei der Vorstellung daran, was dem Tier zustoßen würde.
„Eine Katze, huh?“, murmelte ich in Gedanken versunken, während mein Gehirn zu rechnen begann.
Blitzschnell überschlug ich unser Haushaltsbudget und die kosten für Futter, Halsband und ähnliches. Uns ging es in den letzten Monaten finanziell wieder etwas besser und vielleicht, wenn ich meine Essensration etwas kürzte…
Sarahs besorgter Blick gab den Ausschlag. Kurz entschlossen nahm ich sie an die Hand und lief in Richtung des Gebäudes.
Neben mir fragte Sarah immer wieder aufgeregt:
„Was tun wir Hope? Nehmen wir Sunny mit? Bitte sag, das wir Sunny mitnehmen!“
Verwirrt schaute ich Sarah an. Sunny? War das etwa der Name der Katze?
„Weißt du, sie liebt die Sonne so und spielt am liebsten draußen, darum haben wir sie Sunny genannt!“, erklärte Sarah altklug meine unausgesprochene Frage.
„Ja, wir nehmen Sunny mit. Wir können sie schließlich nicht so einfach hier lassen“, sagte ich ihr und irgendwie war ich stolz auf den Blick, mit dem Sarah zeigte, wie sehr sie sich darüber freute, dass es dem Tier gut gehen würde.
Endlich betraten wir den Kindergarten. Das Haus war mit vielen Fenstern ausgestattet und die Wände waren mit den unschuldigen und lieben Zeichnungen von kleinen Kindern beklebt. Insgesamt wirkte alles offen und freundlich. Eine sehr heimelige Atmosphäre.
Der Kindergarten war in verschiedene Gruppen geteilt. Da war die Igelgruppe, die Pferdegruppe, die Hasengruppe und so weiter. In diesen Gruppen waren jeweils in etwa 15 Kinder, die dann jeden Tag in einem Raum spielten. Sarah war, sehr zu ihrem Bedauern, in der Froschgruppe. Ich hatte ihr das Märchen vom Froschprinzen unzählige Male erzählen müssen, bis sie sich damit zufrieden geben konnte.
Jetzt steuerten wir auf eben diesen Raum zu (an der Tür klebte ein gezeichneter Frosch, er war nicht zu verwechseln).
Kaum hatten wir die Tür geöffnet lief Sarah auf eine der riesigen Spielzeugtruhen zu und krabbelte unter sie.
Wartend stand ich davor und hoffte, dass ich gerade auch das Richtige tat.
Vor mir kroch Sarah wieder unter dem Kasten hervor, in den Händen einen einfachen Karton. In ihm saß eine kleine schwarze Katze und miaute aufgeregt.
Sie war tatsächlich noch ein Baby. Sie war so süß und hilflos, dass ich nicht anders konnte, als sie auf der Stelle lieb zu haben.
Vorsichtig streckte ich beide Hände nach ihr aus, um sie aus ihrem Karton zu nehmen. Zunächst zuckte sie erschrocken zurück, doch schließlich lies sie mich sie auf den Arm nehmen.
Sanft streichelte ich ihr seidenweiches Fell, wobei sie anfing wie ein Traktor zu schnurren.
Mit einem kurzen Blick stellte ich fest, dass Sunny ein Mädchen war, und konnte nur noch hoffen, dass sie niemals Junge werfen würde.
Sachte legte ich die langsam einschlafende Katze wieder in ihren Karton, den Sarah, die jede meiner Bewegungen genau verfolgt hatte, noch immer in Händen hielt.
„Du trägst Sunny“, befahl ich ihr, „wir können mit ihr nicht Fahrradfahren.“
Sarah nickte aufgeregt und wir verließen den Kindergarten wieder.
Seufzend tat ich meine Tasche wieder auf den Gepäckträger und schob mein Fahrrad langsam an, während Sarah neben mir glücklich hin und her hüpfte.
„Hope, Hope, wann kaufen wir Sunny dann was zu essen?“, jubelte sie, während sie im Kreis um mich herum zu springen begann.
„Jetzt gleich. Schau da vorne ist ein Laden“, antwortete ich und deutete auf ein näher kommendes kleines Geschäft, das vermutlich von einer Familie geführt wurde.
Wir befanden uns mittlerweile in dem Stadtteil, in dem wir wohnten.
Um uns herum erhoben sich schlichte Mehrfamilienhäuser aus Beton, während sich unter uns eine einfache Straße dahinschlängelte.
Vor dem Laden lehnte ich mein Fahrrad an und schärfte Sarah ein, mit Sunny genau da stehen zu bleiben und auf mich zu warten.
Dann ging ich in den Laden und kaufte schnell etwas Katzenfutter, bevor ich wieder hinausschlenderte um mit Sarah nach Hause zu gehen.
„Hope, was glaubst du wird Mom zu Sunny sagen?“, fragte mich Sarah, auf einmal etwas bedrückt.
„Sie wird Sunny lieben“, antwortete ich und musste bei der Vorstellung an den Freudentanz, den unsere Mutter sicher aufführen würde, lachen. Unsere Mutter war eine… sehr sorglose Frau. Bis auf unseren Vater hatte sie nie etwas auch nur ansatzweise verletzen können. Dafür heilte diese eine einzige, riesige Wunde umso langsamer.
