Geschichten einer schwarzen Rose
Fernweh - Kapitel 2
Sera erwachte am nächsten Morgen als Erste – wie üblich. Sie stand auf, zog sich um und verließ leise den Raum. Dann steuerte sie auf die Bäder zu, in denen sie sich um ihre Haare kümmerte und sich erneut duschte.
Danach ging sie in Hauptgebäude. Im Gegensatz zum Wohnhaus der Novizen war dieses Gebäude riesig und aus kaltem Stein. Die Gänge waren verzwickt, aber Sera fand sich mittlerweile zurecht, so dass sie ohne irgendwelche Probleme in die Mensa gelangte, in der schon das Frühstück serviert wurde. Es war ein großer Raum mit einer hohen Decke und vielen Tischen, die allesamt mit weißen Tischtüchern bedeckt waren. Überall fusselten Diener herum, die Tische deckten, Zutaten in die Küche brachten oder auch Speisen auftischten.
„Sera!“, rief eine weibliche Stimme links von Sera.
Sie wandte den Kopf in die Richtung erblickte Rose, eine Dienerin, die ihr wie wild zu winkte und vor einem freien Tisch stand.
„Rose! Guten Morgen“, sagte Sera und ging auf sie zu. Sera hatte nicht viele Freunde unter den Schülern. Für sie war sie nur das Gossen-Kind. Doch mit den Dienern verstand sie sich gut. Für sie war sie eine Heldin, die zeigte, dass auch Leute aus ärmeren Verhältnissen es weit bringen konnten. Sera gefiel das nicht wirklich und sie hatte versucht den Dienern zu erklären, dass das nichts mit Heldentum zu tun hatte, doch sie hatten ihr nicht zugehört.
Rose hatte sich deswegen mit der Zeit zu Seras bester Freundin gemausert. Sie war ein gutherziges Mädchen mit kurzen, dunkelbraunen Haaren, das sogar im simplen Dienstmädchenkostüm gut aussah. Vom Charakter her war sie aber eher schüchtern und traute sich vieles nicht. So hatte sie zum Beispiel Probleme damit, mit anderen Novizen als mit Sera zu sprechen, da sie immer rot anlief und anfing zu stammeln. Wenn jemand Sera gefragt hätte, wer den Titel einer Prinzessin verdiente, hätte sie mit Rose geantwortet. Sie musste dieses einfache, schüchterne und rein Mädchen um jeden Preis von Menschen wie Riven fernhalten.
„Setz dich Sera, heute hab ich was besonderes für dich!“, befahl ihr Rose und drückte sie auf einen Stuhl.
Verwundert blickte Sera sie an – was konnte sie nur meinen?
Rose lief schnell weg und Sera fragte sich, was sie jetzt wohl vorhatte.
Na ja, was konnte Sera jetzt schon großartig machen? Seufzend schenkte sie sich ein glas Wasser ein und betrachtete den reichlich gedeckten Tisch. Silberwaren, -Löffel und -Gabeln, Teller und Schüsseln aus Porzellan und mehrere Blumenvasen mit Pflanzen, die Sera nicht einmal kannte.
Wie verschwenderisch das doch alles war! Wieso musste hier alles so edel sein? Man hätte so viel Geld sparen können, hätte man sich allein schon mit normalen Blumen begnügt, nicht an das Porzellan und Silber zu denken! Man hätte mit diesem Geld so vielen Menschen helfen können – und was tat man damit? Man ermöglichte den Kindern der Reichen ein sinnlos luxuriöses Leben, nur damit sie sich wohl fühlten.
Während Sera so darüber nachdachte, wie viele Menschenleben diese Gabel in ihrer Hand wohl retten hätte können, kam Rose zurück.
„Schau! Das hab ich selbst gemacht, nur für dich!“, rief sie begeistert und hob den Deckel von dem Tablett, das sie gerade trug.
Dort thronte ein unglaublich lecker aussehender Pudding mit Schokosoße oben drauf.
„Danke!“, rief Sera erfreut aus. Sie hatte nicht viele Schwächen, aber eine Sache zählte um jeden Preis zu ihnen – Süßigkeiten.
„Danke, Rose, du bist die Beste!“, sagte Sera erneut, nachdem Rose den Pudding vor ihr abgestellt hatte und sie einen Bissen genommen hatte.
Rose lächelte sie strahlend an: „Ach, keine große Sache! Aber ich muss jetzt wieder weg. Genieß den Pudding!“
Mit diesen Worten ging Rose in dem Meer aus Dienern unter, während Sera mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdruck ihr Essen genoss.
„Hat schon wieder die Diener bestochen!“, hörte sie ein nicht sehr gut verdecktes Tuscheln neben sich.
Am Tisch links von Sera saß eine Gruppe Schüler die sie mit verächtlichen Blicken bedachten und sich über sie lustig machten. Sera war einfach schon immer das in eine reiche Familie adoptierte Gossen-Kind. Und ihre gute Beziehung zu den Dienern machte das Ganze nicht besser. Und seitdem ihre Adoptiv-Mutter schwer krank geworden war, gingen umso mehr Gerüchte um.
„Hat ihre Adoptivmutter krank gemacht, obwohl sie so gütig ihr gegenüber war!“, sagten die Leute.