Beruhigt redete Sarah immer weiter – sie fand immer etwas, über das man sich unterhalten konnte.
Lächelnd gab ich auf ihre schier endlosen Fragen und Bemerkungen Antworten, die auch eine Fünfjährige noch verstand.
Schließlich kamen wir vor unserem Haus an. Es war genauso wie all die Anderen auch. Ein einziger Betonblock.
Erleichtert lehnte ich mein Fahrrad an die Hauswand. Das war wirklich keine kurze Strecke zum laufen.
„Mom, wir sind zu Hause!“, rief ich durch den Flur, als Sarah und ich das Haus betraten und unsere Schuhe auszogen.
„Oh, hallo ihr Süßen! Ihr seid aber spät dran!“, schallte es uns fröhlich entgegen. Das war kein Rufen, das war Gesang.
Ich hatte meine Frohnatur von meiner Mutter geerbt – nur dass meine im Gegensatz zu ihrer auch Grenzen kannte. Als wolle sie eben das beweisen kam meine Mutter tanzend aus der Küche, eine Schürze mit der Aufschrift Beste Mom der Welt umgebunden und umarmte mich und Sarah genauso stürmisch wie meine kleine Schwester mich bei unserer Begrüßung.
„Mrau!“, rief es plötzlich dazwischen.
Verwundert starrte Mom auf den kleinen Karton in Sarahs Händen. Sie kam einen Schritt näher und bevor ich eine Erklärung abgeben konnte, hatte sie Sunny auch schon entdeckt.
Blitzschnell schlossen sich ihre Hände um Sunny und schon wurde das erbärmlich maunzende Tier gnadenlos geknuddelt.
„Oh, wie süß! Wir behalten sie!“, rief sie ohne zu zögern, als sie Sunny dann endlich auf den Boden entließ.
So schnell sie konnte rannte das kleine Kätzchen zu mir und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
„Hey, das tut weh!“, rief ich irritiert, als sich ihre scharfen Krallen in meine Jeans bohrten, doch Sunny wollte nicht aufgeben.
Ironisch lächelnd gab ich nach und hob sie hoch.
Kaum war sie auf meinem Arm beruhigte sie sich wieder und rieb sich entspannt schnurrend an mir.
Tiere hatten mich schon immer geliebt – schon als ich noch ein kleines Kind war, hatten sich Hunde auf der Straße nach mir umgedreht, an ihrer Leine gezerrt und wenn sie dann tatsächlich zu mir kamen so lange gehechelt und mit den Schwanz gewedelt bis ich sie streichelte. Außerdem war ich früher des Öfteren von Katzen auf der Straße verfolgt worden, die mir dann immer um die Beine strichen – was das Laufen ungemein erschwerte – bis auch sie ihre kleine Streicheleinheit bekamen.
Beleidigt blies Mom ihre Backen auf und richtete ihre grünen Augen auf mich. Diese Augen, dieselben wie Sarahs. Nur meine Augen, die kamen von meinem Vater, genauso wie meine Haarfarbe, nicht, wie in unserer Familie üblich blond, sondern so braun wie die meines Vaters waren.
„Mom, Mom!“, machte nun Sarah lauthals auf sich aufmerksam. Sie hasste es, ignoriert zu werden.
Mit ausladenden Gesten erzählte Sarah Mom von den Geschehnissen mit Julian, während ich mit Sunny in die Küche ging, um ihr etwas Katzenfutter auf eine Schale zu tun.
Erst jetzt bemerkte ich den Geruch nach etwas Essbarem und schaute auf, um einen riesigen Topf Suppe zu erblicken. Während ich Sunnys Futter bereit stellte, fing ich an mich zu fragen, wieso meine Mutter schon zu Hause war. Für gewöhnlich wäre sie erst Stunden nach mir und Sarah nach Hause gekommen.
Erst nach einiger Zeit fiel es mir wieder ein und ich musste mir lachend mit der flachen Hand vor den Kopf schlagen. Stimmte ja. Die Filiale meiner Mutter würde die nächste Zeit restauriert werden, wodurch sie über einen Monat, nein, sogar etwas mehr als zwei, bezahlten Urlaub erhielt.
In den nächsten Tagen würde ich Sarah nicht vom Kindergarten abholen müssen – dass wollte ja Mom ab morgen machen.
Gleichzeitig kam der Urlaub im perfekten Timing zu unserem Klassen-Ausflug. Ich war gerade auf die Highschool gekommen und zu Beginn des neuen Schuljahres sollte meine Klasse zusammen mit einer Parallelklasse eine Woche lang in die Berge fahren. Das waren in etwa 50 Schüler.
Ich freute mich sehr darauf. Denn auch wenn Lea mitkommen würde, sollten wir in ein recht warmes Gebiet mit vielen Wäldern und tollen Wanderwegen fahren und uns dann selbst unterhalten.
Für mich bedeutete das, denn ganzen Tag im Wald umherzuschlendern und zwar ganz allein.
„Hope, wo ist Sunny?“, sprang Sarah in den Raum.
„Jetzt lasst uns erst einmal essen!“, befahl meine Mutter und ich seufzte lächelnd, um mich zu den Beiden an den Tisch zu setzen.

Gießen