Sera war von Madam Alore, einer reichen Frau, adoptiert worden, kurz nachdem ihr Mann verstorben war. Sie hatte Sera auf der Straße gefunden, wie sie mit sich selbst darüber gestritten hatte, ob sie einen Apfel stehlen sollte. Sie hatte damals kurz vor dem Hungertod gestanden, und dennoch hatte sie sich im Endeffekt nicht durchringen können, gegen ihre eigenen Moralvorstellungen zu verstoßen. Nachdem Madam Alore das gesehen hatte, beschloss sie, Sera aufzunehmen und sie in die Schule zu stecken.
Sera war ihr unendlich dankbar für alles was sie für sie getan hatte und seitdem sie im Heilerhaus lag, kam Sera sie so oft besuchen, wie sie es nur konnte.
Aber das interessierte die Leute nicht. Sie sahen Sera nur als kleinen, schmutzigen Virus der die angesehene Geschäftsfrau Madam Alore vergiftet hatte.
Hätte Madam Alore davon gehört, hätte sie wahrscheinlich allen, die das behaupteten, eine Ohrfeige verpasst, doch die Gerüchte erreichten sie nicht und Sera ließ das Ganze einfach über sich ergehen.
Seufzend erhob sich Sera. Ihr war der Appetit vergangen. Genervt verließ sie die Mensa und ging durch die großen, steinernen Flure auf ihr Klassenzimmer zu. Der Unterricht würde bald beginnen.
Als Sera das Klassenzimmer betrat hoben sich die Köpfe aller Schüler, die schon anwesend waren, wie von selbst an und senkten sich automatisch wieder, als sie erkannten, wer da gekommen war.
Der Raum war weiß gestrichen und hatte lauter Stühle und Tische in sich verteilt, die auf die Tafel und das Lehrerpult ausgerichtet waren.
Seufzend nahm Sera ihren Platz in der Letzten Reihe ein. Neben ihr saß niemand.
Bis der Unterricht begann würden die meisten Schüler noch auf den Tischen und Stühlen sitzen und sich ausgelassen über alles Mögliche unterhalten, von dem – zumindest nach Seras Meinung – wahrscheinlich nicht einmal die Hälfte wahr war. Die Jungen gaben ununterbrochen ihre Geschichten von irgendwelchen Mädchen zum Besten, die sich erstunken und erlogen anhörten – wie pubertierende kleine Kinder. Die Mädchen dagegen kicherten und kreischten, während sie hinter dem Rücken der anderen übereinander lästerten und vorne so taten, als wären sie beste Freunde. Das Alles war für Sera viel zu hinterhältig um mitzukommen – und die wenigen Mädchen, die begriffen, dass es falsch war, sich so zu verhalten, maulten und meckerten nur deswegen rum, machten aber dennoch mit ohne irgendetwas zu unternehmen. Heuchler.
Plötzliche verstummte der ganze Raum. Sera blickte auf – da war Meister Conites. Er betrat den Raum und alle standen auf der Stelle auf und sagten zusammen: „Guten Morgen, Meister Conites!“
„Setzt euch“, gab er zur Antwort und alle ließen sich auf ihre Hintern plumpsen.
„Heute wird unserem Unterricht ein Schüler der „Akademie“ einer anderen magischen Schule, die sehr gute Verbindungen zu der unseren hat, beiwohnen. Er ist, obwohl er so alt ist wie ihr, schon ein vollständig ausgebildeter Magier, da in seiner Familie große Kräfte, die sich schon früher entwickeln, weitergegeben werden. Er ist zu Besuch an unserer Schule, da er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen hat und nimmt nur am Unterricht teil, da dies sein eigener Wunsch war. Also verhaltet euch ihm gegenüber angemessen!“, befahl Meister Conites.
Oh Gott, bitte nicht, dachte Sera und blickte wie alle anderen Schüler in Richtung Tür.
„Dies ist Lord Riven Nalishian“, stellte Conites Riven, der unterdessen durch die Tür geschritten war, vor.
„Hallo. Ich bin erfreut, euch kennen zu lernen“, sagte Riven und schenkte der Klasse ein Lächeln, das sich stark von dem vom Vortag unterschied. Es war falsch – das merkte Sera sofort.
Sie merkte auch, dass ein begeistertes Raunen durch die Reihen der Mädchen lief – war er wirklich so gut aussehend?
Sie betrachtete ihn noch einmal eingehend – sicher, diese Augen schienen einen magisch Bann auszustrahlen, und sein Haare weckten in ihr den Wunsch, sie zu verwuscheln, aber sie hatte sich nie groß um äußerliche Werte gekümmert, weswegen sie seine Attraktivität auch jetzt kalt ließ.
„Setzt euch, wohin ihr wollt, Lord Nalishian“, sagte Conites unterwürfig und Riven nickte ihm zu.
Dann schritt er bestimmt durch die Reihen aus Tischen und ließ sich neben Sera fallen.
Sie hatte das Gefühl als würden sie hunderte von Blicken durchbohren. Es waren so viele Plätze frei und Riven suchte sich ausgerechnet den neben ihr aus – da konnte sich jeder irgendetwas denken. Verschämt senkte Sera den Kopf und hoffte, dass sich die anderen bald abwenden würden. Das taten sie auch, denn sobald Riven sich gesetzt hatte, begann Conites den Unterricht und alle mussten aufpassen.
Das hätte Sera auch gerne getan, nur verhinderte Riven das sehr geschickt.
„Guten Morgen, Prinzessin“, flüsterte er ihr ins Ohr, nachdem er sich zu ihr herübergebeugt hatte.
Mit der linken Hand packte Sera ihn am Kinn und drückte ihn von sich weg, doch er entging ihrem Griff geschickt und nahm stattdessen ihre Hand in seine.
„Du kommst also von einer anderen Schule?“, fragte Sera ihn. Gegen dieses „Prinzessin“ konnte sie wohl nichts mehr tun.
„Ja, das tue ich. Und ich bin wegen den Zwillingen hier, wenn es Euch interessiert“, sagte Riven und führte Seras Hand, mit der sie ihn bisher weggedrückt hatte, einfach zur Seite um sich ihr wieder zu nähern.
Sera konnte es nicht mehr ertragen – sie lief so rot an wie eine Tomate und versuchte ihren Kopf abzuwenden.
„Warum seht Ihr mich nicht an, Prinzessin?“, fragte Riven.
Sera fiel keine passende Antwort ein.
„Hör auf mit dem „Ihr“! Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann duz mich wenigstens – ich fühle mich unwohl!“, sagte sie stattdessen um das Thema zu wechseln. Vielleicht würde er so auch aufhören, sie Prinzessin zu nennen.
„Wie du wünschst, Prinzessin!“, gab er nur zur Antwort und lächelte – aber dieses Mal war es ein ehrliches Lächeln. Sera widerstand dem verlangen zurück zu lächeln – warum machte es sie so verdammt glücklich, dass er aufrichtig lächelte?
„Seraphina, passt du auf?!“, rief Conites nach hinten, als er bemerkte, dass Sera die Tafel nicht einmal ansah.
„Ah, verzeihen Sie Meister Conites!“, antwortete Sera überrascht. Sie hatte vergessen, dass sie sich im Unterricht befand.
„Oh, was ich beinahe vergessen hätte: Seraphina geh bitte nach dem Unterricht zum Büro des Direktors“, fiel es Conites plötzlich wieder ein und er drehte sich einfach wieder zur Tafel um – er war im Moment wirklich zerstreut.
Sera wurde blass. Sie hatte doch nach dem Unterricht ihre Mutter besuchen wollen. Oder wollte ihr der Direktor vielleicht etwas über ihre Mutter sagen? Es konnte unmöglich um ihr Training gehen – der Direktor hatte sie deswegen noch nie in sein Büro gerufen. Um es genau zu nehmen, war sie überhaupt noch nie auch nur dort gewesen. Was war mit ihrer Mutter? Sie war doch nicht etwa gestorben? Oder ging es um etwas anderes… ihr fiel nichts ein, außer die Möglichkeit, dass ihre Mutter gestorben war und ihr jetzt mitgeteilt werden würde, dass sie aus der Schule fliegen würde, da niemand mehr ihre Ausbildung bezahlen würde und man ihre Kräfte versiegeln müsste.
Leichenblass blickte Sera auf den Tisch. Das musste es sein.
Tränen stiegen ihr in die Augen und sie musste schniefen um sie zurück zu halten.
Plötzlich aber wischte eine andere Hand als ihre ihr die Tränen aus den Augen und ein warmer Arm legte sich um ihren Rücken.
„Weine nicht, Prinzessin. Es ist nicht so, wie du denkst. Es gibt keinen Grund so traurig sein“, flüsterte ihr Riven zu.
Sera blickte auf und sah direkt in seine warmen Augen.
Woher kam dieses plötzliche Verlangen, sich an seine Brust zu werfen und erbarmungslos zu weinen? Ganz egal, Sera widerstand auch dem und wischte sich die anstauenden Tränen selbst aus den Augen.
„Was redest du? Wer weint hier?“, sagte sie so überlegen wie nur möglich und Riven musste kichern.
„Schon gut, Prinzessin“, gab er zur Antwort und wandte sich lächelnd ab.
Auch Sera wandte sich nach vorne. Wieso hatten Rivens Worte es tatsächlich geschafft, dass sie nicht weinte? Wieso vertraute sie ihm? Aber er hatte Recht – es konnte alles Mögliche sein! Es musste nicht einmal um ihre Mutter gehen!
Mit diesem Gedanken ertrug Sera den Rest des stinklangweiligen Unterrichtes und zu ihrer Freude näherte Riven sich ihr nicht mehr unerwünscht.
Als der Unterricht dann endlich vorbei war und Conites alle Schüler entließ stürzte Sera gerade zu auf dem Klassenzimmer und rannte in Richtung des Büros des Direktors.
Es lag am Höchsten Punkt der ganzen Schule und Sera musste Treppe um Treppe nach oben rennen, um sich dem Büro auch nur zu nähern.
Als sie schließlich ganz oben ankam, bog sie nur noch ein paar Mal ab, bis sie vor einer überdimensionalen Tür stand, deren goldene Griffe die Form von Engeln hatten.
Seufzend holte sie noch einmal Luft, um sich innerlich auf das vorzubereiten, was sie jetzt erwartete.
Schließlich klopfte sie an.
„Herein!“, tönte ihr die Stimme des Direktors entgegen und sie öffnete die Tür.
Das Büro war ein sechseckiger Raum, der eine Wand, um es genau zunehmen die am der Tür gegenüberliegenden Ende, besaß, die nur aus Fenstern bestand. Vor eben dieser Wand stand der Schreibtisch des Direktors, der erstaunlich sauber und ordentlich war – statt den Papierstapeln, die ich erwartet hatte, thronten hier nur ordentlich aufgeräumte Stifte, Schreibfedern und Tintenfässer.
Vor diesem Schreibtisch standen mehrere Stühle. Und hinter dem Schreibtisch stand ein einziger, großer Stuhl aus Ebenholz. Auf ihm saß, in seiner schwarzen Robe der Direktor.
Was Sera aber viel mehr verwunderte, waren die Leute, die auf zweien der Stühle vor dem Schreibtisch Platz genommen hatte. Conites und Riven. Wie waren die beiden so schnell hierher gekommen? Wahrscheinlich gab es irgendeine Abkürzung.
Als Riven seinen Kopf zu ihr wandte und sie anlächelte war es ihr regelrecht peinlich, dass sie nicht mit ihnen mitgegangen war und sie lief – schon wieder – rot an.
„Sera! Schön, dass du da bist, ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen!“, rief Sera der Direktor mit seiner tiefen und freundlich Stimme zu, „Setz dich doch!“
„Ja, Direktor Ralion“, gab Sera brav zur Antwort und setzte sich auf den Stuhl neben Riven, da er als einziger frei war.
„Was wollten sie mir denn nun wichtiges erzählen?“, fragte Sera, nachdem sie saß.
„Also, zu erst einmal Sera: Es tut mir leid, dass ich dich davon abhalte, deine Mutter zu besuchen, natürlich kannst du gehen, sobald wir hier fertig sind“, entschuldigte sich der Direktor bei Sera.
Oh Gott sei Dank, war alles, das Sera in dieser Sekunde dachte.
Es ging nicht um ihre Mutter. Sie lebte noch. Aber weswegen war sie dann hier?
„Sera, du bist heute hier, weil du eine wichtige Entscheidung treffen musst. Und das schon bis morgen“, erklärte der Direktor mit ernster Stimme und Sera musste schlucken. Was für eine Entscheidung er wohl meinte?
Riven neben ihr lächelte sie verständnisvoll an, während sie ihren Blick starr auf den Direktor gerichtet hielt.
„Zu erst einmal – du weißt wer Riven hier ist, oder?“, fragte der Direktor und sah Riven an, der plötzlich wieder ernst wirkte.
„Er hält den Titel „Lord Nalishian“ inne und kommt von der „Akademie“, einer anderen magischen Schule. Er ist nur zu Besuch hier und hatte irgendeine wichtige Aufgabe zu erfüllen“, spulte Sera automatisch die Informationen, die sie von Conites erhalten hatte herunter, hängte aber noch etwas daran, „Außerdem sagt er, er sei der Bodyguard von Kanon und Karm, zwei Zwillingen.“
Der Direktor fing lauthals an zu lachen.
„Ja, das passt zu dir, dich so zu beschreiben, Riven!“, brüllte er regelrecht und Riven antwortete mit diesem ekelhaften falschen Lächeln.
„Ich fand es erklärte die Situation recht angemessen.“
Jetzt hörte der Direktor auf zu lachen und sah wieder ernst in die Runde.
„Weißt du, wer Kanon und Karm sind?“, fragte er Sera jetzt.
„Nein“, antwortete sie ehrlich.
„Kanon und Karm sind meine Söhne“, sagte der Direktor todernst.
Seine Söhne?! Sera konnte es nicht glauben – sie hatte immer gedacht, der Direktor wäre kinderlos. Obwohl – eigentlich hatte er sehr väterliche Eigenschaften, so verständnisvoll und fürsorglich wie er war.
„Dann muss sich also Riven um ihre Söhne kümmern… Wieso eigentlich? Er ist doch ein Lord, wieso muss er den Babysitter spielen?“, fragte Sera, zugegebener maßen etwas unhöflich, doch der Direktor fing bei dieser Ausdrucksweise nur wieder an zu lachen.
Hallend schallte sein „Haha!“ von den mit Bücherregalen bedeckten Wänden des Büros wieder.
Auch Rivens Mundwinkel zuckten, und als Sera das sah, lief sie erneut rot an – war das wirklich so lächerlich gewesen?
Zumindest lachte Conites nicht. Er blickte als einziger ziemlich genervt in die Runde, als könnte er dieses ganze Theater nicht mehr ertragen.
Als sich der Direktor schließlich wieder gefangen hatte und sich die Tränen aus den Augen wischen musste, war Sera puderrot und wünschte sich aus tiefstem Herzen, im Boden zu versinken.
„Sera, hast du schon mal vom „Begrüßungslauf“ gehört?“, fragte der Direktor sie schließlich.
„Nein“, antwortete sie.
Langsam hatte Sera genug – warum stellte der Direktor nur Fragen, anstatt ihr endlich zu erklären, was sie hier sollte?
„Weißt du, wie der nächste Direktor bestimmt wird?“, wollte der Direktor feststellen, wie viel Sera wusste.
„Nein.“
„Gut. Dann habe ich dir viel zu erklären“, meinte der Direktor grinsend und Sera seufzte erleichtert.
„Der Direktor wird nach Abstammung bestimmt – das heißt, dass mein direkter ältester Nachfahre der nächste Direktor werden wird. Allerdings sind meine ältesten direkten Nachfahren Zwillinge, also gleich alt. Verstehst du, was ich meine“, versicherte sich der Direktor noch einmal.
„Ja, ich denke schon. Irgendwie muss jetzt entschieden werden, wer der nächste Direktor wird“, antwortete Sera nachdenklich. Bis hierhin wusste sie allerdings noch immer nicht, was sie denn mit der ganzen Sache zu tun hatte.
„Und um zum Begrüßungslauf zu kommen: Als 5-Jähriger muss jeder zukünftige Direktor, ohne den amtierenden Direktor natürlich, auf eine Reise gehen um alle Rassen und Völker dieser Welt zu besuchen, sich vorzustellen und ihre Zustimmung für seine Übernahme des Postens zu erhalten. Die Zwillinge sind vor wenigen Tagen 5 geworden, und der Streit darum, wer jetzt Direktor werden soll, ist endgültig zwischen vielen Königen, Herrschern und reichen Bürgern entbrannt. Um einen Krieg, der sich zweifellos anbahnt, da die Schule Schüler aus jedem Land hat und es folglich jeden etwas angeht, zu vermeiden haben ich und meine Frau beschlossen, beide auf die Reise zu schicken, wobei der Begrüßungslauf zu einer Art Abstimmung werden soll – jede Reisestation hat eine Stimme, die sie entweder für Kanon oder Karm einsetzen müssen. Enthaltungen gibt es nicht. Begreifst du?“, fragte der Direktor Sera so ernst, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
„Ja und – es tut mir leid wenn sie mich jetzt für unverschämt halten – es tut mir leid. Es tut mir so leid für sie“, sagte Sera und versuchte ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, „es muss unendlich schwer sein, seine 5-Jährigen Kinder auf eine Reise zu schicken, auf der man sie nicht begleiten kann. Geschweige denn, das selbst als Kind ertragen zu müssen. Ich wusste nie, dass das Amt des Direktors solchen Horror mit sich bringt.“
Sera kümmerte sich nicht darum, dass sie den angesehensten Posten der Welt gerade beschimpft hatte – sie merkte es nicht einmal. Sie hatte die Wahrheit gesagt. Allein die Vorstellung daran, wie sich der Direktor fühlen musste versetzte ihr einen Stich ins Herz.
Als ihr dann der Gedanke an den armen Kanon und Karm kam, war Sera den Tränen nahe.
Melancholisch lächelte Riven sie an und schien einerseits genauso traurig wie sie und andererseits sehr zufrieden zu sein.
Auch der Direktor bedachte Sera mit einem traurigen Lächeln.
„Wie von dir erwartet“, murmelte er, allerdings hörte ihn Sera nicht.
Stattdessen schluckte sie ihre Tränen herunter und sah den Direktor ernst an. Sie wollte, dass er seine Erklärung beendete, und er verstand.
„Natürlich kann man 5-Jährige nicht allein auf eine solche Reise schicken, denn du weist bestimmt wie gefährlich die Welt da draußen für kleine Magier ist. Und deswegen begleitet sie jedes Mal einige Personen dazu gehört immer ein Abkömmling der Familie Nalishian. Weist du was an ihrer Familie so besonders?“, stellte der Direktor schon wieder eine Frage.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Sera und warf Riven einen Blick zu – dass sie Perverse sind, vielleicht?
„Das kann dir dann wahrscheinlich Riven hier am Besten erklären“, meinte der Direktor und überlies Riven mit einer Handbewegung das Wort.
Riven lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Dann grinste er Sera an: „Nun ja, Prinzessin, meine Familie ist eine Mischungen. Niemand weiß genau in welcher Reihenfolge, ob es Absicht war oder reine Zufälle, aber über Generationen hinweg ist zu meiner Familie aus jeder Art und Rasse mindestens einer hinzu gekommen – zu meinen Vorfahren gehören Zwerge, Riesen, Feen, Elfen, Kobolde, Trolle, Mare, Vampire, Wolfsmenschen und natürlich Menschen. Deswegen gilt unsere Familie als besonders und wird oft dazu gezwungen, an irgendwelchen Zeremonien teilzunehmen, als Zeichen für die Freundschaft zwischen allen Völkern. Der Begrüßungslauf gehört dazu. Und da außerdem sowohl von der „Akademie“ als auch von der „Schule“ ein Abgesandter als Begleitung beim Begrüßungslauf dienen muss, wurde dieses Mal einfach ich als beides benutzt – Abkömmling der Nalishians und Schüler der „Akademie“.“
Er war… kein Mensch? Sera wurde klar, dass sie ihn die ganze Zeit über für einen Menschen gehalten hatte. Er hatte aber auch keinerlei Ähnlichkeit mit irgendetwas anderem.
„Ah, deshalb kann ich deine Präsenz nicht spüren!“, rief Sera plötzlich erfreut aus und schlug mit der rechten Faust in ihre linke geöffnete Hand, „Weil du einer mir fremden Rasse angehörst!“
Endlich verstand Sera etwas!
Alle blickten sie verwundert an – Sera hatte noch nie mit jemanden über ihre Fähigkeit gesprochen, weswegen weder ihr Lehrer noch der Direktor darüber Bescheid wussten. Riven lächelte entspannt – ob er alles verstand? Nein. Da war noch etwas anderes in seinem Blick – Erleichterung?
„Was meinst du, Seraphina?“, fragte Conites verwundert.
Verschämt rieb sich Sera den Hinterkopf und versuchte sich möglichst in ihrem Stuhl zu verstecken, als sowohl der Direktor als auch Conites sie mit wachsamen Blicken musterten.
„Na ja, ich spüre die Präsenzen von den Menschen um mich herum. Es hat schon immer funktioniert, auch bei Feen und Zwergen. Andere Rassen habe ich noch nicht getroffen. Aber bei Riven hat es nicht geklappt, was mich sehr gewundert hat“, erklärte sie möglichst schnell und unkompliziert.
Der Direktor musterte sie mit einem ernsten Blick: „Wieso denkst du, dass es an seiner Rasse liegen könnte?“
„Weil es genauso war, als ich zum ersten Mal Zwerge und Feen traf. Ich konnte sie erst nach längerer Zeit spüren, aber dann konnte ich jeden ihrer Rasse spüren“, berichtete sie, „Ist das so außergewöhnlich?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe es nur noch nie bei einem Schüler erlebt“, meinte der Direktor nachdenklich und rieb sich am Kinn.
„Aber es kann schon vorkommen, oder?“, warf Conites ein und der Direktor nickte.
„Ähm… könnten wir dann wieder zum Thema kommen? Ich verstehe nämlich immer noch nicht, was ich mit der ganzen Geschichte zu tun habe“, wollte Sera schnell wieder zum eigentlichen Gespräch zurückkehren. Sie vertrug diese seltsame Stimmung nicht.
„Um es kurz zu machen – ich will dich bitten, als Abgesandte unserer Schule mit auf den Begrüßungslauf zu gehen“, erklärte der Direktor, jetzt wieder ganz ruhig.
„Mi- Mich?“, stammelte Sera überrascht. Wieso denn sie?
„Einerseits haben sowohl Kanon und Karm als auch Riven um dich gebeten und andererseits bist du eine exzellente Schülerin mit überdurchschnittlicher Begabung“, erklärte der Direktor.
„Wie lange dauert dieser Begrüßungslauf in etwa?“, fragte Sera todernst.
„Jahre. In meinem Fall waren es 5, aber man kann es zuvor nie wissen“, erklärte der Direktor genauso ernst, „schließlich muss man in jedem Ort für mehrere Monate bleiben, damit das Volk einen Eindruck des Anwärters bekommen kann und die Reisedauer ist auch nicht zu unterschätzen. Außerdem gibt es viele Reiseziele, die besucht werden müssen.“
Sera wurde blass – was sollte sie tun?
„Wer wird die Zwillinge noch begleiten?“, fragte sie.
„Nur ein paar Diener, die allerdings dieses Mal allesamt von der „Akademie“ zur Verfügung gestellt werden. Du kennst sie also nicht. Und der Hauptmann der königlichen Garde von Kisapei, zusammen mit einigen seiner Männer“, antwortete der Direktor.
Nachdem er diesen Satz beendet hatte, wurde Sera klar, dass sie die Wahl hatte – entweder sie ließ ihre Mutter für mehrere Jahre im Stich, oder aber sie ließ die Zwillinge alleine mit Riven, einem Soldaten und einem ihrer Mitschüler.
Als der Direktor sah, wie jede Farbe aus Seras Gesicht wich, hob er beschwichtigend die Hände.
„Du hast noch Zeit deine Entscheidung zu treffen – bis morgen. Komm bei Unterrichtsbeginn wieder hierher und teile mir deine Entscheidung mit. Wenn du dich dafür entscheidest mitzugehen war heute dein letzter Schultag hier. Bleibst du hier, fällt der unterricht für dich morgen dennoch aus“, erklärte er Sera und sah ihr in die Augen, „Ich kann verstehen, wenn du nicht willst.“
„Kann ich gehen?“, fragte Sera. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie hatte keinerlei Ahnung, was sie jetzt tun sollte.
„Ja. Geh ruhig“, antwortete der Direktor und wandte sich dann an Riven und Conites: „Ihr könnt auch gehen.“
Bis auf den Direktor, der begann in einer Schreibtischschublade nach etwas zu suchen, erhoben sich alle und verließen den Raum.
Sera wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Die Welt schien Kopf zu stehen.
„Prinzessin?“, fragte Riven neben ihr plötzlich. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Conites schon gegangen war und sie sich unbewusst gegen die Wand des Flures gelehnt hatte.
„Ich… weiß nicht was ich tun soll“, murmelte sie ihm verzweifelt zu. Wen kümmerte es, ob er ein Verrückter war? Bis jetzt hatte er ihr eigentlich nichts getan, außer sie in peinliche Situationen zu bringen.
„Du musst nicht, wenn du nicht willst“, sagte er und lehnte sich zu ihr hinüber, „aber du würdest mich sehr glücklich machen, wenn du mitkommen würdest.“
Wieder lief Sera rot an – in Rivens Gegenwart schien sie fast nichts anderes zu tun.
„Das hilft mir nicht!“, schrie die ihn auf einmal an, verpasste ihm einen gut gezielten Tritt in die Magengegend, durch den er an die gegenüberliegende Wand des Flures geschleudert wurde und rannte. Sie rannte so schnell wie sie noch nie gerannt war – und Sera war oft gerannt. Immer schneller zwang sie ihre Beine nach vorne. Sie wollte hier nur raus.
Sie stürmte aus dem Hauptgebäude und rannte ohne zu zögern über die Wege an mehreren Schülern und Magiern vorbei, die ihr verwunderte und missbilligende Blicke hinterher warfen, was Sera aber kalt ließ. Sie galoppierte gerade zu durch das Tor hinaus auf die Straße, stürzte durch die Straßen dieser so elend reichen Stadt, bis sie schließlich keuchend und erschöpft vor einem großen, weißen Gebäude um dass sich eine Mauer schlang und Platz für ein Stückchen Rasen im Vor und Hinterhof bot, stehen blieb. Das Heilerhaus.
Mit langsamen Schritt betrat sie das Haus und kam in eine mit Fließen ausgelegte Vorhalle, in der eine Empfangsdame hinter einem kleinen Tisch saß und ziemlich gelangweilt aussah.
Doch Sera sprach die – wie sie wusste – unhöfliche Frau gar nicht erst an. Sie ging an ihr vorbei den Flur entlang, zwei Mal die Treppen hoch und schließlich bog sie um ein paar Ecken bis sie davor stand. Vor dem Zimmer ihrer Mutter. Die Flure waren allesamt weiß gestrichen und die Tür, vor der Sera stand, war es auch.
Immer noch verwirrt, aber entschlossen ihre Mutter zu besuchen, klopfte sie endlich an.
„Herein!“, ertönte die, sogar in diesem geschwächten Zustand, noch immer herrische Stimme ihrer Mutter.
„Mutter“, sagte Sera während sie die Tür öffnete. Dort lag ihre Mutter. Sie war so schmal und mager wie immer und ihre dunkelbraunen Haare stachen auf dem schneeweißen Bettlaken stark hervor und ließen auch ihre Haut blasser wirken, als sie es in Wirklichkeit war. Bielleicht war sie auch wirklich so blass. Seitdem sie krank geworden war hatte sich soviel verändert.
Sera schloss die Tür hinter sich und blickte in die strengen Augen ihrer Mutter, fühlte ihre schwache aber immer noch ausstrahlende Präsenz.
„Was is…“, setzte Seras Mutter zu einer Frage an als Sera in Tränen ausbrach.
Schreiend und weinen warf sie sich auf das Bett ihrer Mutter und ging davor in die Knie, so dass nur noch ihre Kopf, den sie auf ihre verschränkten Arme gelegt hatte auf dem Bett lag.
„Was ist?“, beendete Seras Mutter ihren Satz und tätschelte Sera liebevoll den Kopf, „Komm schon, sag es mir.“
Und so fing Sera, in Tränen aufgelöst und unter hunderten von Schluchzern an von bemitleidenswerten Zwillingen, dem Begrüßungslauf, einem perversen Riven, einer Prinzessin, einer jahrelangen Reise und allen möglichen Rassen zu erzählen.
Es war erstaunlich, dass ihr Mutter überhaupt in der Lage war ein einziges Wort von Seras Geschluchze zu verstehen, aber sie begriff sogar was Sera eigentlich versuchte zu sagen.
Als sie endlich verstand blickte sie Sera mit geweiteten Augen an, nahm ihre linke Hand in die Höhe und schlug Sera mit der Faust direkt auf den Kopf. Sera schrie auf und hielt sich den Kopf, aber sie blickte auch auf und ihre Tränen stoppten für kurze Zeit.
„Was für ein dummes Kind du doch bist!“, beschwerte sich ihre Mutter lauthals bei Sera, „Das ist kein Grund zu weinen, das ist ein Grund einen Freudentanz aufzuführen!“
„Aber…aber, dann muss ich dich zurücklassen!“, schniefte Sera und wischte sich das Gesicht.
„Na und?! Meine Zeit ist sowieso vorbei! Begreifst du nicht?! Ich habe höchstens noch ein paar Wochen zu leben! Du wirst mich so oder so bald nicht mehr sehen können!“, schrie ihre Mutter.
Sera hätte gern eine Antwort gegeben, aber ihre Mutter kam ihr zuvor.
„Mein Leben ist vorbei! Ich habe es gelebt! Ich habe fremde Länder bereist, war die kälteste Geschäftsfrau der Welt, habe geliebt, geheiratet, getrauert, verloren, gelitten, gefreut, gestritten, entschieden, bereut, verwünscht! Aber du – du hast dein Leben nie gelebt! Immer tust du nur, was andere wollen! Tu das, was DU willst! Sei du selbst! Mache Reisen, lerne fremde Wesen kennen, entdecke die Welt! Finde heraus, was Liebe ist, von mir aus auch mit diesem Riven! Geh da raus und fang endlich an! Auch du hast nicht ewig Zeit! Eines Tages wirst du sterben, und ich möchte nicht, dass du an diesem Tag auch nur eine einzige deiner Entscheidungen bereust! Meine Zeit ist vorbei – schau du nach vorne und nicht zurück! Werde glücklich!“, schrie sie sie an und Sera stiegen wieder die Tränen in die Augen.
„Wein jetzt nicht! Du hast in deinem Leben mehr als genug Tränen verschüttet! Glaube mir, ich werde sterben, und daran gibt es keinen Zweifel! Mach dir keine falschen Hoffnungen, die dich nur noch mehr zum weinen bringen werden! Und wenn ich erst einmal tot und im Himmel bin, dann werde ich deiner verantwortungslosen Mutter sagen, was für ein großartiges Mädchen ihre Tochter doch ist!“, machte Seras Mutter immer weiter.
„Mutter…“, flüsterte Sera. Dann stand sie auf und umarmte ihre noch im Bett liegende Mutter. Bis dahin hatte die Frau nur geschrien und Sera Anweisungen erteilt, doch kaum legten sich Seras Arme um sie, brach auch sie in Tränen aus. Und so weinten sie gemeinsam, während sie sich in den Armen lagen.
Als Sera schließlich all ihre Tränen geweint hatte und keine neuen mehr nachkommen wollten, fasste sie einen Entschluss.
„Mutter, ich werde auf diese Reise gehen“, sagte sie bestimmt und mit einem Lächeln auf dem Gesicht, während sie begann den Raum rückwärts zu verlassen, „und ich werde leben. Ich verspreche es dir.“
„Das ist die richtige Einstellung!“, unterstützte ihre Mutter sie, „Zeig es ihnen allen!“
Mit diesen Worten riss sie ihre Faust in die Luft um Sera anzufeuern.
Sera antworte mit der gleichen Geste: „Das werde ich. Auf Wiedersehen Mutter!“
Mit diesen Worten war sie an der Zimmertür angekommen und öffnete sie.
„Leb wohl, meine Tochter!“, rief ihre Mutter ihr, etwas melodramatisch hinterher.
Sera schloss die Tür hinter ich und brach auf der Stelle zusammen. Auch wenn sie es ihrer Mutter nicht sagen konnte, bis vor wenigen Minuten, hatte sie an eine Heilung geglaubt.
Stumme Tränen flossen ihr Gesicht herab. Ihre Mutter hätte sie auch durch Wände schluchzen hören. Sie würde sterben. Einfach sterben.
Auf einmal fühlte sich Sera so allein und verlassen. Sie wollte jemanden, an dem sie sich jetzt festhalten konnte. Jemand, der für sie da war.
„Prinzessin“, sagte Riven, als er plötzlich vor ihr stand. Wie kam er nur hierher? War er Sera gefolgt? Und wieso schaffte er es immer, so plötzlich aufzutauchen? Er beugte sich und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen.
„Riven…“, murmelte Sera, während sie noch am Boden saß.
„Wenn du mich schon Prinzessin nennen musst, dann übernimm jetzt Verantwortung“, schluchzte sie unsinniges Zeug, während sie ihm auf einmal in die Arme sprang.
Überrascht, aber nicht wütend erwiderte er ihre Umarmung und legte seine Arme um sie. Er stand einfach nur da, umarmte sie und nahm alles stumm hin.
Weinend vergrub sie ihren Kopf in seiner weichen Robe. Er war größer als sie, dass wurde ihr erst jetzt wirklich bewusst. Und er war schlank und dennoch stark. Er war so haltgebend. So sicher. Und seine Umarmung war so weich und trotzdem fest. So warm und so geborgen.
Sie klammerte sich an ihn so fest sie nur konnte und er strich ihr sanft über das lange Haar, während er sie an sich gedrückt hielt.
„Prinzessin… Es ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung“, murmelte er ihr an die Stirn.
Und so blieben sie noch eine Weile stehen, bis Sera aufhörte zu weinen und selbst dann lösten sie sich nicht aus ihrer Umarmung.
Aber irgendwann hob sie dann schließlich ihren Kopf und sah ihm in die Augen, wie er da so fürsorglich auf sie herabsah und ihr über die Haare strich.
„Geht es wieder?“, fragte er sie mit einem sanften Ausdruck in seinen Augen.
Sera nickte zur Antwort, ließ ihn endlich los und ihr wurde klar, was sie soeben getan hatte. Sie hatte sich an Riven festgeklammert und ihn vollgeheult.
„Danke“, sagte sie zu ihm und sah ihm in die Augen, „danke, dass du mich getröstet hast. Und es tut mir leid, wenn ich dich genervt habe“.
„Für dich tue ich doch alles, Prinzessin“, antwortete Riven und lächelte sie ehrlich an, „außerdem war es, als würde ein Traum wahr werden, als du mich umarmt hast.“
Sera lief hochrot an – nicht schon wieder!
„Du hast mich in einem schwachen Moment erwischt – bilde dir bloß nichts drauf ein!“, wandte sie ihren Kopf ab als die beiden nebeneinander durch den Flur in Richtung Ausgang gingen.
Riven musste lächeln: „Natürlich nicht, Prinzessin.“
Sera hätte jetzt gerne geschmollt und ihn mit Schweigen bestraft, aber ihre Neugier übermannte sie: „Was tust du überhaupt hier? Woher wusstest du wo ich bin?“
„Du hast beinahe geweint als du weggerannt bist – wie hätte ich dich in diesem Zustand allein lassen können?“
Sera lief noch roter an – er war ihr den ganzen Weg bis ins Heilerhaus gefolgt? Sie hatte ihn geschlagen und war weggerannt und er kümmerte sich darum, wie sie sich fühlte?
„Wie sportlich bist du eigentlich, dass du mir so einfach hinterrennen kannst?“, murmelte sie mit hochrotem Kopf und abgewandten Gesicht, weil sie ihren Schlag nicht ansprechen wollte.
„Es geht“, gab Riven grinsend zur Antwort.
Und so verließen sie dann schließlich das Heilerhaus und gingen zur „Schule“ zurück – Riven lachend und Sera mit rotem Kopf.

Gießen



easylee, Samstag, 5. November 2011, 08:50
Hui, toll! Gefällt mir sehr, diese Geschichte